Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitnehmerentsendung. Tarifkonkurrenz
Leitsatz (redaktionell)
Der neunte Senat möchte klarstellen, dass im Geltungsbereich des § 1 AEntG der Arbeitgeber weder durch Verbandsmitgliedschaft noch durch Abschluss eines Haustarifvertrags die Anwendung der allgemeinverbindlichen Bau-Tarifverträge abwenden kann. Der zente Senat wird angefragt, ob er an früher abweichender Rechtsprechung festhält.
Normenkette
ArbGG § 45; AEntG § 1 Abs. 1, 3, § 1a; BRTV-Bau § 8; VTV
Verfahrensgang
Tenor
Der Neunte Senat möchte die Auffassung vertreten, daß nach § 1 Abs. 3 AEntG ein inländischer Arbeitgeber, der vom betrieblichen Geltungsbereich eines für allgemeinverbindlich erklärten Urlaubskassenverfahrentarifvertrages erfaßt wird, gesetzlich zur Abführung der Urlaubskassenbeiträge verpflichtet ist. Diese gesetzliche Bindung wird durch einen für den Betrieb an sich tarifrechtlich geltenden sachnäheren Tarifvertrag nicht verdrängt.
Damit weicht der Neunte Senat von der Rechtsprechung des Zehnten Senats in seinem Urteil vom 4. Dezember 2002 – 10 AZR 113/02 – ab.
Der Neunte Senat fragt nach § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG an, ob der Zehnte Senat an seiner Rechtsauffassung festhält.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
A. Der Kläger nimmt die Beklagte auf Zahlung von Urlaubskassenbeiträgen in Anspruch.
Der Kläger ist eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien des Baugewerbes. Er hat nach den Vorschriften des Bundesrahmentarifvertrags für das Baugewerbe (BRTV-Bau) in Verbindung mit den Vorschriften über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) die Aufgabe, die Auszahlung der tarifvertraglich vorgesehenen Urlaubsvergütung zu sichern. Der durch Änderungstarifvertrag vom 20. Dezember 1999 mit Wirkung vom 1. Januar 2000 neu gefasste VTV sowie der durch Änderungstarifvertrag vom selben Tag geänderte BRTV-Bau sind allgemeinverbindlich (AVE vom 14. März 2000, BAnz Nr. 61 vom 28. März 2000 S. 5337).
Die Beklagte ist ein in Wuppertal ansässiges Unternehmen des Bauhauptgewerbes. Sie beauftragte die Streitverkündete, eine Gesellschaft polnischen Rechts, auf mehreren Baustellen in West- und Norddeutschland Trockenbauarbeiten durchzuführen. Die Streitverkündete beschäftigte auf den Baustellen ausschließlich aus Polen entsandte gewerbliche Arbeitnehmer.
Die Streitverkündete erteilte dem Kläger für die Monate Juni bis Dezember 2000 auf dem hierfür bestimmten Formular die tariflich vorgesehenen Auskünfte. Aus den gemeldeten beitragspflichtigen Bruttomonatslöhnen ergeben sich Urlaubskassenbeiträge von 107.333,34 DM. Außerdem meldete die Streitverkündete die Gewährung von Urlaub und Urlaubsvergütung. Ob die Streitverkündete die gemeldeten Urlaubsvergütungen tatsächlich an die von ihr entsandten Arbeitnehmer gezahlt hat, ist streitig. Mögliche Erstattungsansprüche gegen den Kläger hat die Streitverkündete an die Beklagte abgetreten, die mit ihnen gegen die Klageforderung aufgerechnet hat. Zahlungen an den Kläger erbrachte die Streitverkündete mit Ausnahme eines im März 2001 geleisteten Betrags von 9.703,46 DM nicht.
Mit der im Mai 2001 erhobenen Klage hat der Kläger die Beklagte als Bürgin nach § 1a AEntG auf Zahlung der Urlaubskassenbeiträge in Anspruch genommen.
Der Kläger hat vor dem Arbeitsgericht beantragt
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 107.333,34 DM nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz der EZB seit 16. Mai 2001 zu zahlen.
