Entscheidungsstichwort (Thema)
Überwachungsrechte des Betriebsrats
Leitsatz (redaktionell)
1. Arbeitgeber und Betriebsrat, die über die richtige Auslegung eines Tarifvertrags streiten (hier § 2 des Tarifvertrags über die Einführung und Anwendung rechnergesteuerter Textsysteme in der Druckindustrie vom 20. März 1978), können die Rechtsfrage nicht losgelöst von einzelnen Rechtsfolgen in einem Beschlußverfahren klären lassen.
2. Die allgemeine Überwachungsaufgabe des Betriebsrats nach § 80 Abs 1 Nr 1 BetrVG rechtfertigt kein Beschlußverfahren, in dem von den allgemeinen Verfahrensvoraussetzungen des § 253 Abs 2 Nr 2 und des § 256 Abs 1 ZPO abgesehen werden könnte.
Normenkette
ZPO § 256 Abs. 1; ArbGG § 80 Abs. 1; ZPO § 253 Abs. 2 Nr. 2; ArbGG § 2a Abs. 1 Nr. 1; BetrVG § 80 Abs. 1 Nr. 1
Verfahrensgang
LAG Düsseldorf (Entscheidung vom 18.10.1984; Aktenzeichen 13 TaBV 76/84) |
ArbG Wuppertal (Entscheidung vom 28.06.1984; Aktenzeichen 4 (2) BV 43/83) |
Gründe
A. Arbeitgeber und Betriebsrat streiten darüber, wie § 2 des Tarifvertrags über die Einführung und Anwendung rechnergesteuerter Textsysteme vom 20. März 1978 (RTS-TV) auszulegen ist, und ob der Arbeitgeber diesen Tarifvertrag in der Vergangenheit bereits verletzt hat.
Der Arbeitgeber (Antragsgegner) betreibt eine Druckerei, in der eine Tageszeitung gesetzt und gedruckt wird. Seit September 1983 werden die Artikel der Redaktion dieser Tageszeitung nicht mehr blockweise ausgegeben und von den Textmetteuren zu einer Seite zusammengefügt, sondern rechnergesteuert bereits am Bildschirm zusammengestellt. Bevor die Seite fototechnisch auf die Druckplatte übertragen wird, ergänzen die Metteure die vorbereitete Seite durch Einkleben der Seitenköpfe, Bilder und der plazierten Anzeigen.
Nach Ansicht des Betriebsrats (Antragsteller) verstößt diese Handhabung des elektronischen Seitenumbruchs am Bildschirm gegen § 2 Abs. 1 des genannten Tarifvertrags. Der Arbeitgeber hätte die Textmetteure mit Umbrucharbeiten am Bildschirm beauftragen müssen. Entsprechendes gelte auch für den elektronischen Umbruch der Anzeigenseite. Die Tatsache, daß der Arbeitgeber den Tarifvertrag verletzt habe, könne der Betriebsrat nach § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG rügen und gerichtlich feststellen lassen.
Der Betriebsrat hat beantragt
festzustellen, daß der Arbeitgeber durch
die Nichtübertragung des EDV- und bild-
schirmgestützten Ganzseitenumbruchs und
des Anzeigenseitenumbruchs auf geeignete
Fachkräfte der Druckindustrie gegen § 2
(Arbeitsplatzsicherung) Abs. 1 e) und b)
des Tarifvertrags über Einführung und An-
wendung rechnergesteuerter Textsysteme vom
20. März 1983 verstößt.
Der Arbeitgeber hat beantragt, diesen Antrag abzuweisen. Er hat die Auffassung vertreten, der Antrag sei nicht zulässig, jedenfalls nicht begründet. Durch das rechnergesteuerte Textsystem seien Umbrucharbeiten ersatzlos weggefallen. Diese Arbeiten könnten daher den Textmetteuren nicht mehr übertragen werden. § 2 RTS-TV wolle eine weitere technische Entwicklung nicht aufhalten.
Das Arbeitsgericht hat den Antrag als unzulässig abgewiesen. Die Beschwerde des Betriebsrats ist ohne Erfolg geblieben. Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt der Betriebsrat seinen Antrag weiter.
B. Die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats ist nicht begründet. Das Landesarbeitsgericht hat den Antrag im Ergebnis zu Recht als unzulässig abgewiesen.
