Entscheidungsstichwort (Thema)
Anrechnung von Dienstzeiten des MfS
Leitsatz (amtlich)
- Nach dem Tarifvertrag über die Qualifizierung und Milderung wirtschaftlicher Nachteile im Zusammenhang mit der Privatisierung vom 28. Januar 1991 brauchen Vordienstzeiten bei dem Ministerium für Staatssicherheit nicht auf die Betriebszugehörigkeit der ehemaligen HO-Betriebe angerechnet zu werden.
- Hat ein privatisiertes Unternehmen einem ehemaligen Mitarbeiter des MfS mitgeteilt, daß Vordienstzeiten auf der Grundlage des Ministerratsbeschlusses vom 16. Mai 1990 angerechnet würden, so ergibt im allgemeinen die Auslegung dieser Erklärung, daß das Unternehmen nur einen Normvollzug beabsichtigt, nicht aber eine rechtsgeschäftliche Verpflichtung übernimmt.
Normenkette
TVG § 1 Auslegung; ZPO § 114
Verfahrensgang
LAG Berlin (Urteil vom 29.10.1992; Aktenzeichen 7 Sa 53/92) |
ArbG Berlin (Urteil vom 03.03.1992; Aktenzeichen 68 A Ca 18136/91) |
Tenor
Der Antrag des Klägers vom 26. Januar 1993 auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe wird zurückgewiesen.
Tatbestand
I. Der Kläger trat aufgrund des Arbeitsvertrages vom 23. März 1990 am 1. April 1990 als zivile Bewachungskraft in die Dienste des VEB Einzelhandel HO-WtB (Waren täglicher Bedarf). Dieser ging am 1. April 1990 auf die B… GmbH als Betriebsnachfolgerin über. Am 16. Mai 1990 legte der Ministerrat der ehemaligen DDR in einem Beschluß über weitere Aufgaben und Maßnahmen im Zusammenhang mit der Auflösung des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit (im folgenden: MfS) unter Tz. 20 u.a. fest, daß die Dauer der geleisteten Dienstzeit den ehemaligen Angehörigen des MfS in ihrer weiteren, beruflichen Tätigkeit anzurechnen sei. Mit Schreiben vom 22. August 1990 teilte die B… GmbH dem Kläger mit:
“Auf der Grundlage der Festlegung im Ministerratsbeschluß vom 16. 5. 1990, Absatz 20, und der Geschäftsführerberatung vom 27. 7. 90 wird Ihnen die Betriebszugehörigkeit ab 3. 3. 1958 angerechnet. Damit erhalten Sie ab 1990 zu Ihrem Jahresurlaub 3 Tage Treueurlaub.”
Am 22. April 1991 kündigte die Beklagte, die B… H… gesellschaft mbH, das Arbeitsverhältnis wegen struktureller Veränderungen fristgemäß.
Der Kläger hat auf der Grundlage des Tarifvertrages über die Qualifizierung und Milderung wirtschaftlicher Nachteile im Zusammenhang mit der Privatisierung vom 28. Januar 1991 (im folgenden TV-GPH) eine Abfindung von der Beklagten verlangt. Er hat hierzu die Auffassung vertreten, daß sowohl nach dem Tarifvertrag wie aufgrund einzelvertraglicher Vereinbarung die Vordienstzeit auf die Betriebszugehörigkeit bei der Beklagten angerechnet werden müsse. Überdies sei der Tarifvertrag auch im Wege der Betriebsvereinbarung auf alle Arbeitnehmer des Betriebes erstreckt worden.
Er hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, 12.375,-- DM an den Kläger zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, daß nach dem Wortlaut des Tarifvertrages die Vordienstzeit bei der Bemessung der Abfindung nicht berücksichtigt zu werden brauche. Einzelvertraglich sei insoweit eine Anrechnung nicht vereinbart worden.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat bei der Bemessung der Abfindung lediglich die bei der Beklagten verbrachte Dienstzeit zugrundegelegt und im übrigen die Klage abgewiesen. Hiergegen richtet sich die Revision des Klägers, für die er die Bewilligung der Prozeßkostenhilfe verlangt.
Entscheidungsgründe
II. Der Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe war zurückzuweisen, da die Revision keine Aussicht auf Erfolg verspricht.
1. Das Landesarbeitsgericht hat entsprechend dem übereinstimmenden Vortrag der Parteien angenommen, daß sich das Arbeitsverhältnis nach dem TV-GPH richtet. In diesem Tarifvertrag heißt es:
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Abfindung
- Alle Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis nicht auf einen neuen Arbeitgeber übergeht und gekündigt oder auf Veranlassung des Arbeitgebers durch Aufhebungsvertrag beendet wird, erhalten eine Abfindung in Höhe von 25 % ihres tariflichen Bruttomonatseinkommens pro anrechnungsfähigem Beschäftigungsjahr. …
§ 9
Definition
- …
- Soweit dieser Tarifvertrag auf die Beschäftigungsdauer abstellt, kommt es auf den ununterbrochenen Bestand des Arbeitsverhältnisses an, das der Arbeitnehmer bei dem Arbeitgeber oder seinem Rechtsvorgänger beim Ausscheiden zurückgelegt hat. Angerechnet werden Zeiten, die der Arbeitnehmer bei einem anderen Betrieb im Geltungsbereich dieses Tarifvertrages zurückgelegt hat, wenn der Betriebswechsel unmittelbar stattgefunden hat.
