Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorruhestand in der Textilindustrie
Orientierungssatz
1. Die Begrenzung des Vorruhestandes auf 2% der Arbeitnehmer des Betriebes ist keine Betriebsnorm nach § 3 Abs 2 TVG.
2. Die ausschließliche Berücksichtigung nur tarifgebundener Arbeitnehmer zur Ausfüllung des Anspruchsrahmens würde gegen die negative Koalitionsfreiheit verstoßen.
3. Auslegung des § 2 Nr 2 des Vorruhestandstarifvertrages in der Textilindustrie in Baden-Württemberg vom 15.6.1984.
Normenkette
GG Art. 9 Abs. 3; TVG § 3 Fassung 1969-08-25, § 1 Fassung 1969-08-25, § 4 Fassung 1969-08-25
Verfahrensgang
LAG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 01.09.1986; Aktenzeichen 8 Sa 49/86) |
ArbG Lörrach (Entscheidung vom 08.04.1986; Aktenzeichen 2 Ca 106/86) |
Tatbestand
Der am 9. Mai 1927 geborene Kläger ist seit November 1971 bei der Beklagten als Aufstecker beschäftigt. Er ist Mitglied der Gewerkschaft Textil und Bekleidung. Die Beklagte ist Mitglied des Verbandes der Baden-Württembergischen Textilindustrie e.V. Im November 1984 teilte der Kläger nach seinen Angaben erstmals der Beklagten mit, daß er von der Möglichkeit des Vorruhestandes Gebrauch machen wolle. In einem der Beklagten am 13. Januar 1986 zugegangenen Schreiben erklärte dann der Kläger schriftlich, daß er nach dem Tarifvertrag zur Erleichterung des Überganges vom Arbeitsleben in den Ruhestand für Baden- Württemberg vom 15. Juni 1984 (VRTV) in den Vorruhestand eintreten wolle. Mit Schreiben vom 16. Januar 1986 teilte daraufhin die Beklagte dem Kläger mit, daß der Anspruchsrahmen des § 2 Nr. 2 VRTV ausgeschöpft sei. Mit 16 Arbeitnehmern, die sämtlich älter als der Kläger waren, wurden am 9. bzw. 27. November 1984 Vorruhestandsverträge für die Zeit ab 1.Januar bzw. 1. Februar 1985 abgeschlossen. Am 13. Januar 1986 bestand bei der Beklagten eine rechnerische Pflichtquote für den Vorruhestand in Höhe von 16,48. Von den 16 Arbeitnehmern der Beklagten im Vorruhestand waren acht dieser Arbeitnehmer nicht tarifgebunden.
Mit seiner Klage hat der Kläger die Auffassung vertreten, er habe bevorzugt Anspruch auf Teilnahme am Vorruhestand, solange die in § 2 Nr. 2 VRTV festgelegte Grenze von 2 % der Arbeitnehmer noch nicht von tarifgebundenen Arbeitnehmern ausgefüllt sei. Nicht organisierte Arbeitnehmer könnten aus dem Tarifvertrag keine Rechte herleiten, so daß der Anspruchsrahmen zunächst mit tarifgebundenen Arbeitnehmern ausgefüllt werden müsse. Darin liege auch keine unzulässige Differenzierungsklausel, da es dem Arbeitgeber nicht verwehrt sei, auch mit nicht organisierten Arbeitnehmern Vorruhestandsvereinbarungen abzuschließen.
Der Kläger hat demgemäß beantragt,
1. die Beklagte wird verurteilt, mit dem Kläger
eine Vorruhestandsregelung gemäß dem Vorruhe-
standstarifvertrag vom 15. 6. 1984 für die Be-
triebe und selbständigen Betriebsabteilungen
der Baden-Württembergischen Textilindustrie
zu treffen und dem Kläger ab sofort den Eintritt
in den Vorruhestand zu ermöglichen;
hilfsweise,
2. festzustellen, daß die nicht tarifgebundenen
Arbeitnehmer Alfredo B , Vincenzo M ,
Konrad und Helmut W auf den Anspruchs-
rahmen für die Vorruhestandsregelung gem. Ziff. 2
des Vorruhestandstarifvertrages vom 15. 6. 1984
nicht anzurechnen sind und der Kläger gem. §§ 2,3
des Vorruhestandstarifvertrages vom 15. 6. 1984
einen Anspruch darauf hat, in den Vorruhestand
zu treten.
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und ausgeführt, daß der Anspruch unbegründet sei, weil die Quote von 2 % bereits ausgeschöpft gewesen sei. Mit allen ihren Arbeitnehmern sei vereinbart, daß die Tarifverträge der Baden-Württembergischen Textilindustrie angewandt würden. Es werde deshalb bei der Gewährung tariflicher Leistungen nicht differenziert. Auch nach § 2 Abs. 2 Nr. 4 VRTV werde zwischen gewerkschaftlich Organisierten und Nichtorganisierten nicht unterschieden. Das ergebe sich auch aus einem Vergleich mit dem Vorruhestandsgesetz, das wörtlich übernommen worden sei, wobei lediglich die Überforderungsklausel von 5 % durch eine von 2 % ersetzt worden sei. Damit sei aber der Überforderungsschutz nur von der Zahl der insgesamt im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer abhängig.
Arbeits- und Landesarbeitsgericht haben die Klage abgewiesen. Mit der zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Klageantrag weiter. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision war zurückzuweisen. Im Ergebnis zutreffend haben die Vorinstanzen entschieden, daß dem Kläger kein Anspruch auf Teilnahme am Vorruhestand nach dem Tarifvertrag zur Erleichterung des Übergangs vom Arbeitsleben in den Ruhestand für Baden-Württemberg vom 15. Juni 1984 (VRTV) zusteht.
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden die Vorschriften des VRTV kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit mit unmittelbarer und zwingender Wirkung Anwendung (§ 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG). Für den geltend gemachten Anspruch des Klägers gelten damit folgende Bestimmungen des VRTV:
§ 2
Anspruchsvoraussetzungen
1. Arbeitnehmer, die das 58. Lebensjahr vollendet
haben, können nach Maßgabe dieses Tarifvertrages
aus dem Erwerbsleben ausscheiden und in den Vor-
ruhestand treten, wenn sie am Tage des Ausscheidens
dem Betrieb mindestens fünf Jahre ununterbrochen
angehört haben.
