Entscheidungsstichwort (Thema)
Anhörung des Betriebsrats vor Kündigung
Orientierungssatz
Auch die Zustimmung des Betriebsrats zu einer beabsichtigten Kündigung heilt nicht die auf unterbliebener oder unzureichender Mitteilung der Kündigungsgründe beruhende Fehlerhaftigkeit des Anhörungsverfahrens (vergleiche Senatsurteil vom 27.Juni 1985 - 2 AZR 412/84 = EzA § 102 BetrVG 1972 Nr 60, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts bestimmt).
Normenkette
ZPO §§ 138, 519, 528; BetrVG § 102; KSchG § 1 i.d.F des Gesetzes vom 25. September 1996 (BGBl. I S. 1476)
Verfahrensgang
LAG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 07.06.1985; Aktenzeichen 5 Sa 34/85) |
ArbG Ulm (Entscheidung vom 17.01.1985; Aktenzeichen 4 Ca 231/84 R) |
Tatbestand
Der am 20. September 1933 geborene, verheiratete und einem Kind unterhaltspflichtige Kläger war bei der Beklagten, die Schaumstoffe herstellt, seit Mitte 1980 gegen einen Stundenlohn von zuletzt 13,03 DM brutto als Arbeiter beschäftigt. Er war zunächst im Werk III in der Gummiplattenfertigung eingesetzt. Zwei im Juni 1981 und November 1982 durchgeführte arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen ergaben dauernde gesundheitliche Bedenken gegen seine Beschäftigung auf diesem Arbeitsplatz; in der zweiten Untersuchung wurde festgestellt, daß der Kläger nicht auf einem Arbeitsplatz mit Isocyanat-Expositionen beschäftigt werden dürfe. Die Beklagte setzte ihn zuletzt für Hof- und Verladearbeiten ein. Ein Versuch, den Kläger erneut im Werk III zu beschäftigen, scheiterte 1984 wiederum aus gesundheitlichen Gründen, nachdem in einem am 4. Oktober 1984 ausgestellten fachärztlichen Attest wiederum bescheinigt worden war, daß er - wegen einer chronischen, zeitweise spastischen Bronchitis - keine Arbeiten unter Isocyanat-Expositionen ausführen könne.
Ende Oktober 1984 legte die Beklagte eine Produktionsabteilung still. Zwei der dort eingesetzten fünf Arbeitnehmer entließ sie. Den seit 1976 bei ihr beschäftigten Arbeiter Salvatore D, der verheiratet, 30 Jahre alt und zwei Kindern unterhaltspflichtig ist, versetzte sie auf den Arbeitsplatz des Klägers. Dem Kläger kündigte sie mit Schreiben vom 31. Oktober 1984, das ihm am selben Tag zuging, fristgerecht zum 15. November 1984 mit folgender Begründung:
"...aufgrund betrieblicher Umorganisation sehen
wir uns leider gezwungen, das bestehende Ar-
beitsverhältnis ordnungsgemäß zum
15. November 1984
zu kündigen.
Leider war eine Umsetzung in die Abteilung
Werk III (alleine dies hätte Ihren Arbeits-
platz erhalten) nicht möglich, da Sie lt.
dem von Ihnen beigebrachten Attest vom
4. 10. 1984 aus gesundheitlichen Gründen
nicht dort beschäftigt werden können, dies
gilt auch für alle anderen Abteilungen in
unserem Werk I."
Das Schreiben enthält den handschriftlichen Vermerk "Der Betriebsrat, i. A." sowie die Unterschrift eines Betriebsratsmitglieds.
