Orientierungssatz

(Verfassungswidrigkeit des § 622 Abs 2 Satz 2 Halbsatz 2 BGB)

Parallelsache zu BAG Beschluß vom 28.2.1985 2 AZR 403/83.

 

Verfahrensgang

LAG Hamm (Entscheidung vom 09.05.1984; Aktenzeichen 2 Sa 190/84)

ArbG Siegen (Entscheidung vom 07.12.1983; Aktenzeichen 2 Ca 2090/83)

 

Gründe

I. Der am 30. Oktober 1952 geborene Kläger ist seit dem 1. August 1967, zunächst als Auszubildender und im Anschluß daran als Kraftfahrzeugschlosser, mit einem Stundenlohn von zuletzt 14,34 DM brutto bei der Beklagten, einem Kraftfahrzeugbetrieb, beschäftigt. Mit Schreiben vom 28. Oktober 1983 hat die Beklagte dem Kläger das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 11. November 1983 gekündigt.

Der nicht tarifgebundene Kläger, der sich mit der vorliegenden Klage gegen eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 11. November 1983 wendet, ist der Meinung, daß die Beklagte auch ohne ausdrückliche vertragliche Vereinbarung der üblichen tariflichen Regelung nach § 9 des Manteltarifvertrages für das Kraftfahrzeuggewerbe im Land Nordrhein-Westfalen, gültig ab 1. Januar 1980 (MTV 1980), wegen seiner mehr als fünfjährigen Betriebszugehörigkeit eine Kündigungsfrist von einem Monat zum Monatsende hätte einhalten müssen. Im übrigen sei auch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16. November 1982 (BVerfGE 62, 256 = AP Nr. 16 zu § 622 BGB) § 622 Abs. 2 Halbsatz 2 BGB verfassungskonform dahin auszulegen, daß auch bei Arbeitern die Vollendung des 25. Lebensjahres bei der Berechnung der Dauer der Betriebszugehörigkeit maßgeblich ist.

Der Kläger hat daher beantragt festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 28. Oktober 1983 nicht am 11. November 1983 beendet worden ist, sondern bis zum 30. November 1983 fortbestanden hat.

Die Beklagte hat Klagabweisung beantragt und geltend gemacht, die Vorschrift des § 9 MTV finde wegen fehlender Tarifgebundenheit keine Anwendung. Soweit sich der Kläger auf das Bundesverfassungsgericht berufe, habe dieses in seiner Entscheidung zu § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB nicht angenommen, diese Vorschrift sei so zu lesen, als stünde dort "vor Vollendung des 25. Lebensjahres". Vielmehr habe es festgestellt, daß dem Gesetzgeber mehrere Wege zur Beseitigung der Ungleichbehandlung offenstünden. Die durch die Verfassungswidrigkeit dieser gesetzlichen Vorschrift entstandene Lücke könne daher nur der Gesetzgeber selbst schließen, so daß entsprechende Prozesse bis zur gesetzlichen Neuregelung auszusetzen seien.

Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit der zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihr Ziel der Klagabweisung weiter und beantragt hilfsweise die Aussetzung des Rechtsstreits bis zur Neuregelung des § 622 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 BGB.

II. Der Rechtsstreit war bis zum Inkrafttreten einer gesetzlichen Neuregelung des § 622 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 BGB auszusetzen. Es kommt darauf an, welche noch zu schaffende gesetzliche Regelung diese verfassungswidrige Vorschrift ersetzt, weil die Kündigungsregelung des § 9 MTV 1980 nicht zugunsten des Klägers eingreift.

1. Nach den für den Senat gemäß § 561 Abs. 2 ZPO bindenden Feststellungen des Landesarbeitsgerichts ist der Kläger nicht gewerkschaftlich organisiert, insbesondere nicht Mitglied der IG-Metall, die u. a. den MTV 1980 abgeschlossen hat. Wegen fehlender Tarifbindung (§ 3 Abs. 1 TVG) kann sich der Kläger deswegen nicht auf § 9 Nr. 3 und Nr. 4 MTV 1980 berufen. Es handelt sich insoweit nicht um eine tarifvertragliche Rechtsnorm über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen i. S. des § 3 Abs. 2 TVG, deren Anwendbarkeit allein von der Tarifgebundenheit des Arbeitgebers abhängt. Der MTV 1980 ist auch nicht für allgemeinverbindlich erklärt (§ 5 TVG) oder von den Parteien einzelvertraglich in Bezug genommen worden. Soweit der Kläger in dem MTV 1980 einen Tarifvertrag zugunsten Dritter sieht und in diesem Zusammenhang auf die Formulierung verweist, der Tarifvertrag gelte "für alle Arbeitnehmer" und begünstige daher auch die Arbeitnehmer, die keiner tarifschließenden Gewerkschaft angehörten, verwechselt er den persönlichen Geltungsbereich eines Tarifvertrages mit der Tarifbindung. Er verkennt außerdem, daß die Tarifvertragsparteien im Rahmen ihrer Tarifmacht nur im schuldrechtlichen Teil des Tarifvertrages, d. h. nur mit schuldrechtlicher Wirkung zwischen den vertragschließenden Parteien, Vereinbarungen zugunsten Dritter treffen können (vgl. BAG 20, 175, 194 f. = AP Nr. 13 zu Art. 9 GG). Rechtsnormen, die den Inhalt, den Abschluß und die Beendigung des Arbeitsverhältnisses betreffen, können im normativen Teil eines Tarifvertrages nur für die Tarifgebundenen i. S. des § 3 TVG getroffen werden.