2. Der Arbeitnehmer hat Anspruch auf eine Vorruhe-
standsregelung, soweit durch die Inanspruchnahme
die Grenze von 2 % der Arbeitnehmer des Betriebes
gem. § 2 Abs. 1 Ziff. 4 VRG nicht überschritten
wird. Diese Grenze gilt mit der Maßgabe, daß in
Betrieben ab 40 Arbeitnehmern ein Arbeitnehmer,
ab 90 Arbeitnehmern zwei Arbeitnehmer und ab 140
Arbeitnehmern drei Arbeitnehmer diesen Anspruch
haben; im übrigen wird der Anspruchsrahmen unter
aufrunden (ab 0,5) und abrunden ausgefüllt.
Über diesen Anspruchsrahmen hinausgehende Vorruhe-
standsregelungen bedürfen einer Vereinbarung.
3. Vorruhestandsregelungen sind bevorzugt mit solchen
Arbeitnehmern zu treffen, bei denen eine Wiederbe-
setzung des Arbeitsplatzes möglich ist.
4. Der Anspruch auf Eintritt in den Vorruhestand nach
Maßgabe vorstehender Ziffern besteht:
im Jahre 1985 und danach für Arbeitnehmer, die vor
dem Jahre 1928 geboren sind,
im Jahre 1986 und danach für Arbeitnehmer, die vor
dem Jahre 1929 geboren sind,
im Jahre 1987 und danach für Arbeitnehmer, die vor
dem Jahre 1930 geboren sind,
im Jahre 1988 für Arbeitnehmer, die vor dem Jahre
1931 geboren sind.
5. Der Anspruch besteht nicht, wenn der Arbeitnehmer
Anpassungsgeld für entlassene Arbeitnehmer des
Bergbaus erhält.
§ 3
Beendigung des Arbeitsverhältnisses
1. Der Arbeitnehmer hat dem Arbeitgeber die Inan-
spruchnahme der Vorruhestandsregelung möglichst
frühzeitig, spätestens drei Monte vor dem beab-
sichtigten Ausscheidenszeitpunkt, anzukündigen.
Arbeitgeber und Arbeitnehmer sollen sich über
den Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhält-
nisses einigen.
2. Kommt keine Einigung über die Beendigung des Arbeits-
verhältnisses zustande, so kann der Arbeitnehmer
unter Einhaltung der für ihn maßgeblichen Kündi-
gungsfrist durch einseitige Erklärung gegenüber
dem Arbeitgeber in den Vorruhestand eintreten,
wenn dadurch der Anspruchsrahmen nach § 2 Ziff. 2
nicht überschritten wird.
3. Der anspruchsberechtigte Arbeitnehmer kann nicht zur
Beendigung seines Arbeitsverhältnisses gezwungen
werden. Die Nichtinanspruchnahme der Vorruhestands-
regelung ist kein Grund für die Kündigung des Ar-
beitsverhältnisses durch den Arbeitgeber.
4. Der Betriebsrat ist von jeder Inanspruchnahme und
der Beendigung von Vorruhestandsregelungen, im Falle
von Vereinbarungen vor deren Abschluß, zu infor-
mieren.
Der am 9. Mai 1927 geborene Kläger erfüllte erst am 8. Mai 1985 zum 9. Mai 1985 die Anspruchsvoraussetzungen des Tarifvertrages. Der Kläger war damit im Vergleich zu den 16 Arbeitnehmern, für die ein Anspruch bei der Beklagten auf Vorruhestandsverträge bestand, der jüngste. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits Vorruhestandsverträge mit der bei der Beklagten bestehenden Quote von 16 Arbeitnehmern zum 1. Januar bzw. 1. Februar 1985 abgeschlossen. Der Anspruchsrahmen von 2 % der Arbeitnehmer des Betriebes im Sinne von § 2 Ziffer 2 VRTV war damit ausgefüllt. Im Gegensatz zur Auffassung des Klägers kann dieser Anspruchsrahmen nicht nur oder nur in erster Linie mit tarifgebundenen Arbeitnehmern ausgefüllt werden. Wie der Senat vielmehr bereits in seinem Urteil vom 21. Januar 1987 - 4 AZR 547/86 - zur Veröffentlichung vorgesehen - ausgeführt hat, sind insoweit auch nicht oder anders organisierte Arbeitnehmer einzubeziehen.
Die Einbeziehung dieser Arbeitnehmer läßt sich zwar nicht mit der Begründung rechtfertigen, bei der Norm des § 2 Ziff. 2 Abs. 1 VRTV handele es sich um eine Rechtsnorm über betriebliche Fragen, die gemäß § 3 Abs. 2 TVG für alle Betriebe und Arbeitnehmer gilt, deren Arbeitgeber tarifgebunden sind. Denn entgegen der Auffassung der Beklagten kann § 2 Ziff. 2 Abs. 1 VRTV nicht als eine Rechtsnorm über betriebliche Fragen angesehen werden.
Die Erstreckung der Rechtsnormen über betriebliche Fragen auf Außenseiter ohne Allgemeinverbindlicherklärung läßt sich nur damit sachlich rechtfertigen, daß die entsprechenden Bestimmungen in der sozialen Wirklichkeit aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nur einheitlich gelten können (vgl. Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Aufl. 1977, § 3 Rz 69). Danach sind betriebliche Fragen Fragen der Betriebsgestaltung, die sich auf die Betriebsmittel, auf die Mitarbeiter und auf die organisatorische Zusammenfassung des Ganzen beziehen können (Dieterich, Die betrieblichen Normen nach dem Tarifvertragsgesetz vom 9. April 1949, 1962, S. 39 f.). Vorliegend meint die Beklagte, der VRTV verfolge das Ziel, daß durch Inanspruchnahme des Vorruhestands ältere Mitarbeiter ausscheiden und die frei werdenden Arbeitsplätze durch jüngere Arbeitnehmer wieder besetzt werden. Damit nehme der VRTV Einfluß auf die Zusammensetzung der Belegschaft, was seine Normen als betriebliche Normen im Sinne von § 3 Abs. 2 TVG kennzeichne. Dieser Auffassung kann der Senat nicht folgen. Ob Rechtsnormen eines Tarifvertrags betriebliche Normen im Sinne von § 3 Abs. 2 TVG sind, kann nicht pauschal für alle Normen eines Tarifvertrags entsprechend seiner Zielsetzung beantwortet werden, sondern ist für jede Tarifnorm unter Berücksichtigung des für die Tarifauslegung maßgebenden tariflichen Gesamtzusammenhangs (vgl. BAGE 46, 308, 313 = AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung) getrennt zu prüfen. Ein Tarifvertrag kann nebeneinander Inhaltsnormen (§ 1 Abs. 1 TVG), betriebliche Normen und betriebsverfassungsrechtliche Normen (§ 3 Abs. 2 TVG) enthalten. Davon geht auch das Tarifvertragsgesetz aus (vgl. § 1 Abs. 1, § 3 Abs. 2, § 4 Abs. 1 bis 2 TVG).
