Entscheidungsstichwort (Thema)
Vergütungsanspruch des Arbeitnehmers für die Zeit bis zur Entbindung des Arbeitgebers von der Weiterbeschäftigungspflicht gemäß § 102 Abs. 5 Satz 2 BetrVG durch das Rechtsmittelgericht
Leitsatz (redaktionell)
Parallelverfahren zu 2 AZR 432/95
Normenkette
BetrVG § 102 Abs. 5; BGB §§ 615, 812
Verfahrensgang
LAG Hamburg (Urteil vom 29.06.1995; Aktenzeichen 2 Sa 89/94) |
ArbG Hamburg (Urteil vom 27.01.1994; Aktenzeichen 14 Ca 316/93) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamburg vom 29. Juni 1995 – 2 Sa 89/94 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Der Kläger ist seit Januar 1967 bei der Beklagten beschäftigt, zuletzt als technischer Arbeitsvorbereiter in der Satzproduktion. Mit Schreiben vom 23. Juni 1992 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 31. Dezember 1992. Der Kündigungsschutzklage hat das Landesarbeitsgericht mit einem noch nicht rechtskräftigen Urteil stattgegeben.
Trotz Widerspruchs des Betriebsrats gegen die Kündigung hatte die Beklagte die vom Kläger verlangte Weiterbeschäftigung abgelehnt. Durch Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg vom 14. Januar 1993 – 14 Ga 19/92 – wurde die Beklagte jedoch im Wege der einstweiligen Verfügung zur Weiterbeschäftigung des Klägers verpflichtet. Daraufhin zahlte sie für die Zeit vom 1. Januar 1993 bis 30. September 1993 Vergütung unter dem Vorbehalt der Rückforderung, ohne den Kläger tatsächlich zu beschäftigen. Durch Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamburg vom 21. Oktober 1993 – 2 Sa 56/93 – wurde das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Beklagte von der Weiterbeschäftigungspflicht entbunden.
Im vorliegenden Verfahren hat der Kläger zunächst weitere Vergütungsansprüche geltend gemacht, die in der Revisionsinstanz nicht mehr anhängig sind. Mit der Widerklage begehrt die Beklagte die Verurteilung des Klägers zur Rückzahlung der unter Vorbehalt gewährten Vergütung.
Die Beklagte hat die Ansicht vertreten, mit der Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts und ihrer Entbindung von der Weiterbeschäftigungspflicht durch das Landesarbeitsgericht sei der Rechtsgrund für die Leistung der Vergütung ab 15. Januar 1993 entfallen. Dies folge aus der kassatorischen Wirkung des zweitinstanzlichen Urteils. Da der Kläger nicht tatsächlich beschäftigt worden sei, bestünden auch keine Vergütungsansprüche aus einem faktischen Arbeitsverhältnis.
Die Beklagte hat zuletzt beantragt,
den Kläger zu verurteilen, an die Beklagte 71.383,53 DM zuzüglich 4 % Zinsen p.a. auf 45.877,22 DM seit 15. November 1993 sowie 4 % Zinsen p.a. auf 25.506,31 DM seit dem 13. Januar 1994 zu zahlen.
Der Kläger hat beantragt, die Widerklage abzuweisen.
Er hat diesen Antrag damit begründet, die Entbindungsentscheidung sei ein Gestaltungsurteil, das nur für die Zukunft wirke.
Das Arbeitsgericht hat die Widerklage abgewiesen. Die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht zurückgewiesen.
Entscheidungsgründe
Die vom Landesarbeitsgericht zugelassene Revision der Beklagten ist unbegründet. Die Beklagte schuldete die geleistete Vergütung gemäß § 615 BGB und kann sie nicht gemäß § 812 Abs. 1 BGB zurückfordern.
I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Ansprüche des Klägers bestünden aus dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs. Dies folge bereits aus dem Urteil der Kammer, mit dem sie der Kündigungsschutzklage stattgegeben habe und an das sie auch im vorliegenden Rechtsstreit gebunden sei. Selbst wenn man aber von der Wirksamkeit der Kündigung ausgehe, sei die Vergütungszahlung mit Rechtsgrund erfolgt, weil die Beklagte in dem gemäß § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG fortbestehenden Arbeitsverhältnis die Arbeitsleistung des Klägers nicht angenommen habe. Bei der Entbindung von der Weiterbeschäftigungspflicht handele es sich um ein Gestaltungsurteil, das mangels anderweitiger gesetzlicher Regelung nur für die Zukunft wirke und den Rechtsgrund für die Leistung der Vergütung nicht rückwirkend beseitige.
