Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegung von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG
Leitsatz (amtlich)
Der Senat legt dem Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV die folgenden Fragen vor:
1. Ist Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG dahin auszulegen, dass ein Arbeitgeber, wie der Beklagte des vorliegenden Falles, – bzw. die Kirche für ihn – verbindlich selbst bestimmen kann, ob eine bestimmte Religion eines Bewerbers nach der Art der Tätigkeit oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts seines/ihres Ethos darstellt?
2. Sofern die erste Frage verneint wird:
Muss eine Bestimmung des nationalen Rechts – wie hier § 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG –, wonach eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion bei der Beschäftigung durch Religionsgemeinschaften und die ihnen zugeordneten Einrichtungen auch zulässig ist, wenn eine bestimmte Religion unter Beachtung des Selbstverständnisses dieser Religionsgemeinschaft im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt, in einem Rechtsstreit wie hier unangewendet bleiben?
3. Sofern die erste Frage verneint wird, zudem:
Welche Anforderungen sind an die Art der Tätigkeit oder die Umstände ihrer Ausübung als wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation gemäß Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG zu stellen?
Normenkette
AEUV Art. 17; Charta der Grundrehte der Europäishen Union Art. 21 Abs. 1; Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf Art. 4 Abs. 2; GG Art. 4 Abs. 1-2, Art. 140; WRV Art. 137 Abs. 3; AGG § 9 Abs. 1
Verfahrensgang
Nachgehend
Tenor
I. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art. 267 AEUV die folgenden Fragen vorgelegt:
- Ist Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG dahin auszulegen, dass ein Arbeitgeber, wie der Beklagte des vorliegenden Falles, – bzw. die Kirche für ihn – verbindlich selbst bestimmen kann, ob eine bestimmte Religion eines Bewerbers nach der Art der Tätigkeit oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts seines/ihres Ethos darstellt?
Sofern die erste Frage verneint wird:
Muss eine Bestimmung des nationalen Rechts – wie hier § 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG –, wonach eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion bei der Beschäftigung durch Religionsgemeinschaften und die ihnen zugeordneten Einrichtungen auch zulässig ist, wenn eine bestimmte Religion unter Beachtung des Selbstverständnisses dieser Religionsgemeinschaft im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt, in einem Rechtsstreit wie hier unangewendet bleiben?
Sofern die erste Frage verneint wird, zudem:
Welche Anforderungen sind an die Art der Tätigkeit oder die Umstände ihrer Ausübung als wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation gemäß Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG zu stellen?
II. Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt.
Gründe
Die Parteien streiten darüber, ob der Beklagte verpflichtet ist, an die Klägerin eine Entschädigung wegen einer Benachteiligung aus Gründen der Religion zu zahlen. Der Beklagte (Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V./l'OEuvre Évangélique de Diaconie et Développement, im Folgenden Evangelisches Werk) ist ein „Hilfswerk” der Evangelischen Kirche in Deutschland (im Folgenden EKD). Er ist ein eingetragener, nach dem deutschen Steuerrecht als gemeinnützig anerkannter Verein, der ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige, mildtätige und kirchliche Zwecke verfolgt (§ 2 seiner Vereinssatzung). Die konfessionslose Klägerin hat sich bei dem Evangelischen Werk ohne Erfolg auf eine Stellenanzeige beworben.
A. Rechtlicher Rahmen
I. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG, auch unter Berücksichtigung von Art. 17 AEUV.
II. Vorgaben des deutschen Rechts
1. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (im Folgenden GG) und Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG lauten:
„(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.”
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schützt Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG auch die korporative Religionsfreiheit. Deren elementarer Bestandteil ist die Formulierung der Eigenart des kirchlichen Dienstes – das kirchliche Proprium –. Allein den Kirchen obliegt es, dieses zu formulieren (vgl. BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – Rn. 85, 113 f., BVerfGE 137, 273).
In Art. 140 GG heißt es:
„Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes.”
Art. 137 Abs. 3 Satz 1 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 (im Folgenden WRV) lautet:
„Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.”
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind Träger dieses durch Art. 140 GG iVm. Art. 137 Abs. 3 WRV garantierten kirchlichen Selbstbestimmungsrechts („Privileg der Selbstbestimmung”) nicht nur die Kirchen selbst als Religionsgesellschaften/Religionsgemeinschaften entsprechend ihrer rechtlichen Verfasstheit, sondern auch alle ihnen in bestimmter Weise zugeordneten Einrichtungen, wenn und soweit sie nach dem glaubensdefinierten Selbstverständnis der Kirchen ihrem Zweck oder ihrer Aufgabe entsprechend berufen sind, Auftrag und Sendung der Kirchen wahrzunehmen und zu erfüllen (näher BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – Rn. 91 ff., BVerfGE 137, 273).
Das hier beklagte Evangelische Werk ist eine solche Einrichtung.
Bei den kirchlich getragenen Einrichtungen iSv. Art. 140 GG iVm. Art. 137 WRV umfasst das kirchliche Selbstbestimmungsrecht alle Maßnahmen, die in Verfolgung der vom kirchlichen Grundauftrag her bestimmten diakonischen und caritativen Aufgaben zu treffen sind, zB Vorgaben struktureller Art, die Personalauswahl und die mit diesen Entscheidungen untrennbar verbundene Vorsorge zur Sicherstellung der „religiösen Dimension” des Wirkens im Sinne kirchlichen Selbstverständnisses (vgl. BVerfG 4. Juni 1985 – 2 BvR 1703/83, 2 BvR 1718/83, 2 BvR 856/84 – zu B II 1 b der Gründe, BVerfGE 70,138; 17. Februar 1981 – 2 BvR 384/78 – zu C II 2 der Gründe, BVerfGE 57, 220; vgl. auch BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – Rn. 95, BVerfGE 137, 273).
