Entscheidungsstichwort (Thema)
Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei Anrechung einer Tariferhöhung auf übertarifliche Zulagen
Orientierungssatz
1. Nach § 87 Abs 1 Nr 10 BetrVG besteht ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei der Anrechnung einer Tariferhöhung auf übertarifliche Zulagen dann, wenn es sich um eine generelle Maßnahme handelt und sich durch die Anrechnung die bisher bestehenden Verteilungsrelationen ändern.
2. Hinweise des Senats:
"Fortsetzung der Rechtsprechung zur Anrechnung von Tariflohnerhöhungen auf übertarifliche Zulagen (zuletzt Senatsurteil vom 26.Mai 1998 - 1 AZR 704/97 - BAGE 89, 31 mwN)."
Tenor
Die Rechtsbeschwerde der Arbeitgeberin gegen den Beschluß des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 12. August 1998 - 2 TaBV 97/97 - wird zurückgewiesen.
Gründe
A. Die Beteiligten streiten darüber, ob der Betriebsrat (Beteiligter zu 1) mitzubestimmen hat, wenn die Arbeitgeberin eine Tariferhöhung mit übertariflichen Zulagen verrechnet, nachdem sie eine in derselben Tarifrunde vereinbarte Pauschalregelung für drei vorhergehende Monate ohne Anrechnung auf übertarifliche Zulagen an die Arbeitnehmer weitergegeben hat.
Die Arbeitgeberin (Beteiligte zu 2) fertigt und vertreibt Industrie-Sauger und beschäftigt ca. 97 Mitarbeiter. Mit Wirkung ab dem 1. Juni 1994 schloß sie mit der IG Metall-Verwaltungsstelle Osnabrück einen Anerkennungs-Tarifvertrag. Dieser hat ua folgenden Inhalt:
"§ 2
Die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Tarifvertrages geltenden Tarifverträge für Arbeiter, Angestellte und Auszubildende der Metallindustrie für das Tarifgebiet Osnabrück-Emsland, abgeschlossen zwischen der Industriegewerkschaft Metall, Bezirksleitungen Dortmund und Hannover sowie Verwaltungsstellen Osnabrück und Rheine und dem Verband der Metallindustrie Osnabrück-Emsland e.V., sind Bestandteil dieses Tarifvertrages, soweit sie in der Anlage 1, die Teil dieses Tarifvertrages ist, aufgeführt sind.
Ihre Inhalte gelten für die unter dem Geltungsbereich (§ 1) aufgeführten Arbeitnehmer.
§ 3
...
Zwischen den Parteien finden alle Abkommen, Zusatzabkommen, Vertragsänderungen und -ergänzungen Anwendung, die zwischen den Parteien der mit diesem Vertrag in Bezug genommenen Tarifverträge zu den unter § 2 in Anlage 1 genannten Tarifverträgen abgeschlossen wurden.
...
§ 4
Die in Bezug genommenen Tarifverträge gelten in der jeweils gültigen Fassung und mit dem jeweils gültigen Rechtsstatus.
§ 5
Werden zwischen der IG Metall und dem jeweils zuständigen Arbeitgeberverband neue Tarifverträge abgeschlossen, die in der Anlage 1 aufgeführt sind, so erhalten diese erst ihre Gültigkeit, wenn sie jeweils mit dem neuesten Datum in die Anlage aufgenommen werden."
In der Anlage 1 werden ua. das Lohnabkommen für die gewerblichen Arbeitnehmer sowie das Gehaltsabkommen für die Angestellten in Bezug genommen. Mit den Lohn- und Gehaltsabkommen vom 13. Dezember 1996 vereinbarten der Verband der Metall- und Elektroindustrie Osnabrück-Emsland e.V. und die Industriegewerkschaft Metall, Bezirksleitung Hannover, Verwaltungsstellen Osnabrück und Rheine eine Änderung dieser Abkommen. Diese erlangten gemäß § 5 des Anerkennungs-Tarifvertrages aufgrund der wechselseitigen Schreiben der IG Metall, Verwaltungsstelle Osnabrück, und der Arbeitgeberin vom 5. Februar 1997 und vom 21. Februar 1997 Gültigkeit für die Arbeitgeberin.
In dem Gehaltsabkommen für die Angestellten vom 13. Dezember 1996 ist ua. geregelt:
"§ 2
Gehaltsregelung
1. Mit Wirkung vom 1. Januar 1997 werden die Tarifgehälter der Angestellten um 1,5 %, mit Wirkung vom 1. April 1998 um 2,5 % erhöht und, wie aus den anliegenden Gehaltstafeln (Bestandteil dieses Abkommens) ersichtlich, neu festgesetzt.