Demgemäß kommt es nur darauf an, ob die hier strittige Tarifnorm des § 2 Ziff. 2 Abs. 1 VRTV eine betriebliche Norm ist. Das ist zu verneinen. Durch die Begrenzung der Zahl der Arbeitnehmer, die eine Vorruhestandsregelung beanspruchen können, kann sich die Norm zwar auf die Zusammensetzung der Belegschaft auswirken. Regelungen über die Zusammensetzung des Betriebskollektivs können auch zu den betrieblichen Fragen im Sinne von § 3 Abs. 2 TVG gehören. Dies gilt aber nur, soweit sie nach ihrem Regelungsinhalt einheitlich für alle Arbeitnehmer oder bestimmte Arbeitnehmergruppen gelten sollen, z. B. wenn es um die fachlichen Anforderungen an bestimmte Arbeitnehmergruppen oder um das zahlenmäßige Verhältnis bestimmter Arbeitnehmergruppen zur Gesamtzahl der Mitarbeiter eines Betriebs geht (Dieterich, aaO, S. 42). Ob sich im Einzelfall eine konkrete Tarifbestimmung primär mit dem einzelnen Arbeitsverhältnis befaßt und damit Inhaltsnorm, Abschlußnorm oder Beendigungsnorm ist, oder mit der Zusammensetzung des Betriebskollektivs und damit Betriebsnorm im Sinne von § 3 Abs. 2 TVG ist, ist eine Auslegungsfrage (Dieterich, aaO, S. 44).
Im vorliegenden Fall ist die Norm des § 2 Ziff. 2 Abs. 1 VRTV nach Wortlaut und Gesamtzusammenhang der tariflichen Regelung untrennbar verbunden mit dem individuellen Anspruch des Arbeitnehmers auf Beendigung des Arbeitsverhältnisses und Eintritt in den Vorruhestand; sie ist eine negative Anspruchsvoraussetzung für diesen individuellen Anspruch. Schon von dieser Zweckbestimmung her ist § 2 Ziff. 2 Abs. 1 VRTV als Bestandteil einer Norm anzusehen, die im Sinne von § 1 Abs. 1 TVG die Beendigung von Arbeitsverhältnissen regelt (sogenannte Beendigungsnorm). Auch der darüber hinausgehende Zweck von § 2 Ziff. 2 Abs. 1 VRTV ist nicht auf eine bestimmte Zusammensetzung der Belegschaft mit bestimmten Arbeitnehmergruppen gerichtet, sondern will den Arbeitgeber vor einer finanziellen Überforderung schützen (vgl. BT- Drucks. 10/1175, S. 25 und 28). Wenn eine solche Überforderungsklausel sich letztlich auf die Zusammensetzung der Belegschaft auswirken kann, ist dies nur ein Reflex der Begrenzung des individuellen Anspruchs der Arbeitnehmer auf den Eintritt in den Vorruhestand. Von ihrer Zweckbestimmung her ist die Überforderungsklausel nicht auf die Zusammensetzung der Belegschaft gerichtet und betrifft damit auch keine Fragen der Betriebsgestaltung. Überforderungsklauseln im Sinne von § 2 Ziff. 2 Abs. 1 VRTV sind daher keine Normen über betriebliche Fragen im Sinne von § 3 Abs. 2 TVG (im Ergebnis ebenso: Söllner, DB 1986, 2435, 2436).
Nach allgemeinen Grundsätzen der Tarifauslegung (vgl. BAGE 46, 308, 313 f. = AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung) kann dem VRTV ebenfalls nicht entnommen werden, ob zur Ausfüllung des Anspruchsrahmens von 2 % nur die tarifgebundenen Arbeitnehmer zu berücksichtigen sind. Dabei ist davon auszugehen, daß dieser Anspruchsrahmen für jeden Betrieb eine Überforderungsgrenze festlegt, die unter der des VRG liegt. Obwohl das VRG einen Anspruchsrahmen von 5 % vorsieht, sollte tariflich hier eine geringere finanzielle Belastungsgrenze für die Arbeitgeber dieses Tarifbereichs normiert werden. Während in anderen Tarifbereichen die gesetzliche Überlastungsgrenze von 5 % übernommen worden ist (vgl. z. B. in der Chemieindustrie) oder eine besondere Belastungsgrenze überhaupt nicht festgelegt worden ist (wie in der Bauindustrie), wurde im vorliegenden Fall der Anspruchsrahmen auf 2 % gekürzt. Das läßt sich nur aus der besonderen Situation der Textilindustrie erklären, in der aufgrund der finanziellen Situation die Belastung geringer als in anderen Branchen gehalten werden sollte. Dementsprechend gehen auch beide Parteien im vorliegenden Rechtsstreit davon aus, daß es sich um eine besondere, herabgesetzte Belastungsgrenze handelt, für die nur streitig ist, welche Arbeitnehmer diesen Anspruchsrahmen in erster Linie in Anspruch nehmen können. Hinzu kommt, daß nach Sinn und Zweck der Vorruhestandsregelung die herabgesetzte Grenze von 2 % der Arbeitnehmer des Betriebs als allgemeine Belastungsgrenze verstanden werden muß. Die Bereitschaft des Arbeitgebers zum Abschluß freiwilliger Ruhestandsvereinbarungen würde nämlich erheblich sinken, wenn die Ruhestandsvereinbarung über die Zwei-Prozent- Grenze hinaus zu zusätzlichen finanziellen Belastungen führt. Eine solche zusätzliche finanzielle Belastung würde dann ohne weiteres vermieden, wenn der Arbeitgeber auf den Abschluß von Vorruhestandsvereinbarungen verzichtet. Da aber die tarifliche Regelung gerade einen Anreiz zum Abschluß von Vorruhestandsregelungen geben soll, kann der herabgesetzte Anspruchsrahmen von 2 % insoweit nur als Belastungsgrenze verstanden werden.