Der Kläger kann die Anwendbarkeit des § 9 MTV 1980 schließlich auch nicht aus dem allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz herleiten . Die Differenzierung zwischen organisierten und nicht organisierten Arbeitnehmern ist ein wesentliches Element der gesetzlichen Ausgestaltung des Tarifvertragsrechts; sie ist weder willkürlich noch über den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz korrigierbar (vgl. BAG Urteil vom 20. Juli 1960 - 4 AZR 199/59 - AP Nr. 7 zu § 4 TVG).

2. Auch aus der gegenwärtigen gesetzlichen Rechtslage ist entgegen der vom Landesarbeitsgericht vertretenen Auffassung nicht herzuleiten, daß für die Berechnung der Dauer der nach § 622 Abs. 2 BGB maßgeblichen Betriebszugehörigkeit des Klägers auf die Vollendung des 25. Lebensjahres abzustellen ist.

a) Nach dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 16. November 1982 (aaO) ist es mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar, bei der Berechnung der für die verlängerten Kündigungsfristen maßgeblichen Beschäftigungsdauer eines Arbeiters Zeiten nicht zu berücksichtigen, die vor der Vollendung des 35. Lebensjahres liegen, während bei einem Angestellten bereits Zeiten nach Vollendung des 25. Lebensjahres mitgerechnet werden.

b) Im Schrifttum und in der Rechtsprechung der Instanzgerichte ist streitig, welche Auswirkungen diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf Bestandsstreitigkeiten zwischen Arbeitgebern und gewerblichen Arbeitnehmern hat, die nach Vollendung des 25. Lebensjahres dem Betrieb weitere fünf Jahre angehört haben und dann wirksam ordentlich gekündigt worden sind oder bei denen eine der Parteien im Anschluß an eine unwirksame Kündigung nach § 9 KSchG die Auflösung des Arbeitsverhältnisses beantragt. Es werden insoweit drei unterschiedliche Lösungen für verfassungskonform gehalten.

aa) Nach der u. a. von den Landesarbeitsgerichten Düsseldorf (DB 1983, 2042), Schleswig-Holstein (DB 1984, 1482), Berlin (EzA § 622 n. F. BGB Nr. 19 = NZA 1984, 359) und im Schrifttum von Kranz (NZA 1984, 348 ff.) vertretenen Auffassung ist die verfassungswidrige Vorschrift des § 622 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 BGB bis zu einer gesetzlichen Neuregelung unverändert weiter anzuwenden. Das wird damit begründet, bereits in der Unvereinbarkeitsfeststellung des Bundesverfassungsgerichts komme zum Ausdruck, daß die für unvereinbar gehaltene Bestimmung bis zu einer Novellierung weitergelten müsse (Kranz, aaO, 349). Es handele sich nur um eine verfassungswidrige Normrelation und nicht um eine als solche verfassungswidrige Norm. Vor allem spreche für eine Weiteranwendung das Verfassungsprinzip der Rechtssicherheit. In der Übergangszeit bis zur gesetzlichen Neuregelung dürfe kein Zustand entstehen, der von der verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt sei als der bisherige Zustand. Eine nicht voll verfassungsmäßige gesetzliche Regelung sei schließlich immer noch besser als das Fehlen einer gesetzlichen Regelung überhaupt.

