Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Leistungsbeschränkung bei Selbstverschulden. Eigenbeteiligung des Versicherten an den Kosten. Magenverkleinerungsoperation ist keine ästhetische Operation. Zulässigkeit der analogen Anwendung von Rechtsnormen auf nach dem Wortlaut nicht erfasste Sachverhalte. Verfassungsmäßigkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Eine ästhetische Operation im Sinne des § 52 Abs 2 SGB V liegt dann vor, wenn der operative Eingriff aus Sicht der medizinischen Wissenschaft wesentlich auf eine (subjektive bzw gewünschte) Verbesserung des körperlichen Erscheinungsbildes des Patienten abzielt. Eine ästhetische Operation liegt hingegen nicht bereits dann vor, wenn der Patient sich von der Behandlung neben der Heilung der Krankheit auch positive Auswirkungen auf sein Erscheinungsbild erhofft.
2. Bei adipositaschirurgischen Eingriffen wie der Implantation eines Magenbandes handelt es sich unabhängig vom Vorliegen einer medizinischen Indikation im Einzelfall um eine Heilbehandlung und nicht um eine ästhetische Operation im Sinne des § 52 Abs 2 SGB V, weil sie durchgeführt werden, um den krankhaften Zustand einer Adipositas bzw deren Begleit- und Folgeerkrankungen zu heilen oder zumindest zu lindern.
3. Eine analoge Anwendung von Rechtsnormen auf nach dem Wortlaut nicht erfasste Sachverhalte ist vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Gesetzesbindungsgebots aus Art 20 Abs 3 und Art 97 Abs 1 Grundgesetz (GG) nur zulässig, wenn eine ausfüllungsbedürftige Regelungslücke besteht. Von einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke darf nur dann ausgegangen werden, wenn der zu entscheidende Fall andernfalls nicht zu lösen wäre.
4. Eine Analogiebildung ist nicht bereits dann zulässig, wenn die (vermeintliche) Regelungsabsicht des Gesetzgebers wegen der Gleichheit der zugrundeliegenden Interessenlage auch den nichtgeregelten Fall hätte einbeziehen müssen (entgegen BSG vom 24.10.1984 - 6 RKa 36/83 = BSGE 57, 195 = SozR 1500 § 149 Nr 7 = juris RdNr 6; BSG vom 6.10.2011 - B 14 AS 171/10 R = BSGE 109, 176 = SozR 4-4200 § 20 Nr 16 = juris RdNr 22), wenn der (vermeintliche) Zweck der Vorschrift auch nicht geregelte Fälle erfasst (entgegen BSG vom 12.12.1996 - 11 RAr 31/96 = SozR 3-1300 § 44 Nr 19 = juris RdNr 16; BSG vom 13.2.2014 - B 4 AS 19/13 R = BSGE 115, 121 = SozR 4-1300 § 44 Nr 29 = juris RdNr 14), aus Gründen der vom Gesetzgeber gewollten Verwaltungspraktikabilität und Verwaltungsökonomie (entgegen BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 8/06 R = BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1 = juris RdNr 29 "über den Wortlaut hinaus") oder wenn der Gesetzgeber bestimmte Möglichkeiten von Geschehensabläufen (mutmaßlich) nicht erkannt hat (entgegen BSG vom 16.4.2002 - B 9 VG 1/01 R = BSGE 89, 199 = SozR 3-3800 § 1 Nr 21 = juris RdNr 24). Das Bestehen einer Regelungslücke darf auch nicht allein aus der Gleichartigkeit der Sachverhalte und der Vergleichbarkeit der Interessenlage gefolgert werden (entgegen BSG vom 26.6.2013 - B 7 AY 6/12 R = BSGE 114, 20 = SozR 4-3520 § 9 Nr 4 = juris RdNr 18).
5. Die Verfassungswidrigkeit eines gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz aus Art 3 Abs 1 GG verstoßenden Gesetzes kann nicht durch analoge Anwendung auf vergleichbare Sachverhalte beseitigt bzw vermieden werden kann.
Tenor
1. Der Bescheid vom 01.08.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.11.2014 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen eine Erstattungsforderung der Beklagten.
Die 1960 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Sie leidet seit ihrer Kindheit an Übergewicht, zuletzt an einer ausgeprägten Adipositas mit Begleiterkrankungen wie Hypertonie, Schlafapnoe, Gicht, Reflux, Wirbelsäulenbeschwerden, Depressionen, Hautaffektionen und Infertilität. Am 03.04.2008 hatte sie bei der Beklagten die Durchführung einer laparoskopischen Magenband-Operation beantragt. Nach Einholung eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) hatte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 16.05.2008 abgelehnt und nach Einholung eines weiteren Gutachtens den hiergegen erhobenen Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 28.04.2009 zurückgewiesen.
Die Klägerin ließ die Operation im Mai 2009 im Krankenhaus S. durchführen. Hierfür wurden der Klägerin 7.563,76 Euro in Rechnung gestellt. Die gegen den Widerspruchsbescheid vom 28.04.2009 erhobene und zuletzt auf Kostenerstattung gerichtete Klage hatte das Sozialgericht Mainz mit Urteil vom 11.11.2011 (Az. S 7 KR 298/09) abgewiesen. Zur Begründung hatte das Gericht auf den fehlenden Nachweis der medizinischen Notwendigkeit einer Magenband-Operation abgestellt. Die konservativen Behandlungsmöglichkeiten seien noch nicht ausgeschöpft gewesen.
In der Folgezeit kam es zu drei weiteren stationären Aufenthalten der Klägerin im Krankenhaus S. Während einer stationären Behandlung vom 11.09.2010 bis zum 14.09.2010 kam es zu einer Entfernung des Magenbandes....