Das Urteil ist – nicht – rechtskräftig.
Entscheidungsstichwort (Thema)
Rufbereitschaft. Festlegung der Höchstwegezeit durch den Arbeitgeber. Mitbestimmung des Personalrats
Leitsatz (amtlich)
1. Der Arbeitgeber ist berechtigt, im Rahmen der tariflichen Rufbereitschaft Höchstwegezeiten festzusetzen. Dabei hat er nach § 106 GewO die Grundsätze des billigen Ermessens zu wahren.
2. Bei der Bemessung der maximalen Zeitspanne zwischen Abruf und Arbeitsaufnahme hat der Arbeitgeber insbesondere die Arbeitnehmerinteressen an der freien Wahl seines Aufenthaltsortes ausreichend zu wahren. Dazu gehört aber nicht die Berücksichtigung rein privater Belange zu Lasten berechtigter betrieblicher Interessen.
3. Im Falle des Arztes einer Reha-Klinik erscheint es angemessen und sachgerecht, die Höchstdauer der Wegezeit auf 45 Minuten zu begrenzen. Jedenfalls ist eine Anfahrtszeit von mehr als 1 Stunde zu lange, um dem Sinn und Zweck der Rufbereitschaft zu genügen.
4. Die Festlegung der Höchstwegezeit ist geeignet, die Dienstdauer zu beeinflussen, da bei Einsätzen die Wegezeit einen Teil der Arbeitszeit darstellt. Deshalb unterfällt die Festlegung der Höchstwegezeit bei Rufbereitschaft der Mitbestimmung des Personalrats nach § 74 Abs. 1 Ziff. 9 HPVG.
Normenkette
BAT § 15 Abs. 6b; GewO § 106; HPVG § 74 Abs. 1
Tenor
1. Es wird festgestellt, dass die Anweisung der Beklagten, im Falle der Rufbereitschaft spätestens innerhalb 45 Minuten nach Benachrichtigung in der Klinik anwesend zu sein, jedenfalls zur Zeit unwirksam ist.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Die Parteien haben die Kosten des Rechtsstreits jeweils zur Hälfte zu tragen.
4. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.500,00 Euro festgesetzt.
Tatbestand
Der Kläger begehrt mit seiner Klage die Feststellung, dass die Anweisung der Beklagten rechts unwirksam sei, im Fall der Rufsbereitschaft spätestens innerhalb von 45 Minuten nach Benachrichtigung in der Klinik anwesend zu sein. Er begehrt weiter die Feststellung, dass die Rufbereitschaft als Bereitschaftsdienst mit entsprechender Vergütung zu werten sei.
Der Kläger ist bei der Beklagten in der Klinik S. in M. Abteilung O. seit dem 01.06.2000 als Oberarzt beschäftigt. Zwischen den Parteien ist die Geltung des Bundesangestelltentarifvertrages und seiner ergänzenden Tarifverträge in der jeweiligen Fassung vereinbart.
Der Kläger ist 55 Jahre alt. Sein Gehalt belief sich zuletzt einschließlich der Zulagen auf ca. 5.500,– EUR brutto monatlich.
Der Kläger wohnt in K. Sein Wohnort ist ca. 73 Kilometer von der Klinik entfernt. Beim Einstellungsgespräch wurde deshalb darüber gesprochen, dass der Kläger möglicherweise wegen der zu leistenden Dienste in die Nähe der Klinik S. zieht. Eine bindende Zusage zu einem Umzug hat der Kläger jedoch nicht gegeben.
Die Klinik S. in M. ist eine Rehabilitationsklinik, keine Akut- oder Notfallklinik.
Der Kläger arbeitet in der Regel im Tagdienst. In der Nacht leisten Assistenzärzte oder Ärzte in der Weiterbildung bis morgens 7.30 Uhr ärztlichen Bereitschaftsdienst. Dieser Bereitschaftsdienst wird auch an Wochenenden 24 Stunden lang geleistet. Dieser Bereitschaftsdienst in der Nacht und an Wochenenden wird auch „Vordergrunddienst” genannt.
Der Kläger und andere Oberärzte sind parallel zum Vordergrunddienst dienstplanmäßig für eine Rufbereitschaft eingeteilt (Hintergrunddienst). Dieser Hintergrunddienst dient dazu, den weniger erfahrenen Assistenzärzten etc. die Möglichkeit zu geben, bei fachlichen Fragen und Problemen Rücksprache zu halten oder den Oberarzt einzuschalten bzw. kommen zu lassen.
Die Pflicht zur Teilnahme an der Rufbereitschaft ergibt sich aus dem Arbeitsvertrag und § 16 Abs. 6 b BAT. Der Kläger war durch Anordnung seiner vorgesetzten Chefärztin Dr. W. zeitweise von der Rufbereitschaft suspendiert. Seit dem 01. Juli 2003 ist er jedoch wieder verpflichtet worden, Rufbereitschaft zu leisten.
Per Dienstanweisung vom 03.02.2003 ordnete der zuständige Dezernent Brähler gegenüber den Chefärzten Dr. W. und Dr. B. der Klinik S. an, dass neben dem Bereitschaftsdienst parallel Rufbereitschaft zu leisten ist. Wird während der Rufbereitschaft die Anwesenheit in der Klinik erforderlich, so muss der betreffende Arzt spätestens binnen 45 Minuten nach der Benachrichtigung in der Klinik anwesend sein. Sofern sich ein Arzt während der Rufbereitschaft in der Klinik aufhält, erfolgt die kostenlose Bereitstellung eines Zimmers.
Eine entsprechende Anweisung zur Anwesenheit bei Abruf in der Rufbereitschaft binnen 45 Minuten in der Klinik erfolgte auch gegenüber anderen Kliniken der Beklagten.
Im Durchschnitt sind pro Oberarzt im Jahr ca. 50 Dienste im Rahmen der Rufbereitschaft zu leisten. Der Kläger hat von seiner Einstellung am 01.06.2000 bis Anfang 2003 insgesamt 145 Dienste abgeleistet. Dabei wurde er siebenmal ins Krankenhaus gerufen. Zweimal erteilte er dem diensthabenden Arzt telefonischen Rat.
Die reguläre Fahrtzeit vom Wohnort des Klägers bis zur Klinik S. mit dem Pkw dauert mindestens 1 Stunde oder länger. Die ...