Bedienen sich die Kirchen oder ihre Einrichtungen der Privatautonomie zur Begründung von Arbeitsverhältnissen, so findet auf diese Arbeitsverhältnisse als Folge der Rechtswahl zwar das staatliche Arbeitsrecht Anwendung. Die Einbeziehung der kirchlichen Arbeitsverhältnisse – einschließlich der Arbeitsverhältnisse ua. bei den kirchlichen Einrichtungen – in das staatliche Arbeitsrecht hebt die Zugehörigkeit dieser Arbeitsverhältnisse zu den „eigenen Angelegenheiten” der Kirche allerdings nicht auf (BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – Rn. 110, BVerfGE 137, 273; 4. Juni 1985 – 2 BvR 1703/83, 2 BvR 1718/83, 2 BvR 856/84 – zu B II 1 d der Gründe, BVerfGE 70, 138). Die Kirchen können deshalb der Gestaltung des kirchlichen Dienstes auch dann, wenn sie ihn auf der Grundlage von Arbeitsverträgen regeln, das besondere Leitbild einer christlichen Dienstgemeinschaft aller ihrer Mitarbeiter zugrunde legen (BVerfG 4. Juni 1985 – 2 BvR 1703/83, 2 BvR 1718/83, 2 BvR 856/84 – aaO).
Bei arbeitsrechtlichen Streitigkeiten in kirchlichen Arbeitsverhältnissen haben die staatlichen Gerichte die Vorgaben der verfassten Kirche, insbesondere das glaubensdefinierte Selbstverständnis der Kirche (das beispielsweise in einer „Grundordnung” niedergelegt sein kann) und die Eigenart des kirchlichen Dienstes als Maßstab zu beachten. Sie haben diese ihren Wertungen und Entscheidungen zugrunde zu legen, solange sie nicht in Widerspruch zu grundlegenden verfassungsrechtlichen Gewährleistungen stehen (vgl. BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – Rn. 118, BVerfGE 137, 273). Sind Arbeitnehmerschutzgesetze – zB das Kündigungsschutzgesetz – anzuwenden, sind diese im Lichte der verfassungsrechtlichen Wertentscheidung zugunsten der kirchlichen Selbstbestimmung auszulegen. Das bedeutet nicht nur, dass Religionsgesellschaften Gestaltungsspielräume, die das dispositive Recht eröffnet, voll ausschöpfen dürfen. Auch bei der Handhabung zwingender Vorschriften sind Auslegungsspielräume, soweit erforderlich, zugunsten der Religionsgesellschaften zu nutzen, wobei dem Selbstverständnis der Kirchen ein besonderes Gewicht zuzumessen ist (vgl. BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – Rn. 110, aaO; 25. März 1980 – 2 BvR 208/76 – zu C I 2 d der Gründe, BVerfGE 53, 366).
Darüber hinaus sind die staatlichen Gerichte bei kirchlichen Arbeitsverhältnissen – anders als dies bei weltlichen Arbeitsverhältnissen der Fall ist – zum Teil in ihrer Kontrolle eingeschränkt und haben die Darlegungen des kirchlichen Arbeitgebers nur auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen. Soweit dies der Fall ist, haben sie in Zweifelsfällen die einschlägigen Maßstäbe der verfassten Kirche durch Rückfragen bei den zuständigen Kirchenbehörden oder, falls dies ergebnislos bleibt, durch ein kirchenrechtliches oder theologisches Sachverständigengutachten aufzuklären (BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – Rn. 116, BVerfGE 137, 273). Dies folgt aus der Pflicht zur weltanschaulichen Neutralität, die es dem Staat auch verwehrt, Glauben und Lehre einer Kirche oder Religionsgemeinschaft als solche zu bewerten. Die individuelle und korporative Freiheit, das eigene Verhalten an den Lehren des Glaubens auszurichten und innerer Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln, würde entleert, wenn der Staat bei hoheitlichen Maßnahmen uneingeschränkt seine eigene Wertung zu Inhalt und Bedeutung eines Glaubenssatzes an die Stelle derjenigen der verfassten Kirche setzen und seine Entscheidungen auf dieser Grundlage treffen könnte (BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – Rn. 88, aaO). Deshalb kommt es auch nicht darauf an, ob die jeweiligen Arbeitsverhältnisse „verkündigungsnahe” oder „verkündigungsferne” Tätigkeiten betreffen. Auch insoweit haben die staatlichen Gerichte die Entscheidung der Kirche darüber, was Teil ihres Bekenntnisses ist, ob eine solche Differenzierung ihrem Bekenntnis entspricht und sich auf die Dienstgemeinschaft auswirkt, ihrer Bewertung zugrunde zu legen und nicht zu überprüfen, ob und inwieweit diese Differenzierung gerechtfertigt ist (vgl. BVerfG 4. Juni 1985 – 2 BvR 1703/83, 2 BvR 1718/83, 2 BvR 856/84 – zu B II 2 a der Gründe, BVerfGE 70, 138).