...
§ 3
Pauschalenregelung
Für die Monate Januar, Februar und März 1997 erhalten die Angestellten anstelle der prozentualen Erhöhung gemäß § 2 einen Pauschalbetrag in Höhe von insgesamt 200,00 DM brutto, die Auszubildenden in Höhe von insgesamt 60,00 DM brutto nach Maßgabe folgender Bestimmungen:
Den Pauschalbetrag erhalten Angestellte in voller Höhe, wenn sie im Januar 1997 und/oder Februar 1997 und/oder März 1997 Vollzeitbeschäftigte waren und einen vollen Anspruch auf Gehalt, auf Fortzahlung des regelmäßigen Arbeitsverdienstes, auf Urlaubsentgelt oder auf Kurzarbeitergeld hatten.
...
Damit sind alle Ansprüche abgegolten, die sich aus der Erhöhung des Tarifgehaltes gemäß § 2 für die Monate Januar, Februar und März 1997 ergeben.
Der Pauschalbetrag wird mit der Abrechnung für den Monat Februar ausbezahlt.
Sofern die Monate Januar 1997 und/oder Februar 1997 und/oder März 1997 Referenzzeitraum für Durchschnittsberechnungen aller Art sind, ist statt des Pauschalbetrages eine prozentuale Erhöhung von 1,5 % zugrundezulegen."
Entsprechende Regelungen enthält das Lohnabkommen vom 13. Dezember 1996 für die gewerblichen Arbeitnehmer. In den Anlagen zu dem Gehaltsabkommen und dem Lohnabkommen befinden sich jeweils eine Gehaltstafel "ab 1. April 1997" und "ab 1. April 1998" sowie entsprechende Monatsgrundentgelttabellen.
Die Arbeitgeberin gewährte allen Beschäftigten für die Monate Januar bis März 1997 die Pauschale in Höhe von 200,00 DM, ohne sie bei den Arbeitnehmern, die übertarifliche Zulagen erhalten, zu verrechnen.
Für die Zeit ab 1. April 1997 rechnete die Arbeitgeberin die Tariferhöhung von 1,5 % vollständig auf die übertariflichen Zulagen an. Mit den Lohn- und Gehaltsmitteilungen für April 1997 teilte die Arbeitgeberin den betroffenen Arbeitnehmern dazu folgendes mit:
"...
Mit dem 1.04.1997 trat eine Tariferhöhung in Kraft. ... Aufgrund der derzeitigen Auftragslage und der damit verbundenen schwierigen Kostensituation sind wir leider gezwungen, die Tariferhöhung in Höhe von ... vollständig auf die widerrufliche Zulage anzurechnen."
Von der Anrechnung sind 32 oder 33 Arbeitnehmer betroffen, die übertarifliche Zulagen erhalten.
Der Betriebsrat hat die Anrechnung für mitbestimmungspflichtig gehalten. Er hat geltend gemacht, die Pauschalregelung und die Tariferhöhung zum 1. April 1997 stellten die Umsetzung einer einheitlichen Tariflohnerhöhung dar, denn die Pauschale für die Monate Januar bis März 1997 sei nach den tariflichen Regelungen anstelle der vereinbarten prozentualen Erhöhung gezahlt worden. Da die Arbeitgeberin die Pauschale ungekürzt geleistet und eine Anrechnung auf übertarifliche Vertragsbestandteile erst ab April 1997 vorgenommen habe, liege eine teilweise und damit mitbestimmungspflichtige Anrechnung vor. Durch sie seien die Verteilungsgrundsätze verändert worden. Bezogen auf die Gesamterhöhung von 1,5 % für den Zeitraum vom 1. Januar 1997 bis zum 1. April 1998 habe wegen der lediglich teilweisen Anrechnung ein Gestaltungsspielraum für die Arbeitgeberin innerhalb des vorgesehenen Dotierungsrahmens bestanden.
Der Betriebsrat hat beantragt
festzustellen, daß die Anrechnung der übertariflichen Zulage auf die zum 1. April 1997 wirksam gewordene Tariflohnerhöhung mitbestimmungspflichtig ist.
Die Arbeitgeberin hat beantragt, den Antrag abzuweisen.
Sie hat gemeint, die Tariferhöhung sei in zwei getrennten Stufen erfolgt, und zwar zum einen durch die Pauschalregelung und zum anderen durch die spätere lineare Erhöhung um 1,5 % ab 1. April 1997. Sie habe daher mit Beginn einer jeden Stufe zu entscheiden gehabt, ob und in welchem Umfang die betreffende Tariferhöhung mit übertariflichen Zulagen verrechnet werden sollte. Da sie die erste Stufe (Pauschale) ohne Anrechnung vollständig an die Arbeitnehmer weitergegeben und die spätere zweite Stufe mit freiwilligen, übertariflichen Zulagen vollständig verrechnet habe, bestehe kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats.