Die Beklagte und die Streitverkündete haben beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie haben im Wesentlichen die Unwirksamkeit der Vorschriften des AEntG geltend gemacht. Die im AEntG festgelegte Beitragspflicht von Bauarbeitgebern mit Sitz im Ausland (§ 1) und die Bürgenhaftung des inländischen Auftraggebers (§ 1a) seien verfassungswidrig. Die Streitverkündete habe 85.405,46 DM als Urlaubsvergütung an Arbeitnehmer gezahlt, so dass mögliche Beitragsansprüche auf Grund der Aufrechnung erloschen seien.
Das Arbeitsgericht hat über die Klage durch Teilurteil entschieden. Es hat die Beklagte verurteilt, an den Kläger 12.224,42 DM (= 6.250,25 Euro) nebst Zinsen zu zahlen. Nach eigenem Vorbringen sei dieser Betrag weder an den Kläger noch an Arbeitnehmer gezahlt worden. Das Landesarbeitsgericht hat das Urteil des Arbeitsgerichts bestätigt. Zwar betrage die Differenz zwischen den Urlaubskassenbeiträgen und den angeblich gezahlten Urlaubsvergütungen 11.824,44 DM, weil die Gesamtsumme der behaupteten Zahlungen um 400,00 DM höher sei als vom Arbeitsgericht festgestellt. Dem Kläger stünden jedoch 400,00 DM als weiterer Teilbetrag aus den vom Arbeitsgericht nicht behandelten Urlaubskassenbeiträgen von 97.629,88 DM zu. Die Aufrechnung sei unwirksam. Die Beklagte hat die vom Landesarbeitsgericht zugelassene Revision eingelegt.
Entscheidungsgründe
B. Der Neunte Senat möchte die Revision der Beklagten zurückweisen.
Die Ansprüche des Klägers beruhen auf § 8 Nr. 15 BRTV-Bau iVm. §§ 5 ff. VTV/2000. Die Vorschriften regeln das Urlaubskassenverfahren des Baugewerbes. Sie sind auf das Rechtsverhältnis zwischen dem Kläger und der Streitverkündeten nach § 1 Abs. 3 iVm. Abs. 1 des Gesetzes über zwingende Arbeitsbedingungen bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen (Arbeitnehmer-Entsendegesetz – AEntG) anzuwenden. Die Rechtsnormen eines Tarifvertrags über eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien – hier der VTV – werden unter den dort näher bestimmten Voraussetzungen auf Arbeitgeber, die ihren Sitz im Ausland haben, erstreckt. Diese Voraussetzungen liegen vor. Nach § 1a AEntG hat die Beklagte für die nach § 1 Abs. 3 AEntG begründeten Beitragspflichten der Streitverkündeten als Bürge einzustehen.
1. Der Neunte Senat hat sich in mehreren Rechtsstreitigkeiten mit der Auslegung des § 1 Abs. 3 AEntG befasst (vgl. 25. Juni 2002 – 9 AZR 405/00 – BAGE 101, 357 und – 9 AZR 106/01 –, Verfassungsbeschwerde nicht angenommen BVerfG 15. Dezember 2003 – 1 BvR 661/03 –, beide Entscheidungen zu Polen; – 9 AZR 406/00 – DB 2003, 2287, Entscheidung zu Rumänien; – 9 AZR 439/01 – AP AEntG § 1 Nr. 15, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen, Entscheidung zu Slowakische Republik). Er hat die Auffassung vertreten, Arbeitgebern des Baugewerbes sei es nicht möglich, durch Abschluss speziellerer Tarifverträge die Wirkung der Erstreckung nach dem AEntG abzuwenden. Die allgemeinverbindlichen Rechtsnormen seien kraft Gesetzes ausnahmslos anzuwenden. Das gelte sowohl für Bauarbeitgeber mit Sitz im Ausland, die Bauarbeiter nach Deutschland entsendeten, als auch für inländische Bauarbeitgeber.