In welchem Umfang die staatlichen Gerichte die Entscheidungen der Kirche oder ihrer Einrichtungen überprüfen können, wurde vom Bundesverfassungsgericht bislang allerdings noch nicht für den – hier vorliegenden – Fall einer auf eine Diskriminierung im Stellenbesetzungs-/Bewerbungsverfahren gestützten Klage auf Entschädigung entschieden. Die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erging ausschließlich zu Kündigungsschutzprozessen, in denen sich kirchliche Arbeitnehmer gegen eine Kündigung zur Wehr gesetzt haben, die der kirchliche Arbeitgeber auf einen Verstoß des Arbeitnehmers gegen seine Loyalitätsobliegenheit gestützt hatte. Für den Kündigungsschutzprozess hat das Bundesverfassungsgericht insoweit eine zweistufige Kontrolle entwickelt (vgl. BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – Rn. 81, BVerfGE 137, 273): Danach haben die staatlichen Gerichte auf einer ersten Prüfungsstufe im Rahmen einer Plausibilitätskontrolle auf der Grundlage des glaubensdefinierten Selbstverständnisses der jeweiligen Kirche zu überprüfen, ob eine Organisation oder Einrichtung an der Verwirklichung des kirchlichen Grundauftrags teilhat, ob eine bestimmte Loyalitätsobliegenheit Ausdruck eines kirchlichen Glaubenssatzes ist und welches Gewicht dieser Loyalitätsobliegenheit und einem Verstoß hiergegen nach dem kirchlichen Selbstverständnis zukommt. Auf einer zweiten Prüfungsstufe ist sodann eine Gesamtabwägung vorzunehmen, in die neben kirchlichen Belangen auch die Grundrechte der betroffenen Arbeitnehmer einfließen, wobei dem Selbstverständnis der Kirche ein besonderes Gewicht beizumessen ist. Aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts stehen diese Maßstäbe im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – Rn. 127 ff., aaO). Für den – hier vorliegenden – Fall einer auf eine Diskriminierung im Stellenbesetzungs-/Bewerbungsverfahren gestützten Klage auf Entschädigung wirkt sich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nach Auffassung des vorlegenden Senats dahin aus, dass der kirchlich vorgegebene Maßstab, der beispielsweise in einer „Grundordnung” niedergelegt sein kann, selbst nicht zu überprüfen, sondern ohne Weiteres zugrunde zu legen ist, sofern der kirchliche Arbeitgeber nur plausibel dazu vorgetragen hat, dass die Einstellungsvoraussetzung einer bestimmten Religion Ausdruck des glaubensdefinierten kirchlichen Selbstverständnisses ist.
2. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (im Folgenden AGG)
Die Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung und der Antidiskriminierung – darunter die Richtlinie 2000/78/EG – wurden im deutschen Recht mit dem AGG vom 14. August 2006 (BGBl. I S. 1897) umgesetzt.
§ 1 AGG lautet:
„Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.”
In § 7 Abs. 1 AGG heißt es:
„Beschäftigte dürfen nicht wegen eines in § 1 genannten Grundes benachteiligt werden; dies gilt auch, wenn die Person, die die Benachteiligung begeht, das Vorliegen eines in § 1 genannten Grundes bei der Benachteiligung nur annimmt.”
Bewerberinnen und Bewerber für ein Beschäftigungsverhältnis sind nach § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG „Beschäftigte” iSd. § 7 Abs. 1 AGG.
§ 8 AGG regelt, unter welchen Voraussetzungen eine unterschiedliche Behandlung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes gleichwohl wegen beruflicher Anforderungen zulässig ist.
In § 9 AGG ist unter der Überschrift „Zulässige unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder Weltanschauung” bestimmt:
„(1) Ungeachtet des § 8 ist eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung bei der Beschäftigung durch Religionsgemeinschaften, die ihnen zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform oder durch Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Religion oder Weltanschauung zur Aufgabe machen, auch zulässig, wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft oder Vereinigung im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht oder nach der Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt.
(2) …”
Nach der Gesetzesbegründung ist diese Vorschrift darauf gerichtet, Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG umzusetzen. Dabei wollte der Gesetzgeber von der Möglichkeit Gebrauch machen, „bereits geltende Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten beizubehalten, wonach eine Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung keine Benachteiligung darstellt, wenn die Religion oder Weltanschauung einer Person nach der Art der Tätigkeit oder der Umstände ihrer Ausübung angesichts des Ethos der Organisation eine wesentliche und gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt”. In diesem Zusammenhang hat sich der Gesetzgeber ausdrücklich auf die oben (Rn. 10 bis 16) dargestellte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 140 GG iVm. Art. 137 Abs. 3 WRV berufen, wonach Kirchen und ihre Einrichtungen – ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform – das Recht haben, über Ordnung und Verwaltung ihrer Angelegenheiten zu entscheiden. Von diesem Recht sei grundsätzlich auch die Berechtigung umfasst, „die Religion oder Weltanschauung als berufliche Anforderung für die bei ihnen Beschäftigten zu bestimmen”. Vor dem Hintergrund von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG sowie dem Erwägungsgrund 24 dieser Richtlinie erlaube es § 9 Abs. 1 AGG den „Religionsgemeinschaften und den übrigen dort genannten Vereinigungen, bei der Beschäftigung wegen der Religion oder der Weltanschauung zu differenzieren, wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht oder nach der Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt” (Bundestags-Drucksache 16/1780 S. 35).
Beschäftigte, also auch Bewerberinnen und Bewerber, die einer verbotenen Benachteiligung ausgesetzt sind, können Ersatz ihres materiellen und immateriellen Schadens verlangen:
„§ 15 Entschädigung und Schadensersatz
(1) Bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot ist der Arbeitgeber verpflichtet, den hierdurch entstandenen Schaden zu ersetzen. Dies gilt nicht, wenn der Arbeitgeber die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat.
(2) Wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann der oder die Beschäftigte eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen. Die Entschädigung darf bei einer Nichteinstellung drei Monatsgehälter nicht übersteigen, wenn der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre.
…”
B. Kirchenrecht der EKD und dessen Anwendung auf das Evangelische Werk
Die Grundordnung der EKD vom 13. Juli 1948 (ABl. EKD S. 233; zuletzt geändert durch Kirchengesetz vom 12. November 2013, ABl. EKD S. 446) stellt die Grundlage des selbst gesetzten Kirchenrechts der EKD dar.