Das Arbeitsgericht hat dem Antrag des Betriebsrats stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Beschwerde der Arbeitgeberin zurückgewiesen. Mit ihrer vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt die Arbeitgeberin die Zurückweisung des Antrags weiter. Der Betriebsrat bittet, die Rechtsbeschwerde zurückzuweisen.
B. Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg.
I. Der Antrag des Betriebsrats ist zulässig.
Das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse besteht. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats kann der Streit der Betriebspartner über Bestand, Inhalt und Umfang eines Mitbestimmungsrechts im Wege eines allgemeinen Feststellungsverfahrens geklärt werden (Senatsbeschluß 15. Dezember 1998 - 1 ABR 9/98 - AP BetrVG 1972 § 80 Nr. 56 = EzA BetrVG 1972 § 80 Nr. 43, zu B I 3 der Gründe; Senatsbeschluß 22. April 1997 - 1 ABR 77/96 - AP BetrVG 1972 § 87 Lohngestaltung Nr. 88 = EzA BetrVG 1972 § 87 Betriebliche Lohngestaltung Nr. 60, zu B I der Gründe). Ein Rechtsschutzinteresse ist auch insofern gegeben, als die Arbeitgeberin die Anrechnung der Tariferhöhung auf die übertariflichen Zulagen ab dem 1. April 1997 bereits tatsächlich vollzogen hat. Dem Mitbestimmungsrecht kann bei betriebsverfassungswidrigen Zahlungen auch noch nachträglich mit Wirkung für die Vergangenheit durch eine mitbestimmte Entscheidung und ggf. durch Nachzahlungen Rechnung getragen werden (Senatsbeschluß 14. Februar 1995 - 1 ABR 41/94 - AP BetrVG 1972 § 87 Lohngestaltung Nr. 72 = EzA BetrVG 1972 § 87 Betriebliche Lohngestaltung Nr. 49, zu B II 1 b der Gründe; Senatsbeschluß 17. Januar 1995 - 1 ABR 19/94 - BAGE 79, 96, zu B I der Gründe; Senatsbeschluß 14. Juni 1994 - 1 ABR 63/93 - BAGE 77, 86, 89, zu B I der Gründe).
II. Der Antrag des Betriebsrats ist auch begründet.
Zutreffend haben die Vorinstanzen ein Mitbestimmungsrecht bei der Anrechnung der Tariferhöhung auf die übertariflichen Zulagen angenommen.
1. Nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG besteht ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei der Anrechnung einer Tariferhöhung auf übertarifliche Zulagen dann, wenn es sich um eine generelle Maßnahme handelt und sich durch die Anrechnung die bisher bestehenden Verteilungsrelationen ändern (BAG 26. Mai 1998 - 1 AZR 704/97 - BAGE 89, 31, zu II 2 a der Gründe). Diese Voraussetzung liegt vor, wenn sich das Verhältnis der Zulagenbeträge zueinander verschiebt.
Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats ist weiter davon abhängig, daß für eine generelle Regelung der Anrechnung innerhalb des vom Arbeitgeber mitbestimmungsfrei vorgegebenen Dotierungsrahmens ein Gestaltungsspielraum verbleibt. Die Anrechnung ist mitbestimmungsfrei, wenn sie das Zulagenvolumen völlig aufzehrt; gleiches gilt, wenn die Tariferhöhung im Rahmen des rechtlich und tatsächlich Möglichen vollständig und gleichmäßig auf die übertarifliche Zulage angerechnet wird (BAG Großer Senat 3. Dezember 1991 - GS 2/90 - BAGE 69, 134, 164 ff., zu C III 4 bis 6 der Gründe; ständige Senatsrechtsprechung, zuletzt Beschluß 26. Mai 1998 - 1 AZR 704/97 - aaO; Senatsbeschluß 22. April 1997 - 1 ABR 77/96 - aaO, zu B II 1 der Gründe; Senatsbeschluß 14. Februar 1995 - 1 ABR 41/94 - aaO, zu B II 2 a der Gründe).