Mit der vorliegenden Klage wehrt sich der Kläger gegen diese Kündigung. Er hat vorgetragen, der Betriebsrat habe der Kündigung zugestimmt, und geltend gemacht, die Kündigung sei sozial ungerechtfertigt. Er hat beantragt
1. festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis
zwischen den Parteien durch die Kündigung
vom 31. Oktober 1984 nicht beendet ist
und über den 15. November 1984 hinaus
fortbesteht,
2. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger
zu den bisherigen Bedingungen weiterzu-
beschäftigen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat vorgetragen, der Betriebsrat habe der Kündigung nach eingehender Prüfung und Beratung mit Beschluß vom 24. Oktober 1984 zugestimmt. Sie habe im Zuge der durch die Stillegung einer Produktionsabteilung vorgenommenen Umorganisation den Arbeiter Salvatore D im Hof und in der Verladung eingesetzt, der aus gesundheitlichen Gründen vorwiegend im Freien beschäftigt werden solle und sozial schutzwürdiger sei als der Kläger.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen.
In der Berufungsinstanz hat der Kläger die Ordnungsmäßigkeit der Anhörung des Betriebsrats mit Nichtwissen bestritten und vorgetragen, dies gelte auch hinsichtlich der Gründe, die zur sozialen Auswahl geführt hätten.
Die Kündigung sei aber auch sozial ungerechtfertigt. Der Vortrag der Beklagten zur Betriebsbedingtheit sei unschlüssig, da sein Arbeitsplatz nicht weggefallen und eine Austauschkündigung grundsätzlich unzulässig sei. Er hätte in die Presserei versetzt werden können. Die Beklagte habe aber auch die soziale Auswahl unrichtig vorgenommen. Da sie einen Arbeitnehmer aus der Produktion auf seinen Arbeitsplatz versetzt habe, hätte sie alle vergleichbaren Arbeitnehmer aus der Produktion in die Auswahl einbeziehen und deren Sozialdaten vortragen müssen.
Die Beklagte hat gerügt, die Einwendungen des Klägers gegen die Anhörung des Betriebsrats seien nicht zuzulassen, weil sie aus grober Nachlässigkeit erstmals in der Berufungsinstanz erhoben worden seien und ihre Berücksichtigung den Rechtsstreit verzögern würde. Im übrigen habe sie dem Betriebsrat von sich aus auch die Gründe mitgeteilt, die sie zur Auswahl gerade des Klägers veranlaßt hätten.
Zur sozialen Rechtfertigung der Kündigung hat die Beklagte weiter vorgetragen, sie habe im Zuge der Stillegung der Produktionsabteilung neben dem Kläger drei weitere Arbeitnehmer entlassen, zwei Arbeiter in das Werk III und einen weiteren Arbeiter in die Abteilung Doppelband umgesetzt. Der Arbeiter Salvatore D könne aus gesundheitlichen Gründen nur im Freien beschäftigt werden. Auch der Kläger sei wegen seines Gesundheitszustandes für keine der sonst in ihrem Betrieb anfallenden Tätigkeiten geeignet, auch nicht für einen Einsatz in der Presserei, weil er auch dort unter Isocyanat-Expositionen arbeiten müßte.
Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen.
Mit der Revision verfolgt der Kläger seine Klageanträge weiter. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht, weil noch aufgeklärt werden muß, ob der Betriebsrat zu der Kündigung der Beklagten ordnungsgemäß angehört worden ist.
I. Das Berufungsgericht hat die Kündigung der Beklagten für rechtswirksam angesehen und seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt begründet:
Soweit der Kläger die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats lediglich mit Nichtwissen bestreite, genüge dies nicht der Formvorschrift des § 519 Abs. 3 Nr. 2 ZPO, nach der die Berufungsbegründung die bestimmte Bezeichnung der im einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung sowie der neuen Tatsachen enthalten muß, die die Partei zur Rechtfertigung ihrer Berufung anzuführen hat.
Die Kündigung sei aber auch gemäß § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt. Es sei unstreitig, daß die Beklagte Ende Oktober 1984 eine Produktionsabteilung stillgelegt habe. Diese unternehmerische Entscheidung könne gerichtlich nur daraufhin überprüft werden, ob sie offenbar unsachlich, unvernünftig oder willkürlich sei. Hierzu habe der Kläger jedoch nichts vorgetragen. Die Stillegung habe auch einer Weiterbeschäftigung der dort eingesetzten fünf Arbeitnehmer entgegengestanden, weil sie nicht auf andere, freie Arbeitsplätze im Betrieb hätten umgesetzt werden können. Auch insoweit habe der Kläger nichts Gegenteiliges vorgetragen.
