BAG, Urteil vom 27.7.2021, 9 AZR 448/20
1. Gemäß § 207 SGB IX ist nach entsprechendem Verlangen des schwerbehinderten bzw. des einem solchen gleichgestellten behinderten Menschen die Anordnung von Mehrarbeit untersagt. Mehrarbeit in diesem Sinne ist jede über werktäglich 8 Stunden (§ 3 Satz 1 ArbZG) hinausgehende Arbeitszeit. Nicht maßgebend für die Bestimmung der Mehrarbeit i. d. S. ist die individuell vereinbarte oder tarifliche regelmäßige Arbeitszeit bzw. die nach § 3 Satz 2 ArbZG auf bis zu 10 Stunden täglich verlängerbare Arbeitszeit.
2. § 164 Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 SGB IX räumt dem schwerbehinderten Arbeitnehmer einen einklagbaren Anspruch ein, nicht (mehr) zu Bereitschaftszeiten eingeteilt zu werden, wenn er diese wegen seiner Behinderung nicht ausüben kann. Hierbei trägt dieser die volle Darlegungs- und Beweislast, inwieweit sein Leistungsvermögen durch die Auswirkungen der Art und Schwere seiner Behinderung so eingeschränkt ist, dass er die ihm übertragenen Bereitschaftszeiten nicht mehr leisten kann.
3. Bei als Rufbereitschaft angeordneten Bereitschaftszeiten, während derer sich der Arbeitnehmer nicht an seinem Arbeitsplatz aufhalten muss, handelt es sich insgesamt um Arbeitszeit, wenn dem Arbeitnehmer Einschränkungen auferlegt werden, die ihm bei objektiver Betrachtung ganz erheblich darin beeinträchtigen, die Zeit, innerhalb derer er sich bereithalten muss, frei zu gestalten und sich allgemeinen Interessen widmen zu können. Dies ist anhand einer Gesamtwürdigung zu beurteilen. Die dafür maßgeblichen Beurteilungskriterien sind insbesondere die Zeitspanne, binnen derer der Arbeitnehmer die Arbeit auf Abruf aufzunehmen hat, sowie die durchschnittliche Häufigkeit und Dauer der tatsächlichen Inanspruchnahme während der Bereitschaftszeiten.
Sachverhalt
Der mit einem GdB von 40 behinderte und seit Ende 2016 einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellte Kläger ist bei der Beklagten, einer Verbandsgemeinde, als Wassermeister in Vollzeit mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 39 Stunden beschäftigt. Der TVöD-V findet auf das Arbeitsverhältnis Anwendung.
Die Beklagte, der u. a. die Trinkwasserversorgung in ihrem Zuständigkeitsbereich obliegt, führte für die in diesem Bereich tätigen Mitarbeiter Bereitschaftszeiten ein, die sie als Rufbereitschaft anordnete. Hieran nahm auch der Kläger aufgrund einer zwischen den Parteien getroffenen "Vereinbarung über die Pauschalierung der Rufbereitschaftsvergütung und die Pauschalisierung von Erschwerniszuschlägen/Schmutzzuschlägen" vom 18.2.2003 teil. Hierin hieß es u. a., dass die Bediensteten sich den erforderlichen Bereitschaftsdienst so teilen, dass i. d. R. der jeweilige Bedienstete jede 4. Woche Bereitschaft leistet.
Aufgrund seiner Erkrankung an Wirbelsäule und Bandscheiben wurde dem Kläger von ärztlicher Seite empfohlen, sich von den Bereitschaftszeiten befreien zu lassen. Einen entsprechenden Antrag des Klägers lehnte die Beklagte jedoch mit Schreiben vom 25.11.2016 ab. Nachdem zum 28.12.2016 der Kläger gem. § 2 Abs. 3 SGB IX einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt wurde, stellte er erneut einen Antrag auf Befreiung von den Bereitschaftszeiten. Daraufhin teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass seinem Antrag zumindest teilweise entsprochen werden könne; denn schwerbehinderte Menschen seien zwar auf ihr Verlangen hin von Mehrarbeit freizustellen. Allerdings bedeute nach Auffassung der Beklagten Mehrarbeit jede über 8 Stunden pro Werktag hinausgehende Arbeitszeit, so dass innerhalb der angeordneten Rufbereitschaft bis zu 8 Stunden gearbeitet werden könne. Dies habe zwar zur Folge, dass der Kläger im Anschluss an seine tägliche Arbeitszeit keine Mehrarbeit in Form von Rufbereitschaft leisten müsse; an Tagen ohne tägliche Arbeitszeit, z. B. an Wochenenden und Feiertagen bleibe jedoch die Möglichkeit zur Anordnung für Rufbereitschaftszeiten bestehen.
Nach weiteren erfolglosen außergerichtlichen Freistellungsanträgen erhob der Kläger Klage. Er hat geltend gemacht, dass er gem. § 207 SGB IX von den als Rufbereitschaft angeordneten Bereitschaftszeiten zu befreien sei, weil es sich hierbei um Mehrarbeit i. S. d. § 207 SGB IX handele; denn Bereitschaftszeiten seien durchgehend als Arbeitszeit i. S. v. § 3 ArbZG zu qualifizieren. Zudem ergebe sich sein Anspruch aus der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers.
Die Entscheidung
Vor dem BAG hatte die Klage teilweise Erfolg.
Das Gericht entschied zunächst, dass dem Kläger kein Anspruch auf eine generelle Freistellung von den als Rufbereitschaft angeordneten Bereitschaftszeiten zustehe; denn es könne durchaus Fallgestaltungen geben, in denen der Kläger verpflichtet sein könne, diese Dienste zu leisten.
Das Gericht führte hierzu aus, dass gem. § 207 SGB IX schwerbehinderte Menschen und ihnen Gleichgestellte auf ihr Verlangen von Mehrarbeit freigestellt werden. Mehrarbeit sei hierbei jede über die gesetzliche regelmäßige Arbeitszeit des § 3 Satz 1 ArbZG hinausgehende Arbeitszeit (so u. a. BAG vom 21.11.2006 – 9 AZR 176/06; vom ...