II. Das Urteil hält den Angriffen der Revision stand.
Zwischen den Parteien steht außer Streit, daß die Voraussetzungen des § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG vorlagen. Danach hatte der Kläger Ansprüche auf Beschäftigung und Vergütung nach den Bedingungen des bisherigen Arbeitsverhältnisses, ohne daß es auf die Wirksamkeit der Kündigung vom 23. Juni 1992 ankam (vgl. BAGE 54, 232, 237 = AP Nr. 1 zu § 611 BGB Weiterbeschäftigung, zu I 4 der Gründe). Wird unter den Voraussetzungen des § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG der Arbeitnehmer wie hier tatsächlich nicht beschäftigt, so gerät der Arbeitgeber als Gläubiger der Arbeitsleistung regelmäßig in Annahmeverzug, §§ 615, 293 ff. BGB (vgl. BAG Urteil vom 12. September 1985 – 2 AZR 324/84 – AP Nr. 7 zu § 102 BetrVG 1972 Weiterbeschäftigung, zu B II 3 b und C der Gründe; Dietz/Richardi, BetrVG, 6. Aufl., § 102 Rz 216; KR-Etzel, 4. Aufl., § 102 BetrVG Rz 218; Kittner/Trittin, KSchR, 2. Aufl., § 102 BetrVG Rz 275). Auch vorliegend sind die Vergütungsansprüche des Klägers nach den genannten Vorschriften unstreitig entstanden. Sie sind entgegen der Ansicht der Revision nicht durch die Entbindung der Beklagten von der Weiterbeschäftigungspflicht rückwirkend wieder entfallen. Die Beklagte hat also nicht ohne Rechtsgrund geleistet.
Wie das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt hat und auch die Revision nicht in Zweifel zieht, handelt es sich bei der Entbindung von der Weiterbeschäftigungspflicht gemäß § 102 Abs. 5 BetrVG um eine rechtsgestaltende Entscheidung. Eine sogenannte Gestaltungsklage, über die dann durch Gestaltungsurteil zu entscheiden ist, liegt immer dann vor, wenn die begehrte Rechtsfolge eine Veränderung der Rechtslage erfordert, die vom Gericht vorgenommen werden muß. § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG begründet einen gesetzlichen Weiterbeschäftigungsanspruch, den der Arbeitgeber nicht durch einseitige Willenserklärung beseitigen kann; vielmehr bedarf er gemäß § 102 Abs. 5 Satz 2 BetrVG der Hilfe des Gerichts, wenn er gegen den Willen des Arbeitnehmers von der Weiterbeschäftigungspflicht loskommen will. Erst der Erlaß der entsprechenden einstweiligen Verfügung ändert die materielle Rechtslage.
Der Senat folgt dem Landesarbeitsgericht auch darin, daß diese Änderung ex nunc wirkt. Die gegenteilige Ansicht der Revision wird zwar in der Literatur von Stege/Weinspach (BetrVG, 7. Aufl., § 102 Rz 191) geteilt. Dort wird allerdings ohne eigene Begründung lediglich auf das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 28. Februar 1974 – 7 Sa 109/73 – verwiesen. Die genannte Entscheidung geht jedoch – entgegen der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (Urteil vom 12. September 1985 – 2 AZR 324/84 –, a.a.O.) – davon aus, ein Anspruch des Arbeitnehmers auf Vergütung bestehe nur bei tatsächlicher Beschäftigung (vgl. auch Meisel, Die Mitwirkung und Mitbestimmung des Betriebsrats in personellen Angelegenheiten, 5. Aufl., Rz 591). Damit wird verkannt, daß unter den Voraussetzungen des § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG das bisherige Arbeitsverhältnis kraft Gesetzes fortbesteht, freilich auflösend bedingt durch die rechtskräftige Abweisung der Kündigungsschutzklage (vgl. BAG, a.a.O., m.w.N.; KR-Etzel, a.a.O., Rz 215 ff.). Deshalb können auch ohne tatsächliche Beschäftigung Vergütungsansprüche erwachsen, etwa bei Arbeitsunfähigkeit oder wie hier aus § 615 BGB.
