Entscheidungsstichwort (Thema)
Umfang der Dienstverpflichtung. Tarifauslegung. Kulturorchester
Leitsatz (redaktionell)
§ 15 Abs. 2 des Tarifvertrages für Musiker in Kulturorchestern (TVK) vom 1. Juli 1971 sieht im Durchschnitt von acht Kalenderwochen wöchentlich höchstens acht Dienste vor. Individualvereinbarungen über eine geringere Anzahl von Diensten können auch durch praktische Durchführung zu Stande kommen.
Verfahrensgang
Tenor
1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamburg vom 9. Januar 2002 – 5 Sa 86/01 – wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über den Umfang der vom Kläger zu leistenden Dienste.
Der Kläger ist seit 1991 Mitglied des Philharmonischen Staatsorchesters der Beklagten. Er wird als 2. koordinierter Konzertmeister beschäftigt. Im Arbeitsvertrag der Parteien heißt es:
„§ 1
Herr W wird – soweit in diesem Vertrag nichts anderes vereinbart ist – nach Maßgabe des Tarifvertrages für die Musiker in Kulturorchestern (TVK) vom 1. Juli 1971 in der jeweils geltenden Fassung … ab 1.1.1991 auf unbestimmte Zeit als
2. koordinierter Konzertmeister
beim Philharmonischen Staatsorchester eingestellt.
…
§ 3
(1) Für die Berechnung der monatlichen Dienstbezüge gilt folgende Regelung:
a) Die Grundvergütung wird auf 150 v.H. der jeweiligen Endgrundvergütung eines Tuttispielers festgesetzt.
…
§ 4
Auf das Arbeitsverhältnis finden keine Anwendung
§ 3 Absatz 1, Sätze 1, 4 und 5
§ 12 Absatz 2, Satz 2 und Absatz 5
§ 13 Absatz 2
§§ 21, 22 Absatz 7, 23, 26 und 27
des Tarifvertrages für die Musiker in Kulturorchestern (TVK) in der jeweiligen Fassung.
§ 5
Herr W ist verpflichtet, je Spielzeit 80 vom Hundert der Tuttidienste der zu leisten.”
Zur dienstlichen Inanspruchnahme eines Musikers bestimmt § 15 Abs. 2 Unterabs. 1 TVK:
„Die Anzahl der Dienste des Musikers richtet sich nach der Größe und den Aufgaben des Kulturorchesters. Der Musiker ist verpflichtet, im Durchschnitt von acht Kalenderwochen bzw. bei Konzertorchestern von 16 Kalenderwochen – nachfolgend Ausgleichszeitraum genannt – wöchentlich höchstens acht Dienste zu leisten. Enthält ein Ausgleichszeitraum zahlenmäßig überwiegend Aufführungen von Werken, die nach der Partitur als schwierig zu beurteilen sind, hat der Musiker in diesem Ausgleichszeitraum im Durchschnitt wöchentlich höchstens sieben Dienste zu leisten.”
Auf Grund der Vereinbarung in § 5 des Vertrags wurde für die Berechnung der vom Kläger zu leistenden Dienste auf die je Spielzeit tatsächlich geleisteten Dienste der Tuttigruppe der ersten Violinen und nicht auf das in einem Zeitraum von acht Wochen maximal mögliche Dienst-Soll nach § 15 Abs. 2 TVK abgestellt. Anlässlich einer Beanstandung durch den Landesrechnungshof setzte die Beklagte mit einem Schreiben aus dem Oktober 1999 die nach § 15 TVK zulässige Dienstverpflichtung befristet für die Spielzeit 1999/2000 auf durchschnittlich 7,5 Dienste wöchentlich herauf und kündigte an, die Diensterleichterungen künftig am Dienst-Soll und nicht mehr an den tatsächlich geleisteten Diensten der Tuttigruppe zu orientieren.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, nach der vertraglichen Vereinbarung sei für die Berechnung der Dienstverpflichtung von den tatsächlichen Diensten der Tuttisten der Gruppe der ersten Violinen auszugehen. Die Beklagte sei nicht berechtigt, das vereinbarte Verhältnis von Leistung und Gegenleistung einseitig zu ändern.
