Rz. 12
Nach Auffassung des Gesetzgebers ist es mit dem Prinzip des SGB IX sowie mit einem effektiven und effizienten Rehabilitationssystem nicht vereinbar, mit möglichen Hilfen und Interventionen erst zu beginnen, wenn eine Behinderung eingetreten ist. Der Gesetzgeber zieht deshalb den Personenkreis der von Behinderung bedrohten Menschen bewusst in den Leistungs-/Zuständigkeitsbereich des SGB IX mit ein, um die Gelegenheit zu nutzen, präventiv tätig zu werden. Nicht umsonst haben die Rehabilitationsträger nach § 3 die Verpflichtung, darauf hinzuwirken, dass der Eintritt einer Behinderung einschließlich einer chronischen Krankheit vermieden oder zumindest hinausgezögert wird.
Zur besseren frühzeitigen Erkennung des sich auftuenden Teilhabebedarfs haben die Rehabilitationsträger durch entsprechende interne Verfahrensabläufe für ihren jeweiligen Bereich sicher zu stellen, dass bei der Betreuung und Begleitung der Menschen mit Behinderung oder drohender Behinderung frühzeitig und gezielt auf Indizien für einen Teilhabebedarf geachtet und ggf. auf eine Antragstellung hingewirkt wird. Dies kann z. B. durch ein Fallmanagement insbesondere in Arbeitsunfähigkeits- und Krankenhausfällen oder durch eine gezielte Auswertung von Entlassungsberichten erfolgen.
Rz. 13
"Von Behinderung bedroht" i. S. d. Teils 1 des SGB IX (§§ 1 bis 89) ist ein Mensch insbesondere dann, sobald aufgrund der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse die konkrete Wahrscheinlichkeit besteht, dass sich bei entsprechender Verschlimmerung der Krankheit in naher oder ferner Zukunft – ohne SGB IX-Leistungen – eine Behinderung (Rz. 4 ff.) einstellt, die länger als 6 Monate (Rz. 11 ff.) anhält (ähnlich auch Begriffsdefinition in § 53 Abs. 2 SGB XII).
Bei der Beurteilung, ob bei dem betreffenden Menschen eine Behinderung droht, kommt es immer auf die konkrete, individuelle gesundheitliche Betrachtung seiner Person an. Dabei ist der Fortschritt bei der medizinischen Entwicklung bei der Prüfung entsprechend zu würdigen.
Eine allgemeine abstrakte Gefahrenlage oder eine theoretisch bestehende Möglichkeit genügen nicht. Es muss also eine Behinderung eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich sein (Wahrscheinlichkeit mehr als 50 %); eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit wird nicht gefordert. Die Beurteilung, ob eine Behinderung droht, ist ausschließlich anhand fachlicher Kenntnisse vorzunehmen (BT-Drs. 14/5074 S. 98).
"Von Behinderung bedroht" sind insbesondere chronisch kranke Menschen. Die Fortschreitung der Krankheit kann nämlich später zu Beeinträchtigungen der Aktivitäten und zu Barrieren bei der Teilhabe am beruflichen und gesellschaftlichen Leben (einschließlich der Selbstversorgung) führen. Eine seelische Behinderung erfordert demnach eine seelische Störung, die zu einer Teilhabebeeinträchtigung führt (vgl. auch VG Augsburg, Urteile v. 10.5.2011, Au 3 K 10.20; v. 6.3.2012, Au 3 K 11.347, und v. 3.4.2012, Au 3 K 11.1669).
Rz. 13a
Ob eine Behinderung wahrscheinlich in nächster Zeit oder erst in mehreren Jahren eintreten wird, spielt für die Beurteilung einer drohenden Behinderung keine Rolle. Ist dem Rehabilitationsträger unklar, ob im Einzelfall eine Behinderung droht, hat er auf seine Kosten zur Klärung ggf. einen Sachverständigen mit einem Gutachten zu beauftragen.