Als Belastungsgrenze führt aber die Auslegung des Begriffs "2 % der Arbeitnehmer des Betriebes gemäß § 2 Abs. 1 Ziff. 4 VRG" zu keiner eindeutigen Auslegung. Der Tarifwortlaut spricht dafür, daß nicht und anders organisierte Arbeitnehmer einzubeziehen sind. Der Kläger selbst räumt insoweit ein, daß zur Ermittlung der Belastungsgrenze von "2 % der Arbeitnehmer des Betriebes" alle Arbeitnehmer - auch die nicht und anders organisierten - zu berücksichtigen sind. Dann aber liegt es nahe, daß auch für die Ausfüllung des Begriffs "2 % der Arbeitnehmer des Betriebes" die nicht und anders organisierten Arbeitnehmer mit ihren Vorruhestandsvereinbarungen mitzuzählen sind. Der VRTV trifft insoweit keine Unterscheidung zwischen tarifgebundenen und nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern. Auch § 2 Abs. 1 Ziff. 4 VRG, auf den § 2 Ziff. 2 Abs. 1 VRTV zur Bestimmung des Arbeitnehmerbegriffs ausdrücklich Bezug nimmt, erfaßt alle Arbeitnehmer des Betriebs (ausschließlich der Auszubildenden und Schwerbehinderten) ohne Rücksicht auf ihre Organisationszugehörigkeit.
Andererseits regelt der VRTV nur die Ansprüche der tarifgebundenen Arbeitnehmer. Wenn § 2 Ziff. 2 Abs. 1 VRTV mit den Worten beginnt: "Der Arbeitnehmer hat Anspruch auf eine Vorruhestandsregelung ...", ist damit nur der tarifgebundene Arbeitnehmer gemeint. Tarifverträge regeln nämlich grundsätzlich nur die Arbeitsverhältnisse der Mitglieder der Tarifvertragsparteien. Die Tarifvertragsparteien haben weder Anlaß und - von betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Normen abgesehen - noch nicht einmal die Kompetenz, die Arbeitsverhältnisse von Außenseitern zu regeln. Demgemäß ist es unüblich, daß in Tarifverträgen zwischen tarifgebundenen und nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern unterschieden wird, da sich die Normen über den Inhalt, den Abschluß und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen nach dem Willen der Tarifvertragsparteien ohnehin nur auf die tarifgebundenen Arbeitnehmer beziehen. Nach dem Gesamtzusammenhang der tariflichen Regelungen läßt sich daher nicht sicher beurteilen, ob zur Ausfüllung des Begriffs "2 % der Arbeitnehmer des Betriebes" im Sinne von § 2 Ziff. 2 Abs. 1 VRTV nur die anspruchsberechtigten tarifgebundenen Arbeitnehmer oder auch die anders und nicht organisierten Arbeitnehmer zu berücksichtigen sind. Dies gilt auch, wenn man in Betracht zieht, daß die vorliegend zuständige Arbeitsgemeinschaft der Arbeitgeberverbände mit der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG) einen gleichlautenden Vorruhestandstarifvertrag abgeschlossen hat. Auch insoweit ist nach Wortlaut und tariflichem Gesamtzusammenhang nicht auszuschließen, daß zur Ausfüllung des Anspruchsrahmens von 2 % nur die jeweils tarifgebundenen Arbeitnehmer zu berücksichtigen sind und danach jede tarifgebundene Arbeitnehmergruppe (Mitglieder der Gewerkschaft Textil-Bekleidung einerseits und Mitglieder der DAG andererseits) einen Zwei-Prozent-Rahmen für sich allein in Anspruch nehmen darf.
Wenn danach Tarifwortlaut und tariflicher Gesamtzusammenhang zu keinem eindeutigen Ergebnis führen, könnten für die Tarifauslegung auch die Tarifgeschichte, die praktische Tarifübung und die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags herangezogen werden (BAGE 46, 308, 314 = AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung). Daraus läßt sich aber vorliegend ebenfalls keine Lösung der Frage gewinnen, ob auch Vorruhestandsregelungen mit nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern zur Ausfüllung des Begriffs "2 % der Arbeitnehmer des Betriebes" zu berücksichtigen sind. Offensichtlich haben die Tarifvertragsparteien diese Frage nicht bedacht oder sie zumindest in den Tarifverhandlungen nicht zur Sprache gebracht (vgl. Ferge, NZA 1986, Heft 17, S. X). Für die Auffassung von Lukas/Thon (NZA 1986, 774), im Hinblick auf die gesetzliche Überforderungsklausel von 5 % der Arbeitnehmer des Betriebs (§ 2 Abs. 1 Ziff. 4 VRG) bedeute die tarifliche Überforderungsklausel von 2 % der Arbeitnehmer des Betriebs, daß in diesem Umfang ausschließlich den tarifgebundenen Arbeitnehmern ein Anspruch auf Eintritt in den Vorruhestand gesichert werden solle, während es dem Arbeitgeber frei stehe, mit Außenseitern bis zur Belastungsgrenze von 5 % Vorruhestandsregelungen zu vereinbaren, ist auch nach diesen Auslegungskriterien kein Anhaltspunkt ersichtlich.
Läßt sich aber damit aus dem Tarifvertrag unmittelbar mit den herkömmlichen Mitteln der Auslegung eine eindeutige Regelung nicht entnehmen, muß für die sachgerechte Anwendung dieser Bestimmung zur Ausfüllung des Begriffs "2 % der Arbeitnehmer des Betriebes" auf allgemeine Grundsätze des Tarifrechts, insbesondere im Hinblick auf die Erfordernisse von Art. 9 Abs. 3 GG zurückgegriffen werden. Wenn im Gesetzesrecht eine Rechtsnorm mehrere Auslegungen zuläßt, von denen die eine zu einem verfassungswidrigen, die andere zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis führt, ist sie so anzuwenden, daß sie zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis führt (BVerfGE 64, 229, 242 mit weiteren Nachweisen). Dieser Grundsatz gilt auch für die Anwendung von Tarifnormen (Wiedemann/Stumpf, aaO, § 1 Rz 404; Hagemeier/Kempen/Zachert/Zilius, TVG, 1984, Einleitung Rz 233). Tarifvertragsparteien wollen im Zweifel verfassungsmäßige Regelungen treffen. Eine verfassungskonforme Anwendung von Tarifnormen wird auch dem am Willen der Tarifvertragsparteien ausgerichteten Grundsatz gerecht, daß im Zweifel derjenigen Auslegung der Vorzug zu geben ist, die zu einer vernünftigen, gerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (BAGE 46, 308, 316 = AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung mit weiteren Nachweisen).