In die nunmehr vorzunehmende soziale Auswahl habe die Beklagte sämtliche im Betrieb beschäftigten vergleichbaren Arbeitnehmer und somit auch den Arbeitnehmer Salvatore D einbeziehen müssen. Ihre Entscheidung, ihn auf den Arbeitsplatz des Klägers umzusetzen und den Kläger zu entlassen, sei deshalb dem Grunde nach zulässig und auch im Ergebnis rechtlich nicht zu beanstanden. Die Gerichte könnten die soziale Auswahl nur daraufhin überprüfen, ob der Arbeitgeber soziale Gesichtspunkte zumindest ausreichend berücksichtigt habe. Danach habe die Beklagte ihre Pflicht zur sozialen Auswahl nicht verletzt. Der Kläger sei zwar erheblich älter als der Arbeiter Salvatore D, dieser sei aber doppelt so lange wie der Kläger im Betrieb beschäftigt und habe für zwei unterhaltsberechtigte Kinder zu sorgen. Der Arbeiter Salvatore D könne, was unstreitig geblieben sei, ebenso wie der Kläger nur im Freien eingesetzt werden. Der Kläger könne wegen seines Gesundheitszustandes nicht in der Produktion beschäftigt werden, und zwar auch nicht in der Presserei; seinen gegenteiligen Vortrag in der Berufungsbegründung habe er in der Berufungsverhandlung nicht aufrechterhalten. Komme der Kläger aber für eine Beschäftigung in der Produktion nicht in Betracht, so sei die Beklagte auch nicht verpflichtet gewesen, die Sozialdaten der in der Produktion beschäftigten Arbeiter mitzuteilen, um dem Kläger eine Überprüfung der sozialen Auswahl zu ermöglichen. Vielmehr sei für die soziale Auswahl im Verhältnis zum Kläger allein der Arbeiter Salvatore D in Betracht gekommen.
II. Der Annahme des Berufungsgerichts, das Bestreiten der ordnungsgemäßen Anhörung des Betriebsrats mit Nichtwissen durch den Kläger sei unsubstantiiert und genüge nicht den an eine ordnungsgemäße Berufungsbegründung zu stellenden Anforderungen, kann nicht gefolgt werden.
1. Wie der Senat in dem Urteil vom 23. Juni 1983 (BAG 43, 129 = AP Nr. 10 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit, zu B I 1 der Gründe) entschieden hat, ist die Anhörung des Betriebsrats vor der Kündigung gemäß § 102 BetrVG Wirksamkeitsvoraussetzung für die Kündigung. Daher trägt der Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast dafür, daß die Anhörung des Betriebsrats ordnungsgemäß durchgeführt worden ist. Jedoch muß der Arbeitnehmer die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats überhaupt bestreiten, damit die entsprechende Darlegungslast des Arbeitgebers ausgelöst wird und das Gericht Anlaß hat, sich mit der Frage der Betriebsratsanhörung zu befassen.
2. a) Vorliegend hatten beide Parteien in erster Instanz übereinstimmend vorgetragen, der Betriebsrat habe der Kündigung zugestimmt. Die Beklagte hatte vorgebracht, dies sei nach eingehender Prüfung und Beratung geschehen und die Ablichtung eines auf den 24. Oktober 1984 datierten Betriebsratsbeschlusses mit dem Inhalt vorgelegt, der Betriebsrat stimme den von der Geschäftsleitung wegen Arbeitsmangel vorgeschlagenen Kündigungen von - jeweils namentlich genannten - fünf Arbeitnehmern, darunter der des Klägers, sowie den Änderungskündigungen von weiteren drei Arbeitnehmern zu. Der Kläger hat hierauf nichts erwidert. Das Arbeitsgericht brauchte sich deshalb mit dieser Frage nicht zu befassen.