Der Senat möchte an der Rechtsprechung festhalten und klarstellen, dass im Geltungsbereich des § 1 AEntG der Arbeitgeber weder durch Verbandsmitgliedschaft noch durch Abschluss eines Haustarifvertrags die Anwendung der allgemeinverbindlichen Bau-Tarifverträge abwenden kann. Auf die vom Arbeitgeber mit dem Verbandsbeitritt oder dem Abschluss eines Haustarifvertrages verfolgten Zwecke kommt es nicht an.
Der Neunte Senat sieht sich hieran durch die im Urteil des Zehnten Senats vom 4. Dezember 2002 (– 10 AZR 113/02 – AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 28 = EzA TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 17) geäußerte Rechtsauffassung gehindert. Danach sollen Fälle der Tarifpluralität nach dem Prinzip der Tarifeinheit im Regelfall dahin aufzulösen sein, dass nur der speziellere Tarifvertrag zur Anwendung komme. Das gelte “jedenfalls für die Geltungsbereichsstreitigkeiten der Sozialkassen des Baugewerbes”. Sei ein Arbeitgeber kraft Verbandszugehörigkeit an einen spezielleren Tarifvertrag (dort: Metallhandwerk) gebunden, verdränge der speziellere Tarifvertrag den nach seinem betrieblichen Geltungsbereich an sich maßgebenden VTV. Die Sozialkassen könnten daher diesen Arbeitgeber nicht zu Beiträgen heranziehen.
2. Die Rechtsfrage ist klärungsfähig und klärungsbedürftig. Sie ist für den Zehnten Senat in Beitragsstreitigkeiten der Urlaubskassen des Baugewerbes tragend. Für den Neunten Senat kommt es hierauf ungeachtet der Tatsache an, dass die in Polen ansässige Streitverkündete nicht geltend macht, es greife für sie ein speziellerer Tarifvertrag ein. Eine Auslegung des § 1 AEntG, die es vom jeweiligen Sitz des Bauarbeitgebers abhängig macht, ob die Anwendung der allgemeinverbindlichen Tarifverträge vermieden werden kann, verstößt nach Auffassung des Neunten Senats gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Es wäre eine unzulässige Ungleichbehandlung, wenn Bauarbeitgeber mit Sitz im Ausland von der Möglichkeit, gegenüber den erstreckten Tarifverträgen einen spezielleren Tarifvertrag anzuwenden, ausgeschlossen würden. Es ist deshalb das Verfahren nach § 45 ArbGG einzuleiten.
Für die Auffassung des anfragenden Senats sprechen folgende Gründe:
1. Der Gesetzeswortlaut.
Nach § 1 Abs. 1 AEntG finden die Rechtsnormen eines für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags unter den dort näher bestimmten Voraussetzungen und für die dort genannten Arbeitsverhältnisse zwingend Anwendung. Die zwingende Anwendung gilt nach § 1 Abs. 3 Satz 1 AEntG auch für die Rechtsnormen von Tarifverträgen über eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien. Die Vorschrift begründet nach Satz 2 Beitragspflichten des Bauarbeitgebers mit Sitz im Ausland und nach Satz 3 Beitragspflichten des Bauarbeitgebers mit Sitz im Inland. Die Anordnung der “zwingenden” Geltung der Tarifverträge auch für Bauarbeitgeber mit Sitz im Inland steht der Annahme entgegen, die Vorschrift sei nur eine Kollisionsnorm iSv. Art. 30, 34 EGBGB. Sie steht auch der Annahme im Urteil vom 4. Dezember 2002 (– 10 AZR 113/02 – AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 28 = EzA TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 17) entgegen, es handele sich bei den Sätzen 2 und 3 ausschließlich um klarstellende Bestimmungen zu Satz 1 des § 1 Abs. 1 AEntG. Sie bilden vielmehr “zugleich” den rechtstechnisch erforderlichen Anknüpfungspunkt für die Bußgeldbewehrung nach § 5 AEntG (Koberski/Asshoff/Hold AEntG 2. Aufl. § 1 Rn. 318). Sie erschöpfen sich nicht darin.