In der Richtlinie des Rates der EKD (nach Art. 9 Buchst. b Grundordnung) über die Anforderungen der privatrechtlichen beruflichen Mitarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Diakonischen Werkes vom 1. Juli 2005 (im Folgenden Richtlinie Mitarbeit EKD) heißt es ua.: „§ 2 Grundlagen des kirchlichen Dienstes
1. Der Dienst der Kirche ist durch den Auftrag bestimmt, das Evangelium in Wort und Tat zu bezeugen. Alle Frauen und Männer, die in Anstellungsverhältnissen in Kirche und Diakonie tätig sind, tragen in unterschiedlicher Weise dazu bei, dass dieser Auftrag erfüllt werden kann. Dieser Auftrag ist die Grundlage der Rechte und Pflichten von Anstellungsträgern sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
…
§ 3 Berufliche Anforderung bei der Begründung des Arbeitsverhältnisses
1. Die berufliche Mitarbeit in der Evangelischen Kirche und ihrer Diakonie setzt grundsätzlich die Zugehörigkeit zu einer Gliedkirche der Evangelischen Kirche in Deutschland oder einer Kirche voraus, mit der die Evangelische Kirche in Deutschland in Kirchengemeinschaft verbunden ist.
2. Für Aufgaben, die nicht der Verkündigung, Seelsorge, Unterweisung oder Leitung zuzuordnen sind, kann von Absatz 1 abgewichen werden, wenn andere geeignete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht zu gewinnen sind. In diesem Fall können auch Personen eingestellt werden, die einer anderen Mitgliedskirche der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Deutschland oder der Vereinigung Evangelischer Freikirchen angehören sollen. Die Einstellung von Personen, die die Voraussetzungen des Absatzes 1 nicht erfüllen, muss im Einzelfall unter Beachtung der Größe der Dienststelle oder Einrichtung und ihrer sonstigen Mitarbeiterschaft sowie der wahrzunehmenden Aufgaben und des jeweiligen Umfeldes geprüft werden. § 2 Absatz 1 Satz 2 bleibt unberührt.”
In der Dienstvertragsordnung der EKD vom 25. August 2008 (im Folgenden Dienstvertragsordnung der EKD), welche die allgemeinen Arbeitsbedingungen der privatrechtlich beschäftigten Mitarbeiter der EKD, der Hauptgeschäftsstelle des Diakonischen Werkes und weiterer Werke und Einrichtungen regelt, heißt es ua.:
„§ 2 Kirchlich-diakonischer Auftrag
Kirchlicher Dienst ist durch den Auftrag bestimmt, das Evangelium Jesu Christi in Wort und Tat zu verkünden. Der diakonische Dienst ist Lebens- und Wesensäußerung der evangelischen Kirche.
…
§ 4 Allgemeine Pflichten
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tragen nach ihren Gaben, Aufgaben und Verantwortungsbereichen zur Erfüllung ihres kirchlichen und diakonischen Auftrags bei. Ihr gesamtes Verhalten im Dienst und außerhalb des Dienstes muss der Verantwortung entsprechen, die sie als Mitarbeiterin oder Mitarbeiter im Dienst der Kirche übernommen haben.”
Für das Evangelische Werk gilt sowohl die Richtlinie Mitarbeit EKD als auch die Dienstvertragsordnung der EKD.
C. Das Ausgangsverfahren
Im November 2012 schrieb das Evangelische Werk eine befristete Referentenstelle für das Projekt „Parallelberichterstattung zur UN-Antirassismuskonvention” aus. In der Stellenanzeige/Stellenausschreibung heißt es ua.:
„Das Aufgabengebiet umfasst:
- • Begleitung des Prozesses zur Staatenberichterstattung 2012 – 2014
- • Erarbeitung des Parallelberichts zum deutschen Staatenbericht sowie von Stellungnahmen und Fachbeiträgen
- • Projektbezogene Vertretung der Diakonie Deutschland gegenüber der Politik, der Öffentlichkeit und Menschenrechtsorganisationen sowie Mitarbeit in Gremien
- • Information und Koordination des Meinungsbildungsprozesses im Verbandsbereich
- • Organisation, Verwaltung und Sachberichterstattung zum Arbeitsbereich
Sie erfüllen folgende Voraussetzungen:
…
Wir freuen uns über Bewerbungen von Menschen ungeachtet ihrer Herkunft oder Hautfarbe, des Geschlechts, einer Behinderung, des Alters oder ihrer sexuellen Identität.
Die Mitgliedschaft in einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche und die Identifikation mit dem diakonischen Auftrag setzen wir voraus. Bitte geben Sie Ihre Konfession im Lebenslauf an.”
Die konfessionslose Klägerin, deren Bewerbung nach einer ersten Bewerbungssichtung des Evangelisches Werkes noch im Auswahlverfahren verblieben war, wurde letztlich nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Eingestellt wurde ein Bewerber deutsch-ghanaischer Herkunft, der ein politikwissenschaftliches Universitätsstudium mit englischsprachiger Diplomarbeit absolviert hatte und der an einer Promotion arbeitete. Zu seiner Konfessionszugehörigkeit hatte er angegeben, ein „in der Berliner Landeskirche sozialisierter evangelischer Christ” zu sein.
Die Klägerin beansprucht mit ihrer Klage eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG iHv. mindestens 9.788,65 Euro. Sie ist der Auffassung, sie habe die Stelle wegen ihrer Konfessionslosigkeit nicht erhalten. Die durch die Stellenanzeige ersichtliche Berücksichtigung der Religion im Bewerbungsverfahren sei – jedenfalls bei unionsrechtskonformer Auslegung – nicht mit dem Diskriminierungsverbot des AGG vereinbar; § 9 Abs. 1 AGG könne diese Benachteiligung nicht rechtfertigen. Zudem wirke sich aus, dass das beklagte Evangelische Werk nicht durchgängig für alle ausgeschriebenen Stellen auf die Religionszugehörigkeit abstelle und dass die ausgeschriebene Stelle ua. durch projektbezogene Fördermittel nicht-kirchlicher Dritter finanziert werde.