b) Erstmals in der Berufungsbegründung hat der Kläger die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats mit Nichtwissen bestritten und damit zur Rechtfertigung seiner Berufung eine neue Tatsache in den Prozeß eingeführt. Denn zu den neuen Tatsachen im Sinne des § 519 Abs. 3 Nr. 2 ZPO gehört auch das erstmalige Bestreiten eines entscheidungserheblichen Sachverhalts im Berufungsverfahren (BGHZ 12, 49).
Der Ansicht des Berufungsgerichts, das Bestreiten genüge nicht den nach § 519 Abs. 3 Nr. 2 ZPO an eine ordnungsgemäße Berufungsbegründung zu stellenden Anforderungen, kann bereits deshalb nicht gefolgt werden, weil diese Vorschrift die Begründung des Rechtsmittels und nicht die Begründung einzelner Berufungsangriffe zum Gegenstand hat. Sie fordert eine auf den zur Entscheidung stehenden Fall zugeschnittene Begründung, die erkennen läßt, in welchen Punkten tatsächlicher oder rechtlicher Art das angefochtene Urteil nach Ansicht des Berufungsführers unrichtig ist. Bei teilbarem Streitgegenstand muß sich die Begründung allerdings mit allen für fehlerhaft gehaltenen Punkten befassen; fehlt es zu einzelnen Posten an einer zureichenden Begründung, so ist die Berufung insoweit unzulässig. Im Kündigungsrechtsstreit sind jedoch mehrere vom Kläger geltend gemachte Unwirksamkeitsgründe keine selbständigen Teile des Streitgegenstandes, über die getrennt entschieden werden kann (vgl. BAG 47, 179 = AP Nr. 89 zu § 626 BGB, zu I 2 b der Gründe). Enthält daher in einem solchen Verfahren die Berufungsbegründung zu einem Unwirksamkeitsgrund, wie im vorliegenden Fall zur Sozialwidrigkeit der Kündigung, eine ausreichende Begründung, so ist der Vorschrift des § 519 Abs. 3 Nr. 2 ZPO genügt, auch wenn es hieran hinsichtlich der übrigen Unwirksamkeitsgründe fehlt.
III. Dieser Rechtsfehler des Berufungsgerichts führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht.
1. Das angefochtene Urteil stellt sich nicht deshalb im Ergebnis als richtig dar (§ 563 ZPO), weil das Bestreiten der ordnungsgemäßen Anhörung des Betriebsrats mit Nichtwissen nach § 138 Abs. 4 ZPO als unzulässig anzusehen ist oder, wie die Beklagte geltend macht, das Berufungsgericht dieses neue Verteidigungsmittel als verspätet hätte zurückweisen müssen.
a) Wie ausgeführt, trägt grundsätzlich der Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast für die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats, die durch das Bestreiten des Arbeitnehmers ausgelöst wird. Der Kläger war auch im Hinblick auf die konkreten Umstände des vorliegenden Falles nicht zu einem substantiierten Sachvortrag gehalten.