2. Der Gesetzeszweck.
Ziel des AEntG ist ua. die Sicherung angemessener Arbeitsbedingungen für entsandte Arbeitnehmer (vgl. Koberski/Asshoff/Hold AEntG 2. Aufl. Einleitung Rn. 14 ff.). Dieser Schutzzweck wird verfehlt, wenn die allgemeinverbindlichen Tarifbestimmungen allein deshalb nicht gelten, weil der Arbeitgeber an einen anderen Tarifvertrag iSv. § 3 Abs. 1 TVG gebunden ist.
Wie wichtig dem Gesetzgeber die Herstellung einheitlicher Mindestentgelte und die Sicherung des tariflichen Urlaubs ist, ergibt sich aus § 1 Abs. 3a Satz 1 AEntG (eingeführt zum 1. Januar 1999 durch das Gesetz zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte (KorrekturG) vom 19. Dezember 1998). Ist ein Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) eines unter das AEntG fallenden Tarifvertrags gestellt, kann das zuständige Bundesministerium ohne das weitere Verfahren nach § 5 TVG abwarten zu müssen, durch Rechtsverordnung bestimmen, dass die Rechtsnormen dieses Tarifvertrags auf alle unter den Geltungsbereich dieses Tarifvertrags fallenden und nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Anwendung finden. Betroffene Arbeitgeber sind verpflichtet, ihren Arbeitnehmern mindestens die in der Rechtsverordnung vorgeschriebenen Arbeitsbedingungen zu gewähren sowie einer gemeinsamen Einrichtung der Tarifvertragsparteien die ihr tariflich zustehenden Beiträge zu leisten. Dies gilt nach § 1 Abs. 3a Satz 2 AEntG unabhängig davon, ob die entsprechende Verpflichtung kraft Tarifbindung nach § 3 TVG oder auf Grund der Rechtsverordnung besteht. Nach § 1 Abs. 3a Satz 3 AEntG gelten diese Pflichten auch für Arbeitgeber mit Sitz im Ausland und ihre im Geltungsbereich der Rechtsverordnung beschäftigten Arbeitnehmer.
3. Die Entstehungsgeschichte.
Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 AEntG aF waren die Rechtsnormen eines für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags anzuwenden “soweit … nicht ohnehin deutsches Recht für das Arbeitsverhältnis” maßgeblich war. Diese Formulierung wurde teils dahin verstanden, auf Arbeitgeber mit Sitz im Inland sei § 1 AEntG nicht anzuwenden. Die Anwendbarkeit dieser Normen für inländische Bauarbeitgeber ergebe sich ausschließlich aus den nicht bußgeldbewehrten § 5 Abs. 4, § 4 Abs. 1 TVG (OLG Düsseldorf 3. Juli 1998 – 5 Ss (OWi) 225/98 ua. – NZA 1998, 1286). Teils wurde angenommen, § 1 AEntG gelte nicht für die sog. MOE-Werkvertragsarbeitnehmer, weil die Erteilung der Arbeitserlaubnis die Beschäftigung nach den in Deutschland geltenden Arbeitsbedingungen voraussetzte. Mit der Streichung dieses Satzteils durch das KorrekturG ist klargestellt, dass § 1 AEntG ausnahmslos für inländische Arbeitgeber und alle Arbeitgeber mit Sitz im Ausland gilt.
4. Das Gemeinschaftsrecht.
Die Auffassung des Neunten Senats trägt der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (24. Januar 2002 – Rs C-164/99 Portugaia Construções – EUGHE I 2002, 787) Rechnung. Nach ihr stellt es eine nicht gerechtfertigte Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit dar, wenn ein inländischer Arbeitgeber den in einem für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag festgesetzten Mindestlohn durch den Abschluss eines Firmentarifvertrags unterschreiten kann, während diese Möglichkeit für einen Arbeitgeber, der in einem anderen Mitgliedsstaat ansässig ist, nicht eröffnet ist. Die zu § 1 Abs. 1 Nr. 1 AEntG ergangene Entscheidung enthält einen allgemeinen Grundsatz, der für die Auslegung von § 1 Abs. 1 Nr. 2 AEntG und die hieran anknüpfenden Bestimmungen des VTV heranzuziehen ist (vgl. Hanau NZA 2003, 128).
Unterschriften
Düwell, Krasshöfer, Reinecke, Kappes, Jungermann
Fundstellen