Der Kläger hat beantragt,
festzustellen, dass der Kläger auf Grund seines Anstellungsvertrages vom 14. Dezember 1990 nicht verpflichtet ist, 80 % eines „tariflichen Dienstsolls” der Tuttisten zu leisten, sondern höchstens 80 % der tatsächlich durchschnittlich von den Tuttisten geleisteten Dienste.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihr Ziel der Klageabweisung weiter. Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten hat keinen Erfolg. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben.
I. Die Klage ist zulässig. Der Feststellungsantrag ist bei Berücksichtigung des zur Auslegung heranzuziehenden Vorbringens des Klägers hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Dem Wortlaut nach stellt der Antrag für die Berechnung der Dienstleistungspflicht zwar nicht ausdrücklich auf die von den Tuttisten der Gruppe der ersten Violinen tatsächlich geleisteten Dienste ab. Er ist jedoch entsprechend der Klagebegründung und dem daraus erkennbaren Klageziel dahingehend auszulegen.
II. Die Klage ist begründet. Die Beklagte ist nach § 5 des Arbeitsvertrags verpflichtet, die Anzahl der vom Kläger zu leistenden Dienste allein nach den tatsächlichen Diensten der Tuttigruppe der ersten Violinen in einer Spielzeit zu bestimmen.
1. Die im Arbeitsvertrag der Parteien vom 14. Dezember 1990 enthaltenen Erklärungen sind typische Willenserklärungen, die vom Senat in der Revisionsinstanz unbeschränkt und selbständig gemäß §§ 133, 157 BGB ausgelegt werden können (st. Rspr. BAG 13. März 2003 – 6 AZR 698/01 –, zu 1 der Gründe; 19. Januar 2000 – 5 AZR 637/98 – BAGE 93, 212, 215; 16. Februar 2000 – 4 AZR 14/99 – BAGE 93, 328, 338; jeweils mwN). Der Vertrag hat formularmäßigen Charakter und wird von der Beklagten in einer Vielzahl von Fällen für Musiker verwendet, denen eine Diensterleichterung zukommen soll. Daher unterliegt die vom Landesarbeitsgericht vorgenommene Auslegung der uneingeschränkten revisionsrechtlichen Überprüfung. Dieser hält sie stand.
2. Gemäß § 157 BGB sind Verträge so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. Dabei ist nach § 133 BGB der wirkliche Wille der Erklärenden zu erforschen und nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften. Bei der Auslegung sind alle tatsächlichen Begleitumstände der Erklärung zu berücksichtigen, die für die Frage von Bedeutung sein können, welchen Willen der Erklärende bei seiner Erklärung gehabt hat und wie die Erklärung von ihrem Empfänger zu verstehen war (BAG 13. März 2003 – 6 AZR 698/01 –, zu 2 der Gründe; 26. September 2002 – 6 AZR 434/00 – AP BBiG § 10 Nr. 10 = EzA BBiG § 10 Nr. 6, zu I 3 der Gründe; 12. Juni 2002 – 10 AZR 323/01 – EzA BetrVG 1972 § 112 Nr. 110, zu II 1 b der Gründe mwN). Danach ist im Arbeitsvertrag geregelt, dass der Kläger je Spielzeit 80 vH der von den Tuttisten der ersten Violinen tatsächlich erbrachten Dienste zu leisten hat.
a) Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht erkannt, dass dies bereits aus dem Wortlaut der Vereinbarung folgt. Deren sprachliche Ausgestaltung weist darauf hin, dass die Parteien bei der Berechnung der Diensterleichterung von der tariflichen Regelung zum Höchstmaß der zulässigen Dienste abweichen wollten. Während die Musiker nach § 15 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 1 TVK unabhängig von dem gespielten Instrument verpflichtet sind, im Durchschnitt von acht Kalenderwochen, dem sog. Ausgleichszeitraum, wöchentlich höchstens acht Dienste zu leisten, steht die mit dem Kläger getroffene Abrede in unmittelbarem Zusammenhang mit der Tuttistengruppe der ersten Violinen. Diese Tuttistengruppe ist zwar in § 5 des Vertrags nicht ausdrücklich aufgeführt. Dies ist aber ohne Bedeutung. Als 2. koordinierter Konzertmeister spielt der Kläger Violine und gehört der Gruppe der ersten Violinen an. Eine andere Bezugsgruppe kommt nicht in Betracht.