Im vorliegenden Fall würde die ausschließliche Berücksichtigung von tarifgebundenen Arbeitnehmern zur Ausfüllung des Begriffs "2 % der Arbeitnehmer des Betriebes" gegen die negative Koalitionsfreiheit verstoßen, so daß die Norm des § 2 Ziff. 2 Abs. 1 VRTV wegen Verstoßes gegen Art. 9 Abs. 3 GG nichtig wäre. Bei Einbeziehung auch der nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer ist § 2 Ziff. 2 Abs. 1 VRTV dagegen verfassungsgemäß, so daß die Vorschrift in diesem Sinne anzuwenden ist.
Die negative Koalitionsfreiheit besagt, daß es jedermann frei steht, einer Koalition fernzubleiben, und er auch nicht zum Eintritt in eine Koalition gedrängt oder ein entsprechender Druck auf ihn ausgeübt werden darf (vgl. BVerfGE 31, 302). Diese negative Koalitionsfreiheit ist nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts durch Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich geschützt (BAGE 20, 175, 213 ff. = AP Nr. 13 zu Art. 9 GG). Auch das Bundesverfassungsgericht vertritt in ständiger Rechtsprechung ohne nähere Begründung diese Auffassung (BVerfGE 50, 290, 367 = AP Nr. 1 zu § 1 MitbestG; BVerfGE 55, 7, 22 = AP Nr. 17 zu § 5 TVG; BVerfGE 57, 220, 245 = AP Nr. 9 zu Art. 140 GG; BVerfGE 64, 208, 213 f. = AP Nr. 21 zu § 9 BergmannsVersorgScheinG NRW). Ebenso wie Art. 9 Abs. 3 GG die positive Koalitionsfreiheit (Koalitionsbetätigung) nur in ihrem Kernbereich schützt (vgl. BVerfGE 58, 233, 247 = AP Nr. 31 zu § 2 TVG; BVerfGE 51, 77, 88 = AP Nr. 31 zu Art. 9 GG; BVerfGE 28, 295, 303 = AP Nr. 16 zu Art. 9 GG, jeweils mit weiteren Nachweisen), gilt dies für die negative Koalitionsfreiheit entsprechend. Auch die negative Koalitionsfreiheit ist durch Art. 9 Abs. 3 GG nur in ihrem Kernbereich geschützt. Einem legitimen und sozial adäquaten Druck dürfen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ausgesetzt werden (BAGE 20, 175, 226 = AP Nr. 13 zu Art. 9 GG; vgl. auch BVerfGE 20, 312, 321 f. = AP Nr. 24 zu § 2 TVG).
Deshalb müssen es nicht organisierte Arbeitnehmer hinnehmen, daß Ansprüche aus nicht allgemeinverbindlichen Tarifverträgen nur tarifgebundenen Arbeitnehmern zustehen. Der davon ausgehende Druck auf den Außenseiter, der tarifschließenden Gewerkschaft beizutreten, ist legitim (ebenso: Leibholz/Rinck, GG, Stand: Dezember 1985, Art. 9 Rz 7). Auch nach dem Gleichheitssatz des Art. 3 GG kann der nicht organisierte Arbeitnehmer nicht die Gleichstellung mit tarifgebundenen Arbeitnehmern verlangen (Die von den Parteien zitierte Entscheidung des Senats vom 20. Juli 1960 - 4 AZR 199/59 -, AP Nr. 7 zu § 4 TVG ist insoweit nicht einschlägig, da sie nur den hier nicht interessierenden arbeitsvertraglichen Gleichbehandlungsgrundsatz betrifft).
Andernfalls wären die Koalitionen in ihrem durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Bestand gefährdet, weil für die meisten Arbeitnehmer kein vernünftiger Grund mehr bestände, einer Koalition beizutreten oder ihr weiter anzugehören. Im übrigen besteht für die Differenzierung zwischen nicht organisierten und tarifgebundenen Arbeitnehmern ein sachlicher Grund. Denn das Tarifvertragsgesetz räumt nur dem tarifgebundenen Arbeitnehmer aufgrund seiner Organisationszugehörigkeit einen unabdingbaren Anspruch auf die tariflichen Leistungen ein (§ 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG). Dem nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer steht ein solcher unabdingbarer Anspruch nicht zu.
Die Ausfüllung des Anspruchsrahmens von 2 % der Arbeitnehmer des Betriebs ausschließlich mit tarifgebundenen Arbeitnehmern würde den Kernbereich der negativen Koalitionsfreiheit berühren und einen sozial inadäquaten Druck auf den nicht und anders organisierten Arbeitnehmer ausüben, der tarifschließenden Gewerkschaft beizutreten. Der nicht oder anders organisierte Arbeitnehmer kann zwar auch außerhalb des Anspruchsrahmens von 2 % mit dem Arbeitgeber eine freiwillige Vorruhestandsregelung vereinbaren. Auf diese Möglichkeit weist § 2 Ziff. 2 Abs. 2 VRTV sogar ausdrücklich hin. Mit der Festlegung des Anspruchsrahmens von 2 % der Arbeitnehmer des Betriebs ist aber für die Textilindustrie nach dem zuvor Ausgeführten von einer finanziellen Belastungsgrenze für die Arbeitgeber dieses Tarifbereichs auszugehen. Wegen der damit verbundenen finanziellen Belastung wird ein Arbeitgeber nur in Ausnahmefällen von der Möglichkeit Gebrauch machen, über die Zwei-Prozent-Grenze hinaus freiwillige Vorruhestandsregelungen zu treffen. Damit ist den anders und nicht organisierten Arbeitnehmern, wenn sich genügend organisierte Arbeitnehmer zur Ausfüllung des tariflichen Anspruchsrahmens für den Vorruhestand bewerben, der Eintritt in den Vorruhestand praktisch verwehrt oder doch zumindest erheblich erschwert. Dies stellt einen sozial inadäquaten Druck auf die Arbeitnehmer dar, der vertragsschließenden Gewerkschaft beizutreten.