Das Evangelische Werk trägt vor, eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion sei in diesem Fall nach § 9 Abs. 1 AGG gerechtfertigt. Nach den Regelungen der Richtlinie Mitarbeit EKD und der Dienstvertragsordnung der EKD sei die Zugehörigkeit zu einer christlichen Kirche notwendige Voraussetzung für die Begründung eines Arbeitsverhältnisses. Das Recht, eine solche Anforderung zu stellen, gehöre zum verfassungsrechtlich geschützten kirchlichen Selbstbestimmungsrecht und sei Ausfluss von Art. 140 GG iVm. Art. 137 Abs. 3 WRV. Dies sei, insbesondere auch im Hinblick auf Art. 17 AEUV, mit dem Unionsrecht vereinbar. Weiter stelle die Religionszugehörigkeit unter Beachtung des Selbstverständnisses des Evangelischen Werkes nach der Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung dar.
Das Arbeitsgericht Berlin hat der Klage teilweise stattgegeben. Es hat eine Benachteiligung der Klägerin bejaht, jedoch die Höhe der Entschädigung auf 1.957,73 Euro begrenzt. Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hat die Klage abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren nach Zahlung einer angemessenen Entschädigung weiter. Das Evangelische Werk beantragt die Zurückweisung der Revision.
D. Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs und Erörterung der Vorlagefragen
I. Zur Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs
1. Das Evangelische Werk ist eine der EKD „zugeordnete Einrichtung” iSv. § 9 Abs. 1 AGG. Nach Auffassung des vorlegenden Senats ist ein Verein wie das Evangelische Werk auch iSv. Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG als „private Organisation” anzusehen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht.
2. Klagen auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG – wie die der Klägerin – haben die Besonderheit, dass ein Entschädigungsanspruch nach dieser Bestimmung auch dann bestehen kann, „wenn der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre”. Danach ist es für den Entschädigungsanspruch ohne Bedeutung, wenn ein/e Bewerber/in wegen der besseren Qualifikation anderer Bewerber/innen auch bei benachteiligungsfreier Auswahl die zu besetzende Stelle nicht erhalten hätte. Auch mehrere Bewerber/innen können für dasselbe Bewerbungsverfahren eine Entschädigung geltend machen, § 61b Abs. 2 Arbeitsgerichtsgesetz.
3. Nicht selten – was auch das vorliegende Verfahren belegt – werden Klagen nach § 15 Abs. 2 AGG ua. auf Formulierungen in Stellenausschreibungen gestützt, die grundsätzlich geeignet wären, das Vorliegen einer Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, hier: der Religion, vermuten zu lassen. Im Ausgangsfall hat das beklagte Evangelische Werk zwar nicht geltend gemacht hat, dass die Religionszugehörigkeit im eigentlichen Auswahlverfahren keine Rolle gespielt hat. Es hat sich aber ausdrücklich auf eine gerechtfertigte unterschiedliche Behandlung wegen der Religion berufen und dafür auf die Vorgaben des Kirchenrechts der EKD (oben Rn. 26 bis 30), die Vorgaben des GG und die oben dargestellte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verwiesen (oben Rn. 5 bis 16).
4. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt demnach davon ab, ob die vom Evangelischen Werk vorgenommene Differenzierung nach der Religionszugehörigkeit zulässig iSv. § 9 Abs. 1 AGG ist.
Da § 9 Abs. 1 AGG unionsrechtskonform auszulegen ist, kommt es für die Entscheidung des Rechtsstreits auf die – bisher nicht erfolgte – Auslegung von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG an, wonach eine Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung einer Person – hier der Klägerin – keine Diskriminierung darstellt, wenn die Religion oder die Weltanschauung dieser Person nach der Art dieser Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt. Zudem muss eine solche Ungleichbehandlung die verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Grundsätze der Mitgliedstaaten sowie die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschafts-/ Unionsrechts – und damit wohl auch Art. 17 AEUV – beachten.
II. Erörterung der ersten Vorlagefrage
1. § 9 Abs. 1 AGG erlaubt nach seinem Wortlaut eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion „… wenn eine bestimmte Religion … unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft … im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht … eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt” (Alternative 1) „oder” „… wenn eine bestimmte Religion … unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft … nach der Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt” (Alternative 2).
Soweit es um die Anwendung von § 9 Abs. 1 Alternative 1 AGG geht, spricht viel dafür, dass danach ein Arbeitgeber wie das Evangelische Werk – bzw. die Kirche für ihn – aufgrund des kirchlichen Privilegs der Selbstbestimmung verbindlich selbst bestimmen kann, ob eine bestimmte Religionszugehörigkeit eines Bewerbers – ungeachtet der Art der Tätigkeit – eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt. Nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers sollte Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG in der Weise umgesetzt werden, dass die bereits geltenden Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten beibehalten werden (oben Rn. 24); diese Entscheidung hat der Gesetzgeber insbesondere im Hinblick auf die ausdrücklich genannte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 140 GG iVm. Art. 137 Abs. 3 WRV zum „Privileg der Selbstbestimmung” (oben Rn. 10 bis 16) getroffen. Dies hätte zur Folge, dass sich die gerichtliche Kontrolle auf eine Plausibilitätskontrolle auf der Grundlage des glaubensdefinierten Selbstverständnisses zu beschränken hätte (oben Rn. 15 f.). Danach wäre in dem Fall, dass das kirchliche Selbstverständnis selbst zwischen „verkündigungsnaher” und „verkündigungsferner” Tätigkeit unterscheidet, nicht zu überprüfen, ob und inwieweit diese Differenzierung gerechtfertigt ist. Auch wenn ein kirchliches Selbstverständnis beinhalten würde, dass sämtliche Arbeitsplätze unabhängig von ihrer Art nach der Religionszugehörigkeit besetzt werden, wäre dies ohne weitergehende gerichtliche Kontrolle hinzunehmen.
