Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Verwaltungsverfahren. Kürzung einer Pflegezulage. bestandskräftiger Bewilligungsbescheid. Erforderlichkeit einer Rücknahme- oder Aufhebungserklärung. Auslegung. Bestimmtheit. Umdeutung. Erforderlichkeit eines weiteren Verwaltungsakts. Ermächtigung zur Rücknahme. wesentliche Änderung der rechtlichen Verhältnisse. Rundschreiben
Leitsatz (amtlich)
Die Kürzung einer Pflegezulage um die Hälfte bedarf in verfahrensrechtlicher Hinsicht einer Rücknahme- oder Aufhebungsentscheidung iS der §§ 45 oder 48 SGB 10. Maßgebend ist die im Verfügungssatz getroffene Regelung und der aus dem Inhalt ersichtliche Erklärungswille, wie er für den Adressaten des Verwaltungsaktes erkennbar geworden ist.
Orientierungssatz
1. Von § 43 Abs 1 SGB 10 wird nicht die Konstellation erfasst, dass ein ergangener Bescheid aufrechterhalten bleiben und ihm nur ein legitimierender weiterer Verwaltungsakt hinzugefügt werden soll (vgl BSG vom 14.9.2010 - B 7 AL 21/09 R = SozR 4-4300 § 173 Nr 1).
2. § 35 Abs 2 BVG gewährt dem Beschädigten einen Anspruch auf höhere Pflegezulage und ist keine Ermächtigung für deren Teilrücknahme.
3. Eine geänderte Rechtsauffassung in einem Rundschreiben der obersten Dienstbehörde stellt keine rechtliche Änderung iS des § 48 Abs 1 S 1 SGB 10 dar (vgl BSG vom 27.11.1991 - 9a RV 13/90 = SuP 1992, 635 und LSG Darmstadt vom 9.2.2005 - L 8/5 V 140/03).
Tenor
Auf die Berufung der Kläger wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 24. April 2008 und der Bescheid des Beklagten vom 11. Juli 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. August 2007 aufgehoben und der Beklagte verurteilt, den Bescheid vom 3. August 1999 zurückzunehmen und den Klägern ungekürzte Pflegezulage ab 1. Januar 2002 zu gewähren.
Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Kläger in beiden Rechtszügen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die vom Beklagten vorgenommene Kürzung der Pflegezulage zu Recht erfolgt ist.
Die Kläger sind die Eltern der 1967 geborenen B. Dr. (B.), die infolge einer 1968 erhaltenen Pockenschutzimpfung einen dauerhaften Gesundheitsschaden in Form einer geistigen Behinderung erlitt und 2008 verstarb.
Sie befand sich vom 04.09.1989 bis zum 03.12.1989 in einem Eingangsverfahren zur Aufnahme in den Förder- und Betreuungsbereich der W. Werkstätten der Diakonie St.. Dipl.-Sozialarbeiterin Sch.-St. führte in ihrem über dieses Verfahren erstellten Bericht vom 16.11.1989 unter anderem aus, im lebenspraktischen Bereich sei B. auf die Hilfe der Werkstatterzieher angewiesen. Beim Laufen müsse sie geführt werden, da sie beim Treppensteigen und bei Unebenheiten sehr schnell hinfalle. Das Mittagessen werde von den Erziehern rationiert, da sie sonst maßlos viel essen würde. Auch müsse man ihr die Medikamente geben. B. sei nicht verkehrssicher und daher auf den Fahrdienst der Werkstatt angewiesen. Das Arbeitsverhalten von B. sei stark stimmungsabhängig. Sie habe nur ein geringes Arbeitsverständnis. In der passiven Phase sei sie zu keiner Arbeitsleistung bereit. In der aktiven Phase sei sie motiviert und kurzzeitig bereit, auf Zureden und bei genauer Anleitung durch die Werkstatterzieher einfache Arbeiten durchzuführen. Fehle ihr die Aufmerksamkeit des Erziehers, arbeite sie fast immer nur kurzzeitig fehlerhaft weiter. Aufgrund feinmotorischer Störungen könne B. nur einfachste Arbeiten mit bestimmten Hilfsmitteln ausführen. Weder Arbeitsdauer noch Konzentrationsfähigkeit hätten während des Eingangsverfahrens gefördert werden können. Es sei davon auszugehen, dass B. das Ziel der Arbeitstrainingsmaßnahme nicht erreichen werde, so dass sie in die Förder- und Betreuungsgruppe aufzunehmen sei. B. wurde sodann ab 04.12.1989 in die Förder- und Betreuungsgruppe der W. Werkstätten der Diakonie St. aufgenommen. Dipl.-Sozialarbeiterin Sch.-St. führte in ihrem Bericht vom 29.11.1990 aus, B. sei nach wie vor im lebenspraktischen Bereich auf die Hilfe der Erzieher angewiesen. Ihr Arbeitsverhalten sei weiterhin stimmungsabhängig. In der passiven Phase, in der sie total in sich gekehrt und nicht ansprechbar sei und die in letzter Zeit immer häufiger auftrete, sei sie zum Arbeiten nicht zu motivieren. Sie bleibe in diesen Phasen häufig zu Hause und liege im Bett. In der Werkstatt ziehe sie sich in den Ruheraum zurück. Sie könne nur in der aktiven Phase von den Erziehern zum Mitarbeiten motiviert werden. Hierfür sei jedoch die intensive Zuwendung eines Erziehers sowie ständiges Zureden und genaue Anleitung erforderlich. Dipl.-Sozialpädagogin E. führte in ihrem Bericht vom 05.11.1992 aus, in Bezug auf das Arbeits- und Sozialverhalten von B. hätten sich keine wesentlichen Veränderungen ergeben.
Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung hat zur Frage der Übernahme der Werkstattkosten gemäß § 27d Abs. 1 Nr. 6 Bundesversorgungsgesetz (BVG) bei nicht nur vorübergehender Heimpflege gemäß § 35 Abs. 6 Satz 1 BVG das Rundschreiben vom 07.11.1995 - VI 1-53064/VI 2-52764 erlassen. Da...