bb) Die entgegengesetzte Meinung geht dahin, schon vor einer gesetzlichen Regelung seien wie bei Angestellten auch bei Arbeitern die Zeiten der Betriebszugehörigkeit nach der Vollendung des 25. Lebensjahres zu berücksichtigen (so LAG Hamm, NZA 1984, 89; LAG Niedersachsen, EzA § 622 n. F. BGB Nr. 20 = ZIP 1984, 1130; ArbG Heilbronn, DB 1983, 2366; Kraushaar, AuR 1983, 142 f.). Auch die Bundesregierung hat sich dieser Auffassung angeschlossen (vgl. die Antwort von Staatssekretär Baden vom 11. Juli 1983: BT-Drucks. 10/255, abgedruckt in DB 1983, 1981). Für diese Auffassung wird angeführt, es sei mit rechts- und sozialstaatlichen Grundsätzen unvereinbar, in einer Vielzahl von Fällen das Ende eines Arbeitsverhältnisses bis zur gesetzlichen Neuregelung in der Schwebe zu halten. Gerade für ältere Arbeitnehmer sei es schwierig, in angemessener Zeit eine neue Arbeitsstelle zu finden. Für den Gesetzgeber bleibe auch keine andere Wahl, als die Regelung für Arbeiter der für Angestellte anzugleichen, da er den Angestellten nicht die seit 1926 unangefochten bestehende Rechtsstellung schmälern könne (LAG Hamm und Kraushaar, aaO).

cc) Nach einer vermittelnden Meinung ist § 622 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 BGB mit dem Vorbehalt weiter anzuwenden, daß die Entscheidung über den sich daraus ergebenden Kündigungstermin nicht zu endgültigen Ergebnissen führen darf, die möglicherweise ungünstiger sind, als die durch die gesetzliche Neuregelung gebotene Änderung des zeitlichen Bestandsschutzes für ältere Arbeiter (vgl. Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 5. Aufl., § 124 II 2 b, S. 765, 766; KR-Hillebrecht, 2. Aufl., § 622 BGB Rz 112 a - im Anschluß an Heußner, NJW 1982, 258; ArbG Wiesbaden, DB 1983, 2367). Wenn es in einem Kündigungsrechtsstreit für die Länge der Kündigungsfrist auf den Beginn der anzurechnenden Betriebszugehörigkeit für ältere Arbeiter ankomme, sei deswegen durch Teilurteil festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung des Arbeitgebers jedenfalls nicht vor Ablauf des sich aus § 622 Abs. 2 BGB ergebenden Termins beendet worden sei. Im übrigen sei der Rechtsstreit bis zur gesetzlichen Neuregelung auszusetzen. Die Neuregelung sei allein Aufgabe des Gesetzgebers, zumal diesem mehrere Wege offenstünden. Eine gerichtliche Rechtsfortbildung scheide deswegen aus. Die entstehende Unsicherheit über den Zeitpunkt der endgültigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses wiege nicht so schwer, daß sie eine auch nur vorübergehende Rechtsetzung durch die Gerichte rechtfertigen könne.

b) Der Senat schließt sich der vermittelnden Auffassung mit der Folge an, daß der Rechtsstreit bis zur gesetzlichen Regelung des für Arbeiter maßgebenden Lebensalters entsprechend § 148 ZPO auszusetzen war.

Das Bundesverfassungsgericht hat zwar in dem Beschluß vom 16. November 1982 nicht wie in anderen Fällen für das Ausgangsverfahren eine Aussetzung empfohlen. Gleichwohl ist die vom Senat beschlossene Aussetzung geboten, weil eine vorbehaltlose und endgültige Weiteranwendung der verfassungswidrigen Norm, in der gegenwärtigen Fassung zu einer endgültigen Benachteiligung der älteren Arbeiter führen kann, und weil eine entsprechende Anwendung des AngKSchG ebenfalls nicht in Betracht kommt.

Für diese Lösung des Konfliktes, der durch den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 16. November 1982 entstanden ist, sind folgende Erwägungen maßgebend:

