Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufhebung der Arbeitslosenbewilligung. wesentliche Änderung der Verhältnisse. Zweifel an der objektiven Verfügbarkeit des Arbeitslosen. ärztliche Begutachtung. Nichtvorliegen der Verfügbarkeit bereits zum Zeitpunkt der Bewilligung. keine Umdeutung in Rücknahme. keine Zulassung der Revision
Leitsatz (amtlich)
1. Ob eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnisse (hier: objektive Verfügbarkeit) iS des § 48 Abs 1 S 1 SGB 10 eingetreten ist, beurteilt sich allein nach objektiven Kriterien und nicht nach den subjektiven Vorstellungen, die für die aufhebende Behörde bei Erlass des ursprünglichen Verwaltungsakts maßgebend gewesen sind.
2. Allein der Umstand, dass sich der beklagte Versicherungsträger, der ständigen Rechtsprechung des BSG bewusst nicht folgend, an eine eigene, in offensichtlichem Widerspruch zu geltendem Recht stehende Dienstanweisung gebunden fühlt, verleiht einer Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung.
Orientierungssatz
Die fehlerhafte Aufhebung der Arbeitslosengeldbewilligung für die Zukunft gem § 48 SGB 10 kann auch nicht in eine Rücknahme nach § 45 SGB 10 umgedeutet werden. Eine Entscheidung, die nur als gebundene Entscheidung ergehen kann, kann gem § 43 Abs 3 SGB 10 nicht in eine Ermessenentscheidung umgedeutet werden.
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 29. März 2007 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch für das Berufungsverfahren zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) wegen Wegfalls bzw. Nichtvorliegen der Arbeitslosigkeit.
Der am … 1950 geborene Kläger stand in der Zeit vom 13. Juni 1994 bis 23. Oktober 2004 in einem Arbeitsverhältnis bei der … mbH; zuletzt bezog er bis zur Aussteuerung am 23. Oktober 2004 Krankengeld. Am 8. Oktober 2004 meldete sich der Kläger bei der Agentur für Arbeit Balingen (AA) mit Wirkung zum 23. Oktober 2004 arbeitslos und beantragte die Bewilligung von Alg. Im Antragsformular gab er an, er sei arbeitsunfähig krank und ausgesteuert. Seine Vermittlungsfähigkeit sei nach Tätigkeit oder Arbeitsstunden wegen einer Arthrose eingeschränkt. Nachdem der Kläger mit Schreiben vom 8. Oktober 2004 für den 10. November 2004 zu einer Informationsveranstaltung „Leistungsrecht“ eingeladen worden war, legte er am 29. Oktober 2004 Bescheinigungen über eine bis 16. Dezember 2004 fortbestehende Arbeitsunfähigkeit und über eine ab 1. November 2004 vorgesehene stationäre Krankenhausbehandlung vor. Mit Bescheid vom 3. Dezember 2004 bewilligte die AA dem Kläger Alg (Arbeitsentgelt 599,07; Leistungsgruppe A; Kindermerkmal 0) ab 24. Oktober 2004 für die Dauer von 780 Kalendertagen. Am 7. Dezember 2004 erstattete der ärztliche Dienst der AA unter Auswertung vom Rentenversicherungsträger beigezogener ärztlicher Unterlagen ein Gutachten nach Aktenlage und beurteilte das Leistungsvermögen des Klägers mit weniger als drei Stunden täglich für die Dauer von voraussichtlich bis zu sechs Monaten. Der Kläger sei am 8. November 2004 nochmals operiert worden, woraus eine Leistungsunfähigkeit für drei bis vier Monate folge. Insgesamt sei deshalb von einer unter sechs Monate andauernden Leistungsunfähigkeit auszugehen. Nachdem der Kläger am 16. Dezember 2004 eine weitere Folgebescheinigung über Arbeitsunfähigkeit bis 18. Februar 2005 vorgelegt hatte, wurde ihm am 25. Januar 2005 der Inhalt des Gutachtens vom 7. Dezember 2004 eröffnet. Mit Bescheid vom 27. Januar 2005 hob die AA die Entscheidung über die Bewilligung von Alg mit Wirkung ab 1. Februar 2005 auf. Zur Begründung führte sie aus, der Kläger sei bis zu sechs Monate nicht leistungs- und arbeitsfähig und somit nicht arbeitslos. Die Entscheidung beruhe auf § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) in Verbindung mit §§ 330 Abs. 3, 119 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 3 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III).
Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger am 23. Februar 2005 Widerspruch. Er trug vor, er sei für mehr als sechs Monate leistungsunfähig und habe deshalb Anspruch auf Alg nach Maßgabe des § 125 SGB III; ein Antrag auf Erwerbsminderungsrente sei bereits gestellt. Mit Widerspruchsbescheid vom 3. Mai 2005 wies die Widerspruchsstelle der AA den Widerspruch zurück. Wegen fehlender Arbeitsfähigkeit stehe der Kläger der Arbeitsvermittlung seit 25. Januar 2005 nicht mehr zur Verfügung und habe deshalb keinen Anspruch mehr auf Leistungen. Ein Anspruch nach § 125 SGB III sei nicht gegeben.
Der Kläger hat am 2. Juni 2005 Klage beim Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben und seinen bisherigen Vortrag aufrechterhalten. Die gegebene Leistungsminderung habe bereits vor der Operation am 8. November 2004 bestanden und bestehe weiterhin fort. Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Nach der Begutachtung durch den Ärztlichen Dienst der Agentur für Arbeit habe sich die vorherige, der Bewilligungsentscheidung (Bescheid vom 3. Dezember 2004) zugrun...