Danach dürfte die Klage abzuweisen sein. Denn nach dem Kirchenrecht der EKD – insbesondere nach § 3 Abs. 1 der Richtlinie Mitarbeit EKD – ist die Religionszugehörigkeit grundsätzlich ungeachtet der Art der Tätigkeit eine berufliche Anforderung bei der Begründung des Arbeitsverhältnisses. § 3 Abs. 2 der Richtlinie Mitarbeit EKD ermöglicht zwar für bestimmte Situationen eine Abweichung, stellt aber diesen Grundsatz nicht infrage.
2. Ungeklärt ist jedoch, ob ein solches Verständnis von § 9 Abs. 1 AGG dem Gebot unionsrechtskonformer Auslegung gerecht werden würde.
a) Weder dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG noch deren Erwägungsgründen lässt sich ohne Weiteres entnehmen, dass ein Arbeitgeber wie das Evangelische Werk – bzw. die Kirche für ihn – wegen des kirchlichen Privilegs der Selbstbestimmung verbindlich selbst bestimmen kann, ob eine bestimmte Religionszugehörigkeit eines Bewerbers – ungeachtet der Art der Tätigkeit – eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt und die staatlichen Gerichte diesbezüglich lediglich eine Plausibilitätskontrolle vornehmen dürfen. Zwar erlaubt Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG nach dem Wortlaut unter bestimmten Voraussetzungen eine auf die Religion bezogene Differenzierung, wenn diese „zum Zeitpunkt der Annahme dieser Richtlinie bestehende einzelstaatliche Gepflogenheiten” widerspiegelt, was hier der Fall ist. Allerdings setzt Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG weiter voraus, dass „die Religion … dieser Person nach der Art dieser Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt”. Dabei könnte insbesondere der Satzteil „wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung” für eine über eine reine Plausibilitätskontrolle hinausgehende Prüfungskompetenz und -verpflichtung der staatlichen Gerichte sprechen. Danach könnte ein erheblicher Unterschied zwischen den in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG und den in § 9 Abs. 1 AGG enthaltenen Vorgaben hinsichtlich des gerichtlichen Prüfungsmaßstabs und Prüfungsumfangs bestehen.
b) Allerdings wird in der deutschen Rechtsdiskussion teilweise vertreten, ein solcher Unterschied bestünde nicht, da Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG seinerseits im Lichte von Art. 17 AEUV (bzw. der Erklärung Nr. 11, die der Schlussakte des Vertrags von Amsterdam beigefügt ist) primär-rechtskonform dahin auszulegen sei, dass das kirchliche Selbstbestimmungsrecht des Art. 140 GG iVm. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV in seiner Ausprägung durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (oben Rn. 10 bis 16) vollständig gewahrt werde, mithin ein Arbeitgeber wie hier der Beklagte – bzw. die Kirche für ihn – verbindlich selbst bestimmen könne, ob eine bestimmte Religion eines Bewerbers nach der Art der Tätigkeit oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts seines/ihres Ethos darstelle. Diese Auslegung präge dann auch die Auslegung von § 9 Abs. 1 AGG. Zur Begründung wird im Wesentlichen angeführt, mit dem Erlass der Richtlinie habe nicht das im deutschen Verfassungsverständnis verankerte Selbstbestimmungsrecht der Kirche verändert werden sollen; vielmehr habe dieses – wie es auch im Erwägungsgrund 24 der Richtlinie 2000/78/EG zum Ausdruck komme – unangetastet bleiben sollen (zB vgl. KR-Fischermeier 11. Aufl. Kirchl. ArbN Rn. 8; Fischermeier ZMV-Sonderheft Tagung 2009, 7, 10 f.; Steinmeyer FS Wank 2014 S. 587, 591; Schoenauer KuR 2012, 30, 35; Joussen NZA 2008, 675, 677 ff.; Thüsing/ Fink-Jamann/von Hoff ZfA 2009, 153, 178 ff.). Darüber hinaus wird teilweise vertreten, soweit Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG eine weitergehende Prüfungskompetenz staatlicher Gerichte enthalte, sei dies mit Art. 17 AEUV nicht vereinbar und damit primärrechtswidrig (zB Schliemann FS Richardi 2007 S. 959 ff.).
3. Bei der erforderlichen unionsrechtskonformen Auslegung von § 9 Abs. 1 AGG hat der vorlegende Senat die Auslegung von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG durch den Gerichtshof zugrunde zu legen. Erst nach Beantwortung der ersten Vorlagefrage kann entschieden werden, ob und inwieweit § 9 Abs. 1 AGG – unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der danach anerkannten Auslegungsmethoden (vgl. ua. EuGH 19. April 2016 – C-441/14 – [Dansk Industri] Rn. 31 mwN) – so ausgelegt werden kann, dass die volle Wirksamkeit des Unionsrechts gewährleistet wird ohne jedoch eine Auslegung contra legem zu erfordern. Dabei schließt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung im deutschen Recht – wo dies nötig und möglich ist – das Gebot einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung ein (vgl. ua. BAG 5. Dezember 2012 – 7 AZR 698/11 – Rn. 37, BAGE 144, 85; BGH 28. Oktober 2015 – VIII ZR 158/11 – Rn. 37; 26. November 2008 – VIII ZR 200/05 – Rn. 21 mwN, BGHZ 179, 27). Eine solche Rechtsfortbildung kann in Betracht kommen, wenn der Gesetzgeber mit der von ihm geschaffenen Regelung eine Richtlinie umsetzen wollte, hierbei aber deren Inhalt missverstanden hat (BGH 28. Oktober 2015 – VIII ZR 158/11 – aaO; vgl. 21. Dezember 2011 – VIII ZR 70/08 – Rn. 32 f., BGHZ 192, 148).