- …
§ 11
- …
- Günstigere gesetzliche, tarifliche oder einzelvertragliche Bestimmungen bleiben von diesem Abkommen unberührt.”
Zu diesem Tarifvertrag gibt es “Hinweise zur Auslegung des Tarifvertrages zwischen GPH und HBV und NGG” vom 11. März 1991, die nachfolgenden Wortlaut haben:
- “…
Definition der Beschäftigungsdauer
Der Tarifvertrag hat eine eigene Definition der Beschäftigungszeit. Nur auf sie kommt es an, nicht darauf, was sonst landläufig darunter verstanden werden mag.
Als Zeiten der Beschäftigungsdauer sind anzurechnen
- die Zeiten, die der Arbeitnehmer in einem ununterbrochenen Arbeitsverhältnis zum letzten Arbeitgeber gestanden hat, der jetzt kündigt.
- die Zeiten, die der Arbeitnehmer bei einem früheren Arbeitgeber beschäftigt war, der diesen Tarifvertrag mit abgeschlossen hat. Außerdem muß der Wechsel vom früheren Arbeitgeber zum Arbeitgeber, der jetzt kündigt, unmittelbar erfolgt sein.
- …
- Arbeitnehmer, die nach Tätigkeiten bei NVA, Volkspolizei, MfS u.a. einen Arbeitsplatz bei HO oder Großhandel bekamen, erhalten die dortigen Zeiten nach diesem Tarifvertragnicht angerechnet, da sie in dieser Zeit kein Arbeitsverhältnis mit dem Betrieb hatten.”
2. Nach dem eindeutigen Wortlaut des Tarifvertrages sind bei der Bemessung der Abfindung nur Beschäftigungszeiten im Dienste der Beklagten zugrunde zu legen. Dies hat auch seinen guten Grund. Durch die Abfindung soll der Besitzstand der von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer, die sie im Dienste der Beklagten oder ihrer unmittelbaren Rechtsvorgänger erworben haben, abgefunden werden. Dem kann der Kläger nicht entgegenhalten, in einer sozialistischen Gesellschaft sei jede Tätigkeit für den Staat erbracht, so daß auch Dienstzeiten bei der staatlichen Organisation berücksichtigt werden müssen. Insoweit wird verkannt, daß im Zuge der Privatisierung und Betriebsnachfolge nur Vermögensteile des Staates auf die Beklagte übergegangen sind und die Tarifvertragsparteien nach der ihnen zustehenden Tarifautonomie die Belastbarkeit der ihnen angeschlossenen Arbeitgeber kalkulieren können.
3. Dem Kläger steht auch nicht deshalb ein tariflicher Anspruch zu, weil die Betriebspartner im Wege der Betriebsvereinbarung die tariflichen Regelungen auf alle Mitarbeiter des Betriebes der Beklagten erstreckt haben. Nach h. M. kann eine fehlende Tarifbindung nicht dadurch hergestellt werden, daß ein Tarifvertrag im Wege der Betriebsvereinbarung auf alle Arbeitsverhältnisse des Betriebes erstreckt wird (vgl. BT-Drucks. VI/1786, S. 47; BT-Drucks. zu VI/2729, S. 11). Im übrigen wird durch die Übertragung des Tarifvertrages in den Betrieb sein Inhalt nicht erweitert.
4. Dem Kläger stehen auch keine Ansprüche auf weitergehende Abfindungen aufgrund einer Individualzusage zu. Die Beklagte bzw. ihre Rechtsvorgängerinnen haben dem Kläger kein Angebot gemacht, bei der Zahlung von Abfindungen die Vordienstzeiten im Dienste des MfS zu berücksichtigen.
a) Mit Schreiben vom 22. August 1990 hat die Rechtsvorgängerin der Beklagten lediglich mitgeteilt, daß auf der Grundlage des Ministerratsbeschlusses vom 16. Mai 1990 die Vordienstzeiten im Dienste des MfS angerechnet würden. Die Beklagte hat demnach im Wege des Normvollzuges einen Beschluß des Ministerrats umsetzen wollen, wobei dahingestellt bleiben kann, ob dieser Beschluß insoweit wirksam ist. Dagegen hat sie keinen eigenen Geschäftswillen gehabt, eine rechtsgeschäftliche Erklärung abzugeben.
b) Im Zeitpunkt der Abgabe der Erklärung vom 22. August 1990 war der Tarifvertrag vom 28. Januar 1991 noch nicht abgeschlossen. Es war mithin zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich, rechtsgeschäftliche Erklärungen zu einem später abgeschlossenen Tarifvertrag abzugeben. Die Rechtsvorgängerin der Beklagten hat sich in ihrem Schreiben auch auf den Hinweis zur Urlaubsverlängerung beschränkt. Entgegen der Auffassung des Klägers ändert sich hieran auch nicht deswegen etwas, weil die Beklagte möglicherweise eine verlängerte Kündigungsfrist eingehalten hat. Hieraus sind Schlüsse auf alle übrigen Bedingungen des Arbeitsverhältnisses nicht möglich.
Unterschriften
Schaub, Schneider, Dr. Wißmann
Fundstellen