I. Als Feststellungsantrag ist der Antrag des Betriebsrats unzulässig.
1. Seinem Wortlaut nach erfüllt er nicht die Voraussetzungen des § 256 Abs. 1 ZPO, der nach der ständigen Rechtsprechung des Senats auf das Beschlußverfahren entsprechend anzuwenden ist (Beschluß des Senats vom 10. Juni 1986 - 1 ABR 61/84 - mit weiteren Nachweisen, zur Veröffentlichung bestimmt). Nach § 256 Abs. 1 ZPO kann Klage erhoben werden auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses. Unter einem solchen Rechtsverhältnis ist nicht nur die Gesamtheit der Rechtsbeziehungen der Beteiligten zueinander zu verstehen. Festgestellt werden können auch das Bestehen oder Nichtbestehen einzelner Ansprüche (Urteil des Senats vom 12. September 1984 - 1 AZR 342/83 - BAGE 46, 322, 340 = AP Nr. 81 zu Art. 9 GG Arbeitskampf, zu A IV 1 der Gründe; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 45. Aufl., § 256 Anm. 2 I A). Wenn festgestellt werden soll, daß ein Arbeitgeber durch bestimmte Maßnahmen gegen einen Tarifvertrag verstößt, geht es nicht um die Feststellung eines Rechtsverhältnisses, sondern um die Feststellung einer Tatsache.
2. Auch wenn der Antrag des Betriebsrats dahin ausgelegt wird, daß dieser die Feststellung eines Anspruchs begehrt, ist er nicht zulässig. Die Feststellung, daß der Arbeitgeber verpflichtet ist, Metteure mit dem EDV- und bildschirmgestützten Ganzseitenumbruch und dem Anzeigenseitenumbruch zu beschäftigen, wäre zwar die Feststellung eines Rechtsverhältnisses. Dieses Rechtsverhältnis kann zwischen dem Arbeitgeber und dem Betriebsrat, aber auch zwischen dem Arbeitgeber und den Metteuren bestehen.
a) Nach den Erklärungen des Verfahrensbevollmächtigten des Betriebsrats während der mündlichen Anhörung vor dem Senat geht es dem Betriebsrat in diesem Verfahren nicht um die Feststellung eigener betriebsverfassungsrechtlicher Ansprüche gegenüber dem Arbeitgeber. Darin unterscheidet sich der Antrag des Betriebsrats von dem Antrag des Betriebsrats, der der bereits genannten Entscheidung des Senats vom 10. Juni 1986 zugrunde lag. Der Senat hatte einen entsprechenden Antrag auf Feststellung eines betriebsverfassungsrechtlichen Anspruchs zwar als zulässig angesehen. Er hat einen solchen auf § 80 Abs. 1 BetrVG gestützten Antrag jedoch als unbegründet abgewiesen. Auf dem Hintergrund dieser Entscheidung ist die Erklärung des Verfahrensbevollmächtigten des Betriebsrats zu verstehen: Er wollte die Abweisung eines entsprechenden Feststellungsantrags als unbegründet vermeiden.
b) Die Feststellung eines Rechtsverhältnisses zwischen dem Arbeitgeber und den Arbeitnehmern kann der Betriebsrat nicht im Beschlußverfahren verlangen. Nach § 80 Abs. 1 ArbGG findet das Beschlußverfahren nur in den in § 2 a ArbGG bezeichneten Fällen Anwendung. Im vorliegenden Fall könnte sich die Zuständigkeit nur aus § 2 a Abs. 1 Nr. 1 ArbGG ergeben. Danach sind die Gerichte für Arbeitssachen zuständig für Angelegenheiten aus dem Betriebsverfassungsgesetz. Die Feststellung individual-rechtlicher Ansprüche der Arbeitnehmer gegen den Arbeitgeber ist keine Angelegenheit aus dem Betriebsverfassungsgesetz.
II. Ein Beschlußverfahren, in dem der Betriebsrat die hier streitige Rechtsfrage unabhängig von den allgemeinen Verfahrensvoraussetzungen (vgl. insbesondere § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO und § 256 ZPO) klären lassen könnte, ist weder nach dem Betriebsverfassungsgesetz noch nach dem Arbeitsgerichtsgesetz vorgesehen.
1. Der Betriebsrat meint, der Konflikt zwischen ihm und dem Arbeitgeber über die Auslegung des Tarifvertrags müsse in einem gerichtlichen Verfahren beigelegt werden können. Das Betriebsverfassungsgesetz sehe in allen Fällen eines Konflikts zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat eine Lösung des Streits vor, der entweder Rechts- oder Regelungsstreit sei. Hier gehe es um Rechtsfragen. Folglich müsse das Arbeitsgericht entscheiden. Eine Klärung der Streitfrage im Individualrechtsstreit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer sei nicht möglich.
