ArbG Essen, Urteil vom 16.4.2024, 3 Ca 2231/23

Der Ausschluss von Arbeitnehmern in Elternzeit von der Zahlung eines tariflichen Inflationsausgleichs verstößt gegen das Willkürverbot.

Sachverhalt

Die Klägerin hat von 2022 bis Sommer 2024 Elternzeit in Anspruch genommen. Der TVöD-VKA fand auf das Arbeitsverhältnis Anwendung. Die Beklagte zahlte an die Klägerin für den Zeitraum der Elternzeit keinen Inflationsausgleich nach dem Tarifvertrag über Sonderzahlungen zur Abmilderung der gestiegenen Verbraucherpreise vom 22.4.2023 ("TV Inflationsausgleich"). Die Klägerin forderte die Beklagte am 29.8.2023 – erfolglos – auf, die Auszahlung nachzuholen und machte gleichzeitig Ansprüche nach § 15 AGG geltend. Seit Dezember 2023 arbeitete die Klägerin in Teilzeit mit einem Stundenumfang von 24 Wochenstunden. Für die Monate Januar und Februar 2024 zahlte die Beklagte an die Klägerin als Inflationsausgleich jeweils 135,38 EUR. Die Klägerin war der Ansicht, der TV Inflationsausgleich verstoße, soweit er Beschäftigte in Elternzeit von dem Bezug des Inflationsausgleichs ausschließe, gegen das arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgebot und begründe zudem eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts i. S. d. § 1 AGG. Seine Entgeltbezugsregelung stelle eine mittelbare Diskriminierung dar, da Mütter im Allgemeinen länger in Elternzeit gingen als Väter.

Die Entscheidung

Das Arbeitsgericht hat der Klage auf Zahlung des tariflichen Inflationsausgleichs während der Elternzeit und Entschädigung weitestgehend stattgegeben. Allerdings wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung i. S. d. § 64 Abs. 3 Ziff. 1 ArbGG die Berufung zugelassen.Das Gericht entschied, dass die Beklagte gem. § 2 Abs. 1 und Abs. 2 sowie § 3 Abs. 1 und 2 des TV Inflationsausgleich verpflichtet sei, der Klägerin einen Inflationsausgleich von 1.240 EUR bezogen auf Juni 2023 sowie weitere 220,00 EUR monatlich für Juli 2023 bis Januar 2024 abzüglich der für Januar 2023 geleisteten 135,38 EUR zu zahlen, mithin 2.644,62 EUR. Ebenso sei die Beklagte aus demselben Rechtsgrund verpflichtet, an die Klägerin für Februar 2024 220,20 EUR abzüglich geleisteter 135,38 EUR zu zahlen, also 84,62 EUR.

Zwar bestimme § 2 Abs. 1 TV Inflationsausgleich, dass an mindestens einem Tag zwischen dem 1.1.2023 und dem 31.5.2023 Anspruch auf Entgelt bestanden haben muss, was hinsichtlich der Klägerin nicht der Fall sei. Ebenso regele § 3 Abs. 1 TV Inflationsausgleich, dass der Anspruch nur besteht, wenn an mindestens einem Tag im Bezugsmonat Anspruch auf Entgelt bestanden hat. Nach Auffassung des Gerichts könne die zum maßgeblichen Zeitpunkt in Elternzeit befindliche Klägerin jedoch verlangen, so gestellt zu werden, als zähle sie zum Kreis der Begünstigten; denn verstöße ein Tarifvertrag insoweit gegen höherrangiges Recht, als er in gesetzes- bzw. verfassungswidriger Weise Personengruppen von einer Leistung ausschließt, so sei nicht die gesamte begünstigende Regelung unwirksam, sondern nur die Ausschlussklausel. Die leistungsgewährenden Tarifvertragsbestimmungen seien in diesem Fall auf diejenigen Personen zu erstrecken, die rechtswidrig ausgeschlossen würden (BAG, Urteil vom 24.9.2003 – 10 AZR 675/02). Nach Auffassung des Gerichts lag – jedenfalls – ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vor.

Das Gericht führte hierzu aus, dass die Tarifvertragsparteien – auch die des öffentlichen Dienstes – bei ihrer Normsetzung zwar nicht unmittelbar an Grundrechte gebunden seien. Die Gerichte für Arbeitssachen seien aber gemäß Art. 1 Abs. 3 GG zum Schutz der Grundrechte berufen. Der hieraus folgende Schutzauftrag verpflichtet sie dazu, die Grundrechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien zu beschränken, wenn diese mit den Freiheits- oder Gleichheitsrechten oder anderen Rechten mit Verfassungsrang der Normunterworfenen kollidiert.Die den Tarifvertragsparteien bei der Festlegung situationsgebundener Zulagen zukommende Einschätzungsprärogative sei jedoch erst dann überschritten, wenn das Willkürverbot als äuß1. Grenze der Tarifautonomie verletzt werde. Das sei dann der Fall, wenn sich ein vernünftiger, aus der Natur der Sache ergebender oder sonst sachlich einleuchtender Grund für eine Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden lässt. Bei der Willkürkontrolle sei nicht ausschlaggebend, ob die maßgeblichen Gründe im Tariftext Niederschlag gefunden haben oder diesem zumindest im Wege der Auslegung zu entnehmen seien. Maßgeblich sei nicht eine etwaige subjektive Willkür des Normgebers, sondern die objektive Unangemessenheit der Norm im Verhältnis zu der tatsächlichen Situation, die sie regeln soll, und damit objektive Willkür (vgl. BAG, Urteil vom 20.7.2023 – 6 AZR 256/22).

Der Ausschluss von Arbeitnehmern in Elternzeit verstößt nach Auffassung des ArbG gegen das vorstehende Willkürverbot. Zwar sei es zulässig, Arbeitnehmer in Elternzeit von bestimmten Leistungen auszunehmen. Jedoch müsse im konkreten Fall die Differenzierung zwischen dem Kreis der Anspruchsberechtigten und demjenigen ...

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