Der nicht tarifgebundene Arbeitnehmer hat zwar keinen tariflichen Anspruch auf Eintritt in den Vorruhestand. Kann der Arbeitgeber aber freiwillige Ruhestandsvereinbarungen mit Außenseitern auf den Anspruchsrahmen von 2 % anrechnen, wird er eher zum Abschluß einer Ruhestandsvereinbarung mit einem Außenseiter bereit sein, weil er aufgrund der tariflichen Regelung ohnehin mit 2 % der Arbeitnehmer des Betriebs eine Vorruhestandsvereinbarung treffen muß und ihn daher der Abschluß einer Vorruhestandsregelung mit einem Außenseiter nicht zusätzlich finanziell belastet. Hingegen wird die Bereitschaft des Arbeitgebers zum Abschluß einer freiwilligen Ruhestandsvereinbarung mit einem Außenseiter erheblich sinken, wenn die Ruhestandsvereinbarung über die Zwei-Prozent-Grenze hinaus zu einer zusätzlichen finanziellen Belastung des Arbeitgebers führt. Diese finanzielle Belastung kann der Arbeitgeber vermeiden, wenn er auf den Abschluß einer Vorruhestandsvereinbarung verzichtet. Vor allem deshalb stellt der Ausschluß der anders oder nicht organisierten Arbeitnehmer aus dem tariflichen Anspruchsrahmen von 2 % der Arbeitnehmer des Betriebs gegenüber den tarifgebundenen Arbeitnehmern eine erhebliche Erschwerung des Eintritts in den Vorruhestand dar, die einen sozial inadäquaten Druck auf den Außenseiter zum Beitritt in die vertragsschließende Gewerkschaft ausübt und maßgeblich dazu führt, alle Arbeitnehmer, auch anders oder nicht Organisierte bei der Berücksichtigung der Belastungsgrenze einzubeziehen.
Der Vorruhestand bedeutet für den Arbeitnehmer einen wichtigen Einschnitt in seinem Leben, da er einerseits aus dem Erwerbsleben ausscheidet und andererseits bereits vorzeitig vom Arbeitgeber eine der Altersversorgung gleichwertige Rentenleistung (Vorruhestandsgeld) erhält. Wenn Arbeitnehmer einen solchen Vorruhestand als Vorteil für sich ansehen, bedeutet der Ausschluß oder die erhebliche Erschwerung des Vorruhestands für sie einen schwerwiegenden Nachteil. Erfolgt der Ausschluß oder die Erschwerung des Vorruhestands nur deshalb, weil sie nicht bei der vertragsschließenden Gewerkschaft organisiert sind, ist ihre negative Koalitionsfreiheit im Kernbereich berührt. Einen für sie besonders wichtigen Vorteil aus dem Arbeitsverhältnis können sie nur durch Beitritt zu der vertragsschließenden Gewerkschaft in Anspruch nehmen. Darin liegt ein unzulässiger Druck auf die betreffenden Arbeitnehmer.
Entgegen der Auffassung des Klägers führt die Berücksichtigung von Vorruhestandsregelungen anders oder nicht organisierter Arbeitnehmer für die Ausfüllung des Anspruchsrahmens des § 2 Ziff. 2 Abs. 1 VRTV nicht zu einer Verringerung tariflicher Ansprüche und Eingriffe in Besitzstände. Vielmehr erwachsen Ansprüche der tarifgebundenen Arbeitnehmer von vornherein nur in dem Rahmen, wie er sich aus der verfassungskonformen Auslegung des § 2 Ziff. 2 Abs. 1 VRTV ergibt (Schmidt, NZA 1986, 625, 627). Insoweit liegt auch entgegen der Auffassung von Koberski- Ansey (NZA 1986, 409, 411 f.) kein Verstoß gegen die positive Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG vor. Tarifgebundene Arbeitnehmer werden nicht benachteiligt, wenn der Tarifvertrag selbst Vorruhestandsansprüche dadurch begrenzt, daß er für die Ausfüllung des Anspruchsrahmens des § 2 Ziff. 2 Abs. 1 VRTV auch die Berücksichtigung von Vorruhestandsregelungen anders und nicht organisierter Arbeitnehmer zuläßt.
Wenn der Kläger mit seinem Argument, durch freiwillige Vorruhestandsregelungen würden tarifliche Ansprüche beschnitten, geltend machen will, der Arbeitgeber könne durch freiwillige Vorruhestandsvereinbarungen die tarifgebundenen Arbeitnehmer "ausbooten", so ist dies aus zwei Gründen nicht richtig. Der Arbeitgeber kann nicht wahllos mit anders und nicht organisierten Arbeitnehmern Vorruhestandsvereinbarungen vereinbaren, um sie zur Ausfüllung des Anspruchsrahmens von 2 % zu verwenden. Vielmehr können im Rahmen des VRTV nur solche Vorruhestandsregelungen berücksichtigt werden, die den Bedingungen des VRTV entsprechen (Vollendung des 58. Lebensjahres, mindestens ununterbrochene Betriebszugehörigkeit von fünf Jahren, Vorruhestandsgeld in Höhe von 75 % des letzten Bruttomonatsverdienstes gemäß § 5 VRTV).
Vor allem aber gehört es zur zutreffenden Anwendung der Ausfüllung des Anspruchsrahmens von 2 % der Arbeitnehmer des Betriebs nach Sinn und Zweck der tariflichen Regelung des VRTV unter Berücksichtigung der nach Art. 9 Abs. 3 GG garantierten positiven und negativen Koalitionsfreiheit, daß der Arbeitgeber die Auswahl unter den Bewerbern ohne Rücksicht auf die Organisationszugehörigkeit nach einheitlichen Kriterien vorzunehmen hat.
Insoweit ist die vorliegende tarifliche Regelung für die Auswahl unter den Bewerbern bei mehr Bewerbungen als von 2 % der Arbeitnehmer des Betriebs lückenhaft. In der tariflichen Regelung nach § 2 VRTV wird in Ziffer 3 lediglich festgelegt, daß Vorruhestandsregelungen bevorzugt mit solchen Arbeitnehmern zu treffen sind, bei denen eine Wiederbesetzung des Arbeitsplatzes möglich ist. Ferner sieht eine Übereinkunft der Tarifvertragsparteien, die schriftlich niedergelegt und von den Tarifvertragsparteien am 15. Juni 1984 unterzeichnet wurde, vor, daß der Arbeitgeber dem Eintritt in den Vorruhestand widersprechen kann, wenn durch gemeinsames Ausscheiden von mehreren Arbeitnehmern mit gleicher Qualifikation aus demselben Tätigkeitsbereich die Aufrechterhaltung der Produktion gefährdet würde. Dieser Übereinkunft kommt ebenso wie einer Protokollnotiz oder einer authentischen Interpretation Tarifnormcharakter zu (vgl. Wiedemann/Stumpf, aaO, § 1 Rz 422, 428). Von einem Widerspruchsrecht im Sinne der Übereinkunft hat die Beklagte gegenüber dem Kläger keinen Gebrauch gemacht. Weitere Kriterien, nach denen die Auswahl unter mehreren Bewerbern für den Vorruhestand vorzunehmen ist, sind im Tarifvertrag nicht ausdrücklich geregelt.