Nach § 138 Abs. 4 ZPO ist eine Erklärung mit Nichtwissen nur über Tatsachen zulässig, die weder eigene Handlungen der Partei noch Gegenstand ihrer Wahrnehmung gewesen sind. Wie der Senat in dem Urteil vom 23. Juni 1983 (aaO) ausgeführt hat, stellt die Betriebsratsanhörung keine Handlung des Arbeitnehmers dar. Auch fehlt ein sachlicher Anhaltspunkt dafür, daß sie Gegenstand der Wahrnehmung des Klägers gewesen ist. Zu Unrecht meint die Beklagte, ein Bestreiten mit Nichtwissen sei deshalb nicht ausreichend gewesen, weil der Kläger durch die Vorlage des Betriebsratsbeschlusses vom 24. Oktober 1984 Kenntnis von der Zustimmung des Betriebsrats gehabt habe. Denn aus der Zustimmung des Betriebsrats kann nichts für die Ordnungsmäßigkeit der Anhörung hergeleitet werden. Dies gilt insbesondere für die vor der Beschlußfassung des Betriebsrats erforderliche substantiierte Mitteilung der für den Arbeitgeber maßgebenden Kündigungsgründe (vgl. BAG 30, 386 = AP Nr. 17 zu § 102 BetrVG 1972). Ist diese Voraussetzung nicht erfüllt, wird die fehlerhafte Anhörung auch nicht durch eine Zustimmung des Betriebsrats geheilt. Von dieser Ansicht ist der Senat bereits in dem Urteil vom 27. Juni 1985 - 2 AZR 412/84 - (EzA § 102 BetrVG 1972 Nr. 60, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts bestimmt, zu II 1 a der Gründe) ausgegangen. Er hat dort ausgesprochen, komme der Arbeitgeber den Anforderungen an seine Mitteilungspflicht nicht oder nicht richtig nach, unterliefen ihm insoweit bei der Durchführung der Anhörung Fehler, dann sei die Kündigung unwirksam, und zwar unabhängig davon, ob u n d w i e der Betriebsrat zu der mangelhaften Anhörung Stellung genommen habe. Hieran ist festzuhalten. Es läßt sich nicht ausschließen, daß die Stellungnahme des Betriebsrats bei einer fehlerfreien und vollständigen Unterrichtung anders ausgefallen wäre, er insbesondere die Zustimmung zur Kündigung nicht erteilt und den Arbeitgeber von der Kündigung abgehalten hätte; ein möglicher Widerspruch des Betriebsrats hätte darüber hinaus in kündigungsrechtlicher Hinsicht (§ 1 Abs. 2 KSchG) Bedeutung erlangen und bei einer ordentlichen Kündigung einen Weiterbeschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers nach § 102 Abs. 5 BetrVG begründen können (so zutreffend KR-Etzel, 2. Aufl., § 102 BetrVG Rz 112; a. M. Dietz/Richardi, BetrVG, 6. Aufl., § 102 Rz 97). Diese Ansicht steht auch nicht in Widerspruch zu dem Senatsurteil vom 16. März 1978 (BAG 30, 176 = AP Nr. 15 zu § 102 BetrVG 1972), nach dem die Anhörung des Betriebsrats zu einer beabsichtigten außerordentlichen Kündigung die Anhörung zu einer vorsorglich erklärten oder dahin umgedeuteten ordentlichen Kündigung ersetzt, wenn der Betriebsrat der außerordentlichen Kündigung ausdrücklich und vorbehaltlos zugestimmt hat. In dem dortigen Fall war der dem Betriebsrat mitgeteilte Sachverhalt identisch mit dem Sachverhalt, auf den der Arbeitgeber die soziale Rechtfertigung der ordentlichen Kündigung gestützt hatte. Deshalb konnte bei dieser Sachlage von dem allgemeinen Erfahrungssatz ausgegangen werden, der Betriebsrat hätte auch einer ordentlichen Kündigung zugestimmt (vgl. dazu auch das Urteil des Siebten Senats vom 1. April 1981 - 7 AZR 1003/78 - BAG 35, 190 = AP Nr. 23 zu § 102 BetrVG 1972, zu III 1 a der Gründe).
Ein substantiiertes Bestreiten der ordnungsgemäßen Betriebsratsanhörung durch den Kläger war auch nicht deshalb veranlaßt, weil das Kündigungsschreiben von einem Mitglied des Betriebsrats abgezeichnet worden ist. Denn auch diesem Vermerk konnte der Kläger allenfalls entnehmen, daß der Betriebsrat mit der Kündigung einverstanden war, nicht aber ob und in welchem Umfang dem Betriebsrat die Kündigungsgründe mitgeteilt worden waren.
b) Das Bestreiten der ordnungsgemäßen Anhörung des Betriebsrats kann auch nicht vom Revisionsgericht als verspätet zurückgewiesen werden.