Soll ein Gestaltungsurteil die Rechtslage rückwirkend ändern, bedarf es hierfür einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung (vgl. BAGE 32, 285, 291 f. = AP Nr. 9 zu § 78 a BetrVG 1972, zu II 4 der Gründe, m.w.N.; BAGE 63, 319, 325 f. = AP Nr. 20 zu § 78 a BetrVG 1972, zu II 1 b der Gründe). Für die Entbindung von der Weiterbeschäftigungspflicht gemäß § 102 Abs. 5 Satz 2 BetrVG fehlt eine solche Regelung. Schon deshalb vermag sich der Senat der von der Revision vertretenen Rechtsansicht nicht anzuschließen, ohne daß es noch auf die von der Revision in Zweifel gezogene Parallele zu § 78 a BetrVG ankäme.
Im übrigen kann der Vorschrift des § 102 Abs. 5 Satz 2 BetrVG auch nicht im Wege der Auslegung entnommen werden, daß die Entbindung eine rückwirkende Änderung der Rechtslage bewirken soll. Entgegen der Ansicht der Revision folgt dies weder aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes noch aus Wertungswidersprüchen zur Rechtslage im umgekehrten Fall, d.h. bei einer Entbindung von der Weiterbeschäftigungspflicht durch das Arbeitsgericht und der Abänderung dieser Entscheidung durch das Landesarbeitsgericht.
§ 39 Abs. 4 des Gesetzentwurfs der CDU/CSU-Fraktion (BT Drucks. VI/1806), auf den die Regelung des § 102 Abs. 5 BetrVG zurückgeht, hatte formuliert, der Arbeitgeber könne „im Wege der einstweiligen Verfügung beantragen, daß die Rechtsfolge des Absatzes 3 nicht eintritt”. In Absatz 3 war das Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses „mindestens bis zum rechtskräftigen Abschluß des Rechtsstreits” vorgesehen. Schon diese Formulierungen waren nicht eindeutig. § 39 Abs. 4 des Entwurfs dürfte von der Vorstellung ausgegangen sein, daß einstweiliger Rechtsschutz noch vor Ablauf der Kündigungsfrist zu erlangen sei. Dazu kommt die Zeitangabe in Absatz 3 in Verbindung mit dem Wort „mindestens”. Es ließe sich die Auffassung vertreten, schon die nach dem CDU/CSU-Entwurf vorgesehene einstweilige Verfügung habe das fortbestehende Arbeitsverhältnis ex nunc beenden und lediglich verhindern sollen, daß die in Absatz 3 genannte zeitliche Mindestdauer des Fortbestehens des Arbeitsverhältnisses eintritt. Auch die weiteren Gesetzesmaterialien geben keinen Anhaltspunkt dafür, daß der Gesetzgeber § 39 Abs. 4 des CDU/CSU-Entwurfs im Sinne einer rückwirkenden Auflösung des nach Absatz 3 fortbestehenden Arbeitsverhältnisses verstanden hat und diese Rückwirkung für § 102 Abs. 5 BetrVG übernehmen wollte.
Ob die Entbindung von der Weiterbeschäftigungspflicht durch das Arbeitsgericht wegen der Besonderheiten des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes sofort oder erst mit Rechtskraft der Entscheidung wirkt, kann offenbleiben. Wertungswidersprüche zu der vorliegend verneinten Rückwirkung der Entbindung durch das Landesarbeitsgericht ergeben sich weder im einen noch im anderen Fall. Würde man auf die Rechtskraft der rechtsgestaltenden Entbindungsentscheidung des Landesarbeitsgerichts abstellen, so wäre es konsequent, von einem Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses bis zur Rechtskraft der Entbindungsentscheidung des Arbeitsgerichts auszugehen, und für den Fall, daß die Entscheidung des Arbeitsgerichts form- und fristgerecht angefochten wird, eben von einem Fortbestehen bis zur Entscheidung des Landesarbeitsgerichts. Stellt man demgegenüber aufgrund des Umstands, daß die Entbindung von der Weiterbeschäftigungspflicht durch einstweilige Verfügung erfolgt, für die Beendigung des gemäß § 102 Abs. 5 Satz 1 BetrVG fortbestehenden Arbeitsverhältnisses auf den bloßen Erlaß der Entbindungsentscheidung ab, so befindet man sich hinsichtlich des Auflösungszeitpunktes im Einklang mit der von der Revision angeführten Literatur (KR-Etzel, 4. Aufl., § 102 BetrVG Rz 223 a, m.w.N. und MünchArb/Matthes, § 348, Rz 103, 105). Im Fall der Entbindung durch das Landesarbeitsgericht fällt der Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung und ihrer Rechtskraft zusammen (§§ 72 Abs. 4, 78 Abs. 2 ArbGG).
Unterschriften
Etzel, Bitter, Fischermeier, Rupprecht, Bartz
Fundstellen