b) Die Anknüpfung an die konkreten Dienste der Gruppe der ersten Violinen folgt auch aus der praktischen Vertragsdurchführung, die regelmäßig darauf schließen lässt, von welchen Rechten und Pflichten die Vertragsparteien ausgegangen sind (BAG 13. März 2003 – 6 AZR 698/01 –, zu 2 b der Gründe; 30. Januar 1991 – 7 AZR 497/89 – BAGE 67, 124, zu II 2 der Gründe). Die Beklagte hat schon vor dem Abschluss des Arbeitsvertrags vom 14. Dezember 1990 das Dienst-Soll des 2. koordinierten Konzertmeisters aus den von den Tuttisten der Gruppe der ersten Violinen tatsächlich geleisteten Diensten berechnet und erbrachte Überdienste in der nachfolgenden Spielzeit ausgeglichen. Diese Praxis war dem Kläger nach den von der Beklagten nicht angegriffenen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts bei Abschluss des Vertrags bekannt. Beide Parteien schlossen den Vertrag damit in Kenntnis dessen, dass sich die Diensterleichterung des Klägers an den tatsächlich geleisteten Tuttidiensten der Gruppe der ersten Violinen orientiert. Dementsprechend ist die vertragliche Regelung in den darauf folgenden Jahren auch durchgehend praktiziert worden. Diese Vertragspraxis lag auch einem an den Kläger gerichteten Schreiben vom 27. Dezember 1994 zugrunde. Darin hatte der Intendant des Philharmonischen Staatsorchesters der Beklagten Prof. Dr. R den Kläger ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich sein Dienst-Soll nach dem Durchschnittsdienst der ersten Geigengruppe abzüglich einer Diensterleichterung von 20 vH bemisst.
c) Sinn und Zweck der beabsichtigten Diensterleichterung bestätigen das Auslegungsergebnis. Es gewährleistet eine im Vergleich zu den Tuttisten um 20 vH verminderte dienstliche Inanspruchnahme des Klägers. Die ihm vertraglich zugesagte Diensterleichterung von 80 vH käme demgegenüber nicht mehr zum Tragen, wenn die Tuttisten weit unter dem tariflichen Dienst-Soll herangezogen werden, der Kläger aber weiterhin 80 vH der nach dem TVK maximal möglichen Dienste zu erbringen hätte. Es könnte dazu kommen, dass der Kläger trotz der vertraglichen Vereinbarung einer Diensterleichterung die gleiche oder gar eine höhere Anzahl von Diensten als die Tuttisten zu leisten hätte. Das widerspräche dem Regelungsgehalt der Diensterleichterung.
d) Dieses Auslegungsergebnis steht auch mit den sonstigen Vertragsbestimmungen im Einklang. Auch wenn nach § 1 des Arbeitsvertrags der TVK auf das Arbeitsverhältnis zur Anwendung kommt, soll dies nach dem Willen der Parteien nur gelten, soweit im Vertrag nichts anderes vereinbart worden ist. § 5 des Vertrags kann daher eine vom Inhalt des TVK abweichende Regelung vorsehen. Zwar führt § 4 des Vertrags konkrete Vorschriften des TVK auf, die für das Arbeitsverhältnis ausdrücklich nicht gelten sollen. Allein die fehlende Benennung des § 15 Abs. 2 TVK in dieser Regelung schließt nicht aus, dass der Arbeitsvertrag in seinen nachfolgenden Bestimmungen eine im Verhältnis zu anderen Normen des TVK günstigere Regelung enthalten kann.
3. Angesichts der ausdrücklichen vertraglichen Vereinbarung kommt es nicht darauf an, ob für den Anspruch des Klägers die Voraussetzungen einer anspruchsbegründenden betrieblichen Übung erfüllt sind.
4. Der Anspruch des Klägers auf die Berechnung seiner Dienste nach der Anzahl der tatsächlich geleisteten Tuttidienste ist auch nicht durch eine Änderungsvereinbarung aufgehoben worden. Das Schreiben der Beklagten vom Oktober 1999 enthält nach seinem Erklärungsgehalt kein auf die Änderung des § 5 des Arbeitsvertrags gerichtetes Angebot, sondern eine einseitige Heraufsetzung der Dienstverpflichtung.
Unterschriften
Schmidt, Dr. Armbrüster, Brühler, D. Knauß, Klaus, Klabunde
Fundstellen