Nach § 67 Abs. 1 Satz 3 ArbGG, § 528 Abs. 2 ZPO sind neue Angriffs- und Verteidigungsmittel, zu denen auch das Bestreiten gehört, die im ersten Rechtszug entgegen § 282 Abs. 1 ZPO nicht rechtzeitig vorgebracht worden sind, nur zuzulassen, wenn ihre Zulassung nach der freien Überzeugung des Gerichts die Erledigung des Rechtsstreits nicht verzögern würde oder wenn die Partei das Vorbringen im ersten Rechtszug nicht aus grober Nachlässigkeit unterlassen hatte. Es kann jedoch dahingestellt bleiben, ob diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt waren. Das Berufungsgericht hat das Bestreiten des Klägers für unsubstantiiert und die Berufungsbegründung insoweit für unzulässig angesehen. Weist das Berufungsgericht neues Vorbringen in der Berufungsinstanz nicht nach § 528 Abs. 2 ZPO zurück, so kann das Revisionsgericht die Zurückweisung nicht mit dieser Begründung aufrechterhalten, wenn die vom Berufungsgericht gegebene Begründung unrichtig ist (BGH NJW 1982, 1718).
2. Zu Unrecht meint die Revision, der Klage könne stattgegeben werden, weil sowohl die Unwirksamkeit der Kündigung nach § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG wie auch ihre Sozialwidrigkeit nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG vom Senat abschließend festgestellt werden könne.
a) Entgegen der Ansicht der Revision hat die Beklagte in der Berufungsinstanz hinreichend dargelegt, daß sie den Betriebsrat vor der Kündigung ordnungsgemäß angehört habe.
Durch die Vorlage einer Ablichtung des Betriebsratsbeschlusses vom 24. Oktober 1984 hatte die Beklagte bereits in erster Instanz konkludent vorgetragen, daß der Betriebsrat vor der mit Schreiben vom 31. Oktober 1984 ausgesprochenen Kündigung angehört worden war. In der Berufungsbeantwortung hat sie ausgeführt, sie habe dem Betriebsrat von vornherein die Gründe mitgeteilt, die sie zur Auswahl des Klägers veranlaßt hätten und hierfür die Vernehmung der Betriebsratsmitglieder als Zeugen angeboten. Im unmittelbaren Anschluß daran hat sie im einzelnen die Tatsachen und Erwägungen für die betriebliche Notwendigkeit der Kündigung und die Auswahl des Klägers vorgetragen. Der Gesamtzusammenhang dieser Ausführungen in der Berufungsbeantwortung ergibt somit, daß es sich bei den dem Betriebsrat mitgeteilten Gründen um die zur sozialen Rechtfertigung der Kündigung dargelegten Gründe gehandelt hat.
b) Ohne Erfolg rügt die Revision ferner, die Kündigung sei selbst nach dem vom Berufungsgericht festgestellten Sachverhalt gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG sozial ungerechtfertigt.
aa) Die Annahme des Berufungsgerichts, für die Kündigung habe ein dringendes betriebliches Erfordernis im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG bestanden, läßt keinen Rechtsfehler erkennen und wird auch von der Revision nicht angegriffen.
bb) Die Revision rügt vielmehr lediglich, das Berufungsgericht habe die soziale Auswahlentscheidung der Beklagten rechtsfehlerhaft beurteilt. Diese Rüge ist jedoch unbegründet.