2. Mit diesen Erwägungen lassen sich - über die allgemeinen verfahrensrechtlichen Voraussetzungen hinaus - keine Beschlußverfahren rechtfertigen, in denen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat geklärt werden soll, wie ein auf die Arbeitnehmer des Betriebs anzuwendender Tarifvertrag auszulegen ist.
a) Nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 ArbGG haben die Tarifvertragsparteien die Möglichkeit, eine Entscheidung des Arbeitsgerichts über das Bestehen oder Nichtbestehen von Tarifverträgen herbeizuführen. Gegenstand eines solchen Rechtsstreits kann auch die Frage sein, welchen Inhalt ein Tarifvertrag hat. Dieser Streit kann seine Ursache in einer unterschiedlichen Auslegung einzelner Tarifbestimmungen haben (vgl. BAGE 5, 107 = AP Nr. 1 zu § 8 TVG; BAGE 17, 95 = AP Nr. 4 zu § 8 TVG; Grunsky, ArbGG, 4. Aufl., § 2 Rz 59). Daraus folgt: Streitigkeiten über die Auslegung von Tarifverträgen sollen in einem Verfahren zwischen den Tarifvertragsparteien geklärt werden. Entscheidungen in diesen Verfahren haben eine über die Rechtskraft in einem gewöhnlichen Urteilsverfahren hinausgehende Wirkung. Die Entscheidungen in diesen Rechtsstreitigkeiten sind für weitere Rechtsstreitigkeiten zwischen tarifgebundenen Parteien sowie zwischen diesen und Dritten für alle Gerichte und Schiedsgerichte bindend (§ 9 TVG). Für Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat über die Auslegung von Tarifverträgen gibt es keine entsprechenden Bestimmungen. Es bliebe mithin offen, welche Wirkung ein Erkenntnis in einem von dem Betriebsrat gewünschten Beschlußverfahren hätte.
Der Betriebsrat, dem die abstrakte Klärung des Inhalts eines Tarifvertrags in einem besonderen Beschlußverfahren nicht möglich ist, wird - entgegen der in diesem Verfahren vorgetragenen Auffassung - nicht zum "zahnlosen Löwen", der zwar formell das Recht zum Beißen habe, dem das Gebiß jedoch verweigert wird. Der Betriebsrat kann die von ihm für richtig gehaltene Auslegung des Tarifvertrags den innerbetrieblichen Entscheidungen, an denen er zu beteiligen ist, jeweils zugrunde legen. Das gilt etwa für Eingruppierungen, Versetzungen, Kündigungen, aber auch für die Ausgestaltung von Sozialplänen u.a.. So ging es in dem Verfahren, das der Entscheidung des Senats vom 13. September 1983 zugrunde lag, um eine Versetzung, in dem Verfahren, das durch Beschluß vom 14. Februar 1984 beendet wurde, um eine Umgruppierung (vgl. Beschluß vom 13. September 1983 - 1 ABR 69/81 - BAGE 44, 141 = AP Nr. 1 zu § 1 TVG Tarifverträge: Druckindustrie; Beschluß vom 14. Februar 1984 - 1 ABR 3/82 - AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Druckindustrie). Darüber hinaus kann der Betriebsrat eine nach seiner Auffassung unrichtige Anwendung des Tarifvertrags beim Arbeitgeber beanstanden und auf Abhilfe drängen (Beschluß des Senats vom 10. Juni 1986 - 1 ABR 59/84 -, zu B IV 2 der Gründe, mit weiteren Nachweisen, zur Veröffentlichung bestimmt).
b) Schließlich kann der Inhalt von Rechtsnormen des Tarifvertrags, die den Inhalt, den Abschluß oder die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen, auch Gegenstand von Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sein. Wird die Rechtsfrage häufiger streitig, kann das zu einer Vielzahl von Verfahren führen. Diesen praktischen Schwierigkeiten muß jedoch auf andere Weise Rechnung getragen werden, etwa durch Einleitung und Durchführung von Musterprozessen. Der Individualrechtsschutz des einzelnen Arbeitnehmers kann jedenfalls nicht ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung dem Betriebsrat übertragen werden (vgl. Beschluß des Senats vom 10. Juni 1986, aaO). "Musterprozesse" zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat über individual-rechtliche Streitigkeiten mögen zwar unter bestimmten Voraussetzungen zweckmäßig sein; über die Einführung dieser Verfahren hat jedoch der Gesetzgeber zu entscheiden. Zur Zeit besteht keine solche Möglichkeit.
Dr. Kissel Dr. Heither Matthes
Schneider Dr. Gentz
Fundstellen
Haufe-Index 437049 |
BB 1987, 1880 |
BB 1987, 1880-1881 (LT1-2) |
DB 1987, 1438-1439 (LT1-2) |
CR 1988, 43-44 (ST1-2) |
NZA 1987, 674-675 (LT1-2) |
RdA 1987, 254 |
AP § 80 BetrVG 1972 (LT1-2), Nr 28 |
AR-Blattei, Arbeitsgerichtsbarkeit XII Entsch 143 (LT1-2) |
AR-Blattei, ES 1550.9 Nr 64 (LT1-2) |
AR-Blattei, ES 160.12 Nr 143 (LT1-2) |
AR-Blattei, Tarifvertrag IX Entsch 64 (LT1-2) |
EzA § 80 BetrVG 1972, Nr 29 (LT1-2) |
RDV 1987, 140-142 (LT1-2) |