aa) Die unveränderte und vorbehaltslose Weiteranwendung des § 622 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 BGB widerspricht dem Grundsatz, daß auch eine Norm, die das Bundesverfassungsgericht zwar nicht für nichtig, aber als mit der Verfassung nicht vereinbar erklärt hat, grundsätzlich nicht mehr anzuwenden ist. Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit hat gemäß § 31 Abs. 2 BVerfGG ebenso Gesetzeskraft wie die Nichtigkeitserklärung. Keine Behörde und kein Gericht ist daher befugt, vom Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ab die für verfassungswidrig erklärte Norm während der Übergangszeit bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber weiter anzuwenden (BVerfGE 22, 349, 363; 37, 217, 261; 55, 100, 110; BAG 37, 352, 354; Heußner, aaO, 258; Pestalozza, Festgabe zum 25jährigen Bestehen des Bundesverfassungsgerichts I 1976, S. 523, 562). Von diesem Grundsatz gibt es allerdings Ausnahmen. So kommt eine volle oder teilweise Weiteranwendung der verfassungswidrigen Norm dann in Betracht, wenn es ihre Besonderheit aus verfassungsrechtlichen Gründen, insbesondere aus denen der Rechtssicherheit, erforderlich macht, die verfassungswidrige Regelung für die Übergangszeit bestehen zu lassen, weil sonst ein Zustand eintreten würde, der von der verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt ist als der bisherige Zustand. Eine solche Ausnahmesituation, die eine vorübergehende Weiteranwendung der verfassungswidrig erklärten Norm geradezu unabweislich macht, besteht im Falle des § 622 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 BGB aber nur insoweit, als in Bestandsstreitigkeiten, in denen es bei an sich wirksamen Kündigungen nur um den "richtigen" Beendigungszeitpunkt geht, nicht bis zur gesetzlichen Regelung jede gerichtliche Entscheidung über die Wirksamkeit der Kündigung unterbleiben kann und darf. Das würde in der Tat eine unerträgliche Rechtsunsicherheit sowohl für den kündigenden Arbeitgeber als auch für den gekündigten Arbeitnehmer heraufbeschwören. Andererseits darf aber die deswegen gebotene vorläufige weitere Anwendung des § 622 Abs. 2 BGB nicht dazu führen, eine vermeidbare endgültige Entscheidung über eine offene Rechtslage zu treffen, die dem älteren Arbeitnehmer die Chance nimmt, an einer günstigeren Neuregelung durch den Gesetzgeber teilzunehmen (Heußner, aaO, 259; KR-Hillebrecht, aaO; vgl. auch BVerfGE 52, 369, 379 für den im Ausgangsverfahren durch die verfassungswidrige Norm benachteiligten Beschwerdeführer). Diese Folge müßte aber vorbehaltlich des Ergebnisses einer Verfassungsbeschwerde (vgl. dazu Heußner, aaO, 259) unabänderlich hingenommen werden, wenn im Beendigungsrechtsstreit § 622 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 BGB auch in der Übergangszeit nicht nur unverändert, sondern auch endgültig anzuwenden und eine entsprechende rechtskräftige Feststellung zu treffen wäre.

Diese Bedenken wären allerdings unbegründet, wenn der Gesetzgeber gehindert wäre, neue Regelungen über die Kündigungsfristen für ältere Arbeiter auch auf Arbeitsverhältnisses zu erstrecken, die vom Arbeitgeber bereits vor Inkrafttreten einer gesetzlichen Neuordnung gekündigt worden sind (so Kranz, aaO, 350). Eine derartige Rückwirkung würde jedoch hinsichtlich einer günstigeren Anrechnung von Beschäftigungszeiten älterer Arbeiter nicht wegen des Verstoßes gegen das Gebot der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes verfassungswidrig sein. Der Gesetzgeber ist vielmehr im Gegenteil nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, die Verfassungswidrigkeit des § 622 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 BGB rückwirkend zu beseitigen; er ist gehalten, den Anforderungen des Grundrechts des Art. 3 Abs. 1 GG zumindest für die Zeit ab der Verfassungswidrigkeitserklärung durch das Bundesverfassungsgericht (Beschluß vom 16. November 1982, aaO) gerecht zu werden (BVerfGE 55, 100, 110 f.; 61, 319, 356 f.; Heußner, aaO, 258 f.; Heyde, Festschrift für Faller, 1984, S. 53, 57 f.). Einer rückwirkenden Regelung steht in einem solchen Falle weder das Rechtsstaatsprinzip noch das Sozialstaatsprinzip entgegen.

Die von Kranz (aaO) für seine gegenteilige Auffassung angeführte Rechtsprechung (z. B. BVerfGE 31, 222, 225 ff.) ist nicht einschlägig, weil sie nicht echte oder unechte Rückwirkungen von Gesetzen betrifft, durch die ein bestehender, vom Bundesverfassungsgericht bereits festgestellter verfassungswidriger Zustand verfassungskonform geregelt wird.