III. Erörterung der zweiten Vorlagefrage
1. Sollte § 9 Abs. 1 AGG einer unionsrechtskonformen Auslegung letztlich nicht zugänglich sein, was allerdings erst auf der Grundlage der Auslegung von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG durch den Gerichtshof festgestellt werden kann, stellt sich die Frage, ob § 9 Abs. 1 AGG – gegebenenfalls (im Folgenden ggf.) teilweise – unangewendet zu lassen ist.
2. Dieser Frage ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs immer dann nachzugehen, wenn ein Diskriminierungsverbot der/m Einzelnen ein subjektives Recht verleiht, das sie/er als solches geltend machen kann und das die nationalen Gerichte auch in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privatpersonen verpflichtet, von der Anwendung mit diesem Verbot nicht im Einklang stehender nationaler Vorschriften abzusehen (entsprechend zum Verbot der Diskriminierung wegen des Alters: ua. EuGH 19. April 2016 – C-441/14 – [Dansk Industri] Rn. 36 mwN; 19. Januar 2010 – C-555/07 – [Kücükdeveci] Rn. 51, Slg. 2010, I-365). Vorliegend könnte das hier einschlägige, in Art. 21 Abs. 1 der Charta niedergelegte Verbot der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung schon für sich allein der/m Einzelnen ein subjektives Recht verleihen, das sie/er als solches geltend machen kann (vgl. zur Abgrenzung EuGH 15. Januar 2014 – C-176/12 – [Association de médiation sociale] Rn. 47). Dieses Diskriminierungsverbot dürfte grundsätzlich auch gegenüber einem Privaten wie dem beklagten Evangelischen Werk gelten, der als Verein eine Körperschaft des Privatrechts ist. Dafür spricht, dass das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, sowie der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht durch nationale Schutzstandards für die Grundrechte beeinträchtigt werden dürfen (insb. EuGH 26. Februar 2013 – C-617/10 – [Åkerberg Fransson] Rn. 29).
Nicht geklärt ist allerdings, ob die Verpflichtung, von der Anwendung mit dem in Art. 21 Abs. 1 der Charta niedergelegten Verbot der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung nicht im Einklang stehender nationaler Vorschriften – hier des § 9 Abs. 1 (Alternative 1) AGG – abzusehen, auch dann gilt, wenn sich ein Arbeitgeber – wie hier das beklagte Evangelische Werk – zur Rechtfertigung einer Benachteiligung wegen der Religion nicht nur auf nationale Schutzstandards wie Art. 140 GG iVm. Art. 137 Abs. 3 WRV in der Ausprägung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, sondern auch auf Primärrecht der Union, wie hier auf Art. 17 AEUV beruft.
3. Vor diesem Hintergrund spricht viel dafür, dass es auf die Frage nach einer eventuellen Haftung des Staates Bundesrepublik Deutschland für Schäden, die dem Einzelnen durch die dem Staat zurechenbaren Verstöße gegen das Unionsrecht entstehen (vgl. ua. EuGH 10. Juli 2014 – C-244/13 – [Ogieriakhi] Rn. 49; 5. März 1996 – C-46/93 und C-48/93 – [Brasserie du pêcheur und Factortame] Rn. 31, Slg. 1996, I-1029; 19. November 1991 – C-6/90 und C-9/90 – [Francovich ua.] Rn. 35, Slg. 1991, I-5357), nicht ankommen wird; für eine diesbezügliche Entscheidung wäre der vorlegende Senat zudem nicht zuständig.
IV. Erörterung der dritten Vorlagefrage
1. Für den Fall, dass die erste Vorlagefrage verneint wird oder dass dem vorlegenden Senat eine Auslegung von § 9 Abs. 1 Alternative 1 AGG im Sinne von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG auch dann möglich sein sollte, wenn damit eine über die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts hinausgehende gerichtliche Überprüfung des kirchlichen Einstellungskriteriums der Religion einherginge, sowie für den Fall der Nichtanwendung von § 9 Abs. 1 Alternative 1 AGG stellt sich die Frage, welche Anforderungen in einem Fall wie hier an die Art der Tätigkeit oder die Umstände ihrer Ausübung als wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation gemäß Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG zu stellen sind. Unabhängig davon stellt sich die Frage vorliegend auch deshalb, weil das vom beklagten Evangelischen Werk aufgestellte Einstellungskriterium einer bestimmten Religion ggf. nach § 9 Abs. 1 Alternative 2 AGG gerechtfertigt sein könnte.
Zwar ist der Wortlaut der Alternative 2 des § 9 Abs. 1 AGG („wenn eine bestimmte Religion … unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft … nach der Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt”) nicht gänzlich deckungsgleich mit dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG. Soweit es um die Alternative 2 des § 9 Abs. 1 AGG geht, könnte jedoch viel für die Möglichkeit unionsrechtskonformer Auslegung der Bestimmung durch den vorlegenden Senat sprechen. Dies ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte von § 9 Abs. 1 AGG, wonach der Gesetzestext in Übereinstimmung mit der Richtlinie klarstellt, dass es sich insoweit bei der Religion oder Weltanschauung „um eine in Bezug auf die Tätigkeit” gerechtfertigte Anforderung handeln muss (Bundestags-Drucksache 15/4538 S. 33).