2. Nach diesen Grundsätzen war die Anrechnung hier mitbestimmungspflichtig.
a) Da die Anrechnung 32 oder 33 Arbeitnehmer im Betrieb der Arbeitgeberin betraf, handelt es sich um eine generelle Maßnahme. Die Anrechnung der Tariferhöhung auf eine Zulage, die an eine Vielzahl von Arbeitnehmern gezahlt wird, beruht auf einer generellen Entscheidung des Arbeitgebers, die individuelle Besonderheiten außer Betracht läßt und damit die Strukturformen des Entgelts betrifft (Senatsurteil 7. Februar 1996 - 1 AZR 657/95 - BAGE 82, 47, zu II 2 a der Gründe).
b) Entgegen der Auffassung der Arbeitgeberin war die Anrechnung nicht vollständig.
Zutreffend hat das Landesarbeitsgericht angenommen, daß im Hinblick auf die Zeitpunkte 1. Januar 1997 und 1. April 1997 eine einheitliche Tariferhöhung vorliegt. Soweit in den Tarifverträgen für die Monate Januar, Februar und März 1997 die Zahlung eines Pauschalbetrags von insgesamt 200,-- DM brutto vorgesehen ist, kann das nicht als eigenständige Tariferhöhung angesehen werden. Das folgt zum einen aus der ausdrücklichen tarifvertraglichen Regelung, nach der die Tarifgehälter bereits ab 1. Januar 1997 um 1,5 % erhöht werden und für die Monate Januar, Februar und März 1997 die Pauschalzahlung anstelle dieser prozentualen Erhöhung erfolgen soll. Diese Pauschalierung mag ihren Grund darin haben, daß die Tarifvertragsverhandlungen im März abgeschlossen wurden und die Pauschalzahlungen einen vereinfachten Zahlungsmodus für den zurückliegenden Zeitraum darstellen. Für eine einheitliche Tariferhöhung spricht auch die Tarifbestimmung, nach der dann, wenn die Monate Januar bis März 1997 Referenzzeitraum für Durchschnittsberechnungen aller Art sind, statt des Pauschalbetrags eine prozentuale Erhöhung von 1,5 % zugrunde zu legen ist. Bestätigend kommt hinzu, daß nach den Tarifverträgen mit dem Pauschalbetrag ausdrücklich alle Ansprüche abgegolten sind, die sich für die Monate Januar, Februar und März 1997 aus der Tariferhöhung ergeben. Diese Bestimmung wäre unsinnig, wenn die Tariferhöhung um 1,5 %, wie die Arbeitgeberin meint, als eigenständige Maßnahme erst zum 1. April 1997 vorgenommen worden wäre. Dies alles zeigt, daß die Tarifvertragsparteien trotz Aufspaltung der Tariferhöhung in eine Pauschalzahlung für die Monate Januar bis März 1997 und in die lineare Erhöhung der Gehälter um 1,5 % ab April 1997 von einer einheitlichen Erhöhung der Tarifgehälter ausgegangen sind. Die Pauschalzahlung ist danach lediglich eine besondere Ausgestaltung der vereinbarten prozentualen Erhöhung. Die Arbeitgeberin hat diese einheitliche Vergütungserhöhung lediglich teilweise auf die übertariflichen Zulagen angerechnet, indem sie die Pauschalzahlung für das erste Quartal 1997 voll weitergegeben und erst ab dem 1. April 1997 die gesamte prozentuale Tariferhöhung mit den übertariflichen Zulagen verrechnet hat.
c) Der Betriebsrat hat nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG bei der teilweisen Anrechnung der Tariferhöhung auf die übertariflichen Zulagen mitzubestimmen, da bei dieser Vorgehensweise der Arbeitgeberin Raum für eine andere Verteilungsentscheidung bleibt. Auch das Verhältnis der gezahlten Zulagen zueinander hat sich aufgrund der Anrechnung geändert, wie das Landesarbeitsgericht unangefochten festgestellt hat.
d) Soweit die Arbeitgeberin zur Motivation ihrer Entscheidung über die Anrechnung erst ab 1. April 1997, also zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens der linearen Tariferhöhung, vorträgt, damit sollten die Gehälter der unteren Gehaltsgruppen im Vergleich zu denjenigen der höheren Gehaltsgruppen überproportional ansteigen, führt dies zu keiner anderen Beurteilung. Im Gegenteil spricht der Zusammenhang der - anrechnungsfreien - überproportionalen Anhebung der unteren Gehaltsgruppen durch die Pauschalzahlung für das erste Quartal 1997 mit der Anrechnung der linearen Tariferhöhung ab 1. April 1997 für die Annahme einer einheitlichen Anrechnungsentscheidung für den gesamten Zeitraum vom 1. Januar 1997.
Wißmann
Rost Hauck
Münzer
Brunner
Fundstellen
NZA 2000, 898 |
AuA 2000, 549 |