Haben aber damit die Tarifvertragsparteien anders als bei anderen tariflichen Regelungen (vgl. z. B. § 4 des Tarifvertrags über Vorruhestand und Alters-Teilzeitarbeit für die chemische Industrie vom 1. März 1985) keine Reihenfolge für den Vorrang mehrerer Berechtigter festgelegt, muß diese Lücke unter Berücksichtigung der durch Art. 9 Abs. 3 GG garantierten positiven und negativen Koalitionsfreiheit dahingehend geschlossen werden, daß Auswahlkriterien herangezogen werden müssen, die die Zugangschancen zum Vorruhestand ohne Rücksicht auf Tarifgebundenheit, anderweite Tarifgebundenheit oder Außenseitereigenschaft gleichermaßen gewährleisten. Das kann nach Sinn und Zweck des VRTV nur eine Auswahl nach dem Zeitpunkt des Entstehens des Anspruchs auf Eintritt in den Vorruhestand sein. Derjenige, der zuerst die tariflichen Voraussetzungen für den Eintritt in den Vorruhestand erfüllt, ist gegenüber Bewerbern zu bevorzugen, die diese Voraussetzungen erst zu einem späteren Zeitpunkt erfüllen. Der VRTV will den älteren Arbeitnehmer, nach Vollendung des 58. Lebensjahres und fünfjähriger Betriebszugehörigkeit, schützen und ihm den Eintritt in den Vorruhestand ermöglichen. Wer nach dem VRTV zuerst den Anspruch auf Eintritt in den Vorruhestand erwirbt, verdient daher grundsätzlich mehr Schutz als derjenige, dem der Anspruch erst zu einem späteren Zeitpunkt zuwächst. Der Grundsatz, daß das ältere Recht dem jüngeren vorgeht, ist der Rechtsordnung nicht fremd. Im Pfändungsrecht und Sachenrecht geht unter mehreren Pfändungen bzw. Pfandrechten jeweils das ältere Recht vor (§ 804 Abs. 3 ZPO und § 1209 BGB), während im Schuldrecht im Zweifel unter mehreren fälligen Schulden zuerst die ältere Schuld getilgt wird (§ 366 Abs. 2 BGB).
Diese zweckorientierte Anwendung des VRTV wird mangels anderweiter tariflicher Regelung auch den Grundrechten der positiven und negativen Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG gerecht. Beide Grundrechte stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Derjenige, der einer Koalition beitritt, darf nicht deshalb gegenüber Außenseitern sozial inadäquat benachteiligt werden. Derjenige, der einer Koalition fernbleibt, darf nicht deshalb gegenüber Tarifgebundenen sozial inadäquat benachteiligt werden. Für die tariflichen Regelungen des VRTV bedeutet dies, daß Tarifgebundenen und Außenseitern (nicht oder anders organisierten Arbeitnehmern) der gleiche Zugang zum Eintritt in den Vorruhestand gewährleistet sein muß. Tarifgebundene und Außenseiter müssen die gleichen Chancen haben. Die Auswahl unter mehreren Bewerbern darf nicht nach Kriterien erfolgen, die an die Organisationszugehörigkeit des Arbeitnehmers oder an sein Fernbleiben von einer Koalition anknüpfen. Dieser Grundsatz wird nach der vom Senat vorgenommenen Auslegung des VRTV beachtet. Der Vorrang des älteren Rechts ist unabhängig von einer Organisationszugehörigkeit des Arbeitnehmers oder seinem Fernbleiben von einer Koalition. Er knüpft an objektive Kriterien, Lebensalter und Dauer der Betriebszugehörigkeit an und verhindert damit willkürliche Manipulationen zu Lasten von organisierten oder nicht organisierten Arbeitnehmern. Außerdem entspricht er allgemeinen Grundsätzen der Gesamtrechtsordnung.
Zwar ist nach Art. 9 Abs. 3 GG nur geboten, daß Tarifgebundenen und Außenseitern der gleiche Zugang zum Eintritt in den Vorruhestand gewährleistet sein muß. Deshalb steht es den Tarifvertragsparteien frei, für die Auswahl unter mehreren Bewerbern um den Eintritt in den Vorruhestand andere Kriterien aufzustellen, sofern sie nur für Tarifgebundene und Außenseiter den gleichen Zugang zum Eintritt in den Vorruhestand gewährleisten. Fehlen aber solche Kriterien, ist hier auf den Zeitpunkt des Anspruchserwerbs abzustellen.
Der Vorrang des älteren Rechts bedeutet nicht, daß damit Außenseiter, die die tariflichen Voraussetzungen für den Eintritt in den Vorruhestand erfüllen, allein deshalb einen entsprechenden Anspruch erwerben. Dies würde gegen das Grundrecht der positiven Koalitionsfreiheit verstoßen, weil dadurch der Bestand bestehender Koalitionen gefährdet würde. Vielmehr können Außenseiter nur bei Allgemeinverbindlicherklärung oder kraft einzelvertraglicher Vereinbarung des VRTV einen Anspruch auf Eintritt in den Vorruhestand geltend machen. Nur unter dieser Voraussetzung können sich Außenseiter unter Mitbewerbern auf das ältere Recht berufen.
Der Grundsatz des Vorrangs des älteren Rechts wird durch das Prinzip des Vertrauensschutzes begrenzt. Derjenige, der seinen Anspruch auf Eintritt in den Vorruhestand erst zu einem Zeitpunkt geltend macht, in dem der Arbeitgeber bereits mit einem nachrangigen Bewerber eine Vorruhestandsvereinbarung abgeschlossen hat, muß diese Vorruhestandsregelung grundsätzlich gegen sich gelten lassen. Der Abschluß einer Vorruhestandsvereinbarung bedeutet für den betreffenden Arbeitnehmer, daß er alsbald aus dem Erwerbsleben ausscheidet und die dadurch gewonnene Freizeit anderweitig einsetzen kann. Er kann entsprechende Vorbereitungen treffen, Reisen oder einen Wohnungswechsel planen oder auch nur die Ausübung von Hobbys vorbereiten. Das Vertrauen, daß die abgeschlossene Vorruhestandsvereinbarung auch durchgeführt wird, ist schutzwürdig. Es gilt der Grundsatz: Pacta sunt servanda. Insbesondere braucht ein Arbeitnehmer auch nicht ohne weiteres damit zu rechnen, daß ein vorrangiger Arbeitskollege noch nach ihm den Eintritt in den Vorruhestand begehrt. Denn niemand ist gezwungen, sein Recht auf Eintritt in den Vorruhestand in Anspruch zu nehmen. Andererseits kann der vorrangige Bewerber, der seinen Anspruch auf Eintritt in den Vorruhestand erst nach Abschluß der Vorruhestandsvereinbarung mit einem nachrangigen Arbeitskollegen geltend macht, vom Arbeitgeber nicht verlangen, daß dieser mit ihm allein wegen seines älteren Rechts eine Vorruhestandsvereinbarung über den tariflichen Anspruchsrahmen (2 % der Arbeitnehmer des Betriebs) hinaus trifft. Es ist Sache des einzelnen Arbeitnehmers, seinen Anspruch auf Eintritt in den Vorruhestand so rechtzeitig geltend zu machen, daß er mit seinem älteren Recht zum Zuge kommt.