2. Bislang ist unklar, nach welchen Kriterien sich in einem Fall wie hier konkret bestimmt, ob die Art der Tätigkeit oder die Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation iSv. Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG darstellen. Rechtsprechung des Gerichtshofs hierzu ist bisher nicht ersichtlich.
Soweit der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte – auch unter Bezugnahme auf die Richtlinie 2000/78/EG, allerdings im Hinblick auf Loyalitätskonflikte im bestehenden Arbeitsverhältnis – einzelne Kriterien genannt hat, scheinen diese bisher im Wesentlichen einzelfallbezogen zu sein. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat insoweit jeweils auf die Natur der jeweiligen Tätigkeit abgestellt. Kriterien waren dabei insbesondere die Art der vom Betroffenen bekleideten Stelle (EGMR 12. Juni 2014 – 56030/07 – [Fernández Martínez] Rn. 131; 23. September 2010 – 425/03 – [Obst] Rn. 48 – 51; 23. September 2010 – 1620/03 – [Schüth] Rn. 69) und die Nähe der betreffenden Tätigkeit zum Verkündigungsauftrag (EGMR 23. September 2010 – 1620/03 – [Schüth] Rn. 69). Aber auch andere Gesichtspunkte wie die Glaubwürdigkeit der jeweiligen Kirche in der Öffentlichkeit und gegenüber dem Klientel einer kirchlichen Einrichtung (EGMR 3. Februar 2011 – 18136/02 – [Siebenhaar] Rn. 46), der Umstand einer herausragenden Position (EGMR 23. September 2010 – 425/03 – [Obst] Rn. 51) oder der Schutz der Rechte anderer (protéger un ‹droit d'autrui›), beispielsweise das Interesse einer katholischen Universität, dass die dortige Lehre vom katholischen Glauben geprägt ist (EGMR 20. Oktober 2009 – 39128/05 – [Lombardi Vallauri] Rn. 41), wurden genannt. Bezogen auf Loyalitätskonflikte im bestehenden Arbeitsverhältnis war zudem jeweils eine Abwägung der im Spiel befindlichen konkurrierenden Rechte und Interessen vorzunehmen (ua. EGMR 23. September 2010 – 1620/03 – [Schüth] Rn. 69).
Ob und ggf. inwieweit derartige Gesichtspunkte im Rahmen von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG von Bedeutung sind, soweit es – wie hier – nicht um Loyalitätskonflikte, sondern um die Frage nach einem ggf. diskriminierenden Einstellungskriterium geht, ist bisher nicht ersichtlich. Ebenso nicht geklärt ist, ob und ggf. inwieweit sich die in Art. 17 AEUV enthaltene Bestimmung auf die Auslegung von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG auswirkt. Hier stellt sich insbesondere die Frage, ob Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG im Lichte von Art. 17 AEUV dahin auszulegen ist, dass es ausreicht, wenn sich das Einstellungskriterium einer bestimmten Religion angesichts des Ethos der Organisation nach der Art der Tätigkeit als gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt. Fraglich ist zudem, ob es von Bedeutung sein kann, wenn die betroffene Stelle nicht eigenfinanziert, sondern durch Dritte oder den Staat fremdfinanziert wird.
3. Bisher ist auch nicht erkennbar, in welchem Umfang staatliche Gerichte zu überprüfen haben, ob die Art der Tätigkeit oder – soweit es darauf ankommen sollte – die Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation iSv. Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG darstellen. Hier stellt sich die Frage, ob den staatlichen Gerichten eine umfassende Kontrolle, lediglich eine Plausibilitätskontrolle oder eine reine Missbrauchskontrolle, zB dahin obliegt, ob die Kirchen und ihre Einrichtungen die selbst gesetzten Maßstäbe auch konsequent zur Anwendung bringen. Damit verbunden ist die Frage, welche Prüfungsintensität überhaupt geeignet ist, sowohl das Recht der/des Einzelnen sicherzustellen, nicht wegen der Religion benachteiligt zu werden, als auch zu garantieren, dass eine Kontrolle der aus dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen abgeleiteten beruflichen Anforderungen durch staatliche Gerichte nicht letztlich auf eine (unzulässige) gerichtliche Kontrolle des Ethos der betroffenen Kirchen und Organisationen hinausläuft?
Soweit im Übrigen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Hinblick auf Loyalitätskonflikte im bestehenden Arbeitsverhältnis – auch unter Bezugnahme auf die Richtlinie 2000/78/EG – anerkennt, dass sich eine besondere Art beruflicher Anforderungen aus der Tatsache ergeben kann, dass sie von einem Arbeitgeber festgelegt wurden, dessen Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, scheint an der grundsätzlichen Überprüfbarkeit durch staatliche Gerichte kein Zweifel zu bestehen (vgl. EGMR 23. September 2010 – 425/03 – [Obst] Rn. 51; vgl. ferner 3. Februar 2011 – 18136/02 – [Siebenhaar] Rn. 46); die Prüfungsintensität ist allerdings auch hier nicht deutlich erkennbar.
Unterschriften
Schlewing, Winter, Vogelsang, Der ehrenamtliche Richter Horst Eimer ist wegen Ablaufs der Amtszeit an der Unterschriftsleistung verhindert. Schlewing, v. Schuckmann
Fundstellen
Haufe-Index 9558979 |
BB 2016, 817 |
DB 2016, 14 |
DStR 2016, 1273 |
NZA 2016, 6 |
AuA 2016, 695 |
EzA-SD 2016, 8 |
JuS 2016, 10 |
ZMV 2016, 107 |
AUR 2016, 217 |
GWR 2016, 368 |
SPA 2016, 63 |
SPA 2016, 85 |
ZESAR 2016, 487 |