bb) Eine vorübergehende Anwendung des AngKSchG vom 9. Juli 1926, nämlich ein Abstellung auf die Vollendung des 25. Lebensjahres, auch bei älteren Arbeitern verbietet sich schon deshalb, weil keine durch Richterrecht auszufüllende Gesetzeslücke vorliegt, sondern dem Gesetzgeber mehrere Wege offenstehen, die von der Verfassung geforderte Gleichheit der Rechtsstellung älterer Angestellter und Arbeiter zu verwirklichen. Wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß vom 16. November 1982 (aaO) ausdrücklich betont hat, geht es nicht um die Übernahme des § 2 AngKSchG auf die älteren Arbeiter, sondern um die verfassungsgerechte Ausgestaltung des § 622 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 BGB. Die Einbeziehung der Betriebszugehörigkeit vom vollendeten 25. Lebensjahr bei der Berechnung der verlängerten Kündigungsfristen für Arbeiter stellt sich daher nach der Auffassung des Senates nicht als eine zwingende verfassungskonforme Regelung dar (eine Regelung, die das Bundesverfassungsgericht sonst selbst getroffen hätte: vgl. BVerfGE 8, 1, 18, 19; 18, 288, 301 f.; 55, 100, 113; BAG 37, 352, 354), sondern im Ergebnis als ein unzulässiger Vorgriff und Eingriff in die Kompetenz des Gesetzgebers. Für eine Angleichung der anzurechnenden Zeiten der Betriebszugehörigkeit im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung ist jedenfalls so lange kein Raum, wie der vom Bundesverfassungsgericht hierzu aufgerufene und verpflichtete Gesetzgeber nicht auf unabsehbare Zeit untätig bleibt (BVerfGE 34, 269; BAG 24, 177, 190 ff.). Das ist aber vorliegend gegenwärtig noch nicht anzunehmen. Die Bundesregierung als ein zur Gesetzesinitiative befugtes Organ (Art. 76 Abs. 1 GG) hat zwar in Verkennung der Rechtslage und der divergierenden Auffassungen der Arbeitgeber und der Gewerkschaften im Juli 1983 ein sofortiges Regelungsbedürfnis verneint. Sie hat aber immerhin eine Überprüfung und gesetzliche Neuregelung in Aussicht gestellt, sobald die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit der unterschiedlichen Grundkündigungsfristen für Arbeiter und Angestellte vorliegt (vgl. BT-Drucks. 10/255 = DB 1983, 1981).

cc) Die vorläufige Weiteranwendung des § 622 Abs. 2 BGB mit der Maßgabe, daß in einem Teilurteil der Fortbestand des Arbeitsverhältnisses zumindest bis zu dem sich aus der gegenwärtigen Regelung ergebenden Termin festgestellt wird und im übrigen der Rechtsstreit auszusetzen ist, stellt einen Kompromiß dar zwischen dem Bedürfnis der Praxis, Bestandsstreitigkeiten auch in diesen Fällen möglichst zügig zu entscheiden, um dem rechtsstaatlichen Gebot, keine rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidungen zu treffen, die die noch vom Gesetzgeber zu bestimmende gegenwärtige Rechtsposition der Betroffenen unabänderlich beeinträchtigen.

Eine unerträgliche Rechtsunsicherheit entsteht durch das vom Senat für verfassungskonform gehaltene Verfahren selbst dann nicht, wenn im Rahmen eines Bestandsstreites bei einer unwirksamen Kündigung auch über einen begründeten Auflösungsantrag nach § 9 KSchG zu entscheiden ist. Zwar kann grundsätzlich über die Sozialwidrigkeit einer Kündigung, die Auflösung und die zu zahlende Abfindung nur gleichzeitig entschieden werden (BAG 4, 90; 24, 57; KR-Becker, 2. Aufl., § 9 KSchG Rz 83). Andererseits ist aber in ständiger Rechtsprechung des Senates anerkannt, daß die Entscheidung über die Kündigungsschutzklage oder über den Auflösungsantrag in der Rechtsmittelinstanz für sich allein angegriffen werden können (BAG 35, 30, 37; 37, 135, 138 ff.). Als mit der Verfassung konforme und durch rechtsstaatliche Grundsätze gebotene Übergangsregelung bietet sich daher insoweit die Lösung an, das Arbeitsverhältnis bei einem begründeten Auflösungsantrag "frühestens" zu dem Termin aufzulösen, der sich aus § 622 Abs. 2 BGB ergibt. Im übrigen ist auch in diesen Fällen das Verfahren bis zur gesetzlichen Neuregelung auszusetzen, damit der endgültige Zeitpunkt der Auflösung im Schlußurteil bestimmt werden kann.

Der Senat weist allerdings darauf hin, daß ein Zustand unerträglicher Rechtsunsicherheit, der die erneute Prüfung einer Lückenausfüllung durch Richterrecht erforderlich macht, dann eintreten kann, wenn der Gesetzgeber nunmehr nicht alsbald die erforderliche Neuregelung vornimmt und es mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht mehr vereinbar ist, die endgültige Entscheidung über den Beendigungszeitpunkt auf unabsehbare Zeit offen zu lassen.

Hillebrecht Dr. Röhsler Triebfürst

Strümper Baerbaum

 

Fundstellen

Dokument-Index HI437746

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