Hingegen ist einem Bewerber vor dem Abschluß einer Vorruhestandsvereinbarung kein Vertrauensschutz zuzubilligen, daß seine Bewerbung auf Eintritt in den Vorruhestand Erfolg hat. Die zeitliche Reihenfolge der Anträge auf Abschluß einer Vorruhestandsvereinbarung ist für die Rangfolge der Bewerber unerheblich. Ein Arbeitnehmer kann mit einer frühzeitigen Bewerbung Arbeitskollegen mit älteren Rechten nicht verdrängen. Erst wenn eine Vorruhestandsvereinbarung abgeschlossen ist, kann sich ein Arbeitnehmer auf seinen Vorruhestand einrichten. Vorher wird er oft die Zahl seiner Mitbewerber und die ihm vorgehenden Rechte überhaupt nicht kennen, so daß er noch nicht einmal seine Chancen auf Eintritt in den Vorruhestand beurteilen kann. Ein schutzwürdiges Vertrauen besteht jedenfalls für ihn nicht.
Die vom Senat aufgestellten Grundsätze stehen unter dem Vorbehalt des Rechtsmißbrauchs. Rechtsmißbräuchliches Verhalten ist nicht schutzwürdig. Dem Arbeitgeber ist es daher verwehrt, durch rechtsmißbräuchliche Vertragsgestaltung die Rangfolge der Bewerber für den Vorruhestand zu manipulieren. So wäre es etwa rechtsmißbräuchlich, wenn der Arbeitgeber auf den Anspruchsrahmen von 2 % der Arbeitnehmer des Betriebs solche Vorruhestandsvereinbarungen mit Außenseitern anrechnen wollte, mit denen er ungünstigere Bedingungen vereinbart hat, als sie der VRTV vorsieht, z. B. ein geringeres Vorruhestandsgeld. Denn nach dem Willen der Tarifvertragsparteien stellt der Anspruchsrahmen von 2 % der Arbeitnehmer des Betriebs zwar die dem Arbeitgeber zugemutete finanzielle Obergrenze dar, aber nur dann, wenn er für diese Arbeitnehmer auch die tariflichen Leistungen erbringt.
Ferner kann es rechtsmißbräuchlich sein, wenn der Arbeitgeber mit einem Arbeitnehmer lange vor dessen Eintritt in den Vorruhestand eine Vorruhestandsvereinbarung abschließt und dadurch ein Arbeitnehmer mit älteren Rechten verdrängt würde. Es liegt deshalb nahe, Vorruhestandsvereinbarungen, die nachträglich dem Vorrang des älteren Rechts nicht gerecht werden, nur dann zur Ausfüllung des tariflichen Anspruchsrahmens zu berücksichtigen, wenn sie angemessene Zeit vor dem Eintritt in den Vorruhestand abgeschlossen werden. Welche Zeitspanne hierbei als noch angemessen anzusehen ist, kann vorliegend offenbleiben.
Die von der Beklagten getroffene Auswahl ist nicht wegen Verstoßes gegen Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats unwirksam. Dem Betriebsrat steht bei der Auswahl der Bewerber für den Vorruhestand nach dem VRTV kein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 8 oder 10 BetrVG oder einer anderen Bestimmung des § 87 Abs. 1 BetrVG zu. Denn die Reihenfolge der Bewerber ergibt sich vorliegend aus einer zweckorientierten Auslegung des VRTV unter Berücksichtigung der Grundrechte der Koalitionsfreiheit. Damit besteht für die Auswahl der Bewerber eine abschließende tarifliche Regelung, die nach § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats ausschließt. Es ist insoweit kein Regelungsbedarf und kein Regelungsspielraum vorhanden. Hingegen könnte der bloße Informationsanspruch des Betriebsrats nach § 3 Ziff. 4 VRTV Mitbestimmungsrechte nach § 87 Abs. 1 Nr. 8 oder 10 BetrVG nicht verdrängen; insoweit liegt überhaupt keine tarifliche Regelung über die zu treffende Auswahl der Bewerber vor.
Nach diesen Grundsätzen steht dem Kläger aufgrund der in der Revisionsinstanz unstreitig gewordenen Reihenfolge der anspruchsberechtigten Arbeitnehmer ein Anspruch auf Eintritt in den Vorruhestand nicht zu. Zwar hat das Landesarbeitsgericht übersehen, daß nach den Feststellungen im unstreitigen Tatbestand des arbeitsgerichtlichen Urteils, den das Landesarbeitsgericht in Bezug genommen hat, der Kläger bereits im November 1984 seine Rechte auf Eintritt in den Vorruhestand geltend gemacht hat. Damit mußte darauf abgestellt werden, ob zum frühestmöglichen Zeitpunkt des 1. Januar 1985 andere Arbeitnehmer ältere Rechte auf Vorruhestand hatten und von diesen Rechten auch Gebrauch machten. Das ist aber der Fall gewesen. Unstreitig sind bereits im November 1984 Vorruhestandsverträge zum 1. Januar bzw. 1. Februar 1985 mit 16 Arbeitnehmern der Beklagten abgeschlossen worden, die die Voraussetzungen erfüllten und sämtlich älter als der Kläger waren. Ihnen gegenüber hatte daher der Kläger auch dann keinen vorrangigen Anspruch auf Eintritt in den Vorruhestand, wenn man von seiner Antragstellung im November 1984 ausgeht. Nachdem diese Tatsachen in der Revisionsinstanz unstreitig geworden sind, bedurfte es zu ihrer Feststellung auch keiner Zurückverweisung an das Landesarbeitsgericht mehr. Die Klage war vielmehr im Ergebnis zutreffend auch dann vom Landesarbeitsgericht abgewiesen worden, wenn man von der Antragstellung des Klägers im November 1984 ausgeht.
Die Revision war deshalb mit der Kostenfolge des § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.
Dr. Neumann Dr. Etzel Dr. Freitag
Prieschl Dr. Konow
Fundstellen