Die soziale Auswahl nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG hat sich auf alle vergleichbaren Arbeitnehmer des Beschäftigungsbetriebes zu erstrecken. Sie ist nicht auf einzelne Betriebsabteilungen beschränkt. Deshalb ist, wie das Berufungsgericht im Ergebnis richtig gesehen hat, auch eine "Austauschkündigung", d. h. die durch den Wegfall von Beschäftigungsmöglichkeiten ausgelöste Versetzung eines Arbeitnehmers auf einen anderen Arbeitsplatz und die Kündigung des bisher dort beschäftigten Arbeitnehmers, aus dem Gesichtspunkt der sozialen Auswahl grundsätzlich zulässig. Vergleichbar sind alle Arbeitnehmer, deren Funktion auch von den Arbeitnehmern wahrgenommen werden könnten, deren Arbeitsplatz weggefallen ist (Senatsurteil vom 25. April 1985 - 2 AZR 140/84 - EzA § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung Nr. 35, zu B II 3 der Gründe, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts bestimmt).
Die Revision beanstandet zu Unrecht, nach den Rechtsprechungsgrundsätzen zur abgestuften Darlegungslast zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber zur sozialen Auswahl (vgl. Senatsurteil BAG 42, 151, 161 = AP Nr. 12 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung, zu B III 2 der Gründe, sowie Senatsurteil vom 25. April 1985, aaO, zu B II 2 a der Gründe) hätte die Beklagte nicht nur die Sozialdaten des Arbeiters Salvatore D, sondern die Sozialdaten aller in der Produktion und im nicht gewerblichen Bereich beschäftigten Arbeitnehmer mitteilen müssen, damit er seiner Darlegungslast zur sozialen Auswahl hätte nachkommen können. Die Revision übersieht, daß nach dem vom Berufungsgericht als unstreitig festgestellten Sachverhalt der Kläger u n d der Arbeiter Salvatore D aus gesundheitlichen Gründen nur im Freien beschäftigt werden konnten. Seinen Vortrag in der Berufungsbegründung, er könne in der Presserei eingesetzt werden, hat der Kläger nach der weiteren Feststellung des Berufungsgerichts in der mündlichen Berufungsverhandlung nicht mehr aufrechterhalten. An beide Feststellungen, die Parteivorbringen betreffen und deshalb zum Tatbestand im Sinne des § 314 ZPO gehören, auch wenn sie in den Entscheidungsgründen erscheinen, ist der Senat nach § 561 Abs. 1 ZPO gebunden, weil hiergegen kein Berichtigungsantrag angebracht wurde (§ 320 ZPO). Die Revision geht somit bei ihren Überlegungen zu Unrecht davon aus, daß der Arbeiter Salvatore D auch in die Produktion hätte versetzt werden können und ihm dort möglicherweise ein Arbeitnehmer hätte Platz machen müssen, der sozial weniger schutzwürdig sei als der Kläger. Da dieser Arbeiter, ebenso wie der Kläger, aus gesundheitlichen Gründen nur im Freien beschäftigt werden konnte, war nur er mit dem Kläger vergleichbar, und die Beklagte brauchte deshalb auch nur seine Sozialdaten mitzuteilen. Darauf, ob in der Produktion sozial weniger schutzbedürftige Arbeiter beschäftigt werden, kommt es nicht an, weil der Kläger in diesem Bereich nicht eingesetzt werden darf. Soweit die Revision auf sonstige Arbeitsmöglichkeiten außerhalb des Produktionsbereichs verweist, handelt es sich um neues Vorbringen, das in der Revisionsinstanz nicht berücksichtigt werden kann (§ 561 Abs. 1 ZPO); denn in der Berufungsinstanz hat der Kläger nur den Vortrag von Sozialdaten der in der Produktion beschäftigten Arbeitnehmer von der Beklagten gefordert.
Ohne durchgreifende Rechtsfehler ist auch die Würdigung des Berufungsgerichts, im Vergleich zu dem Arbeiter Salvatore D sei die Auswahl des Klägers nicht zu beanstanden. Nach der Rechtsprechung des Senats (BAG 47, 80 = AP Nr. 6 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl, zu B II 4 a der Gründe) hat der Arbeitgeber bei der sozialen Auswahl zwar keinen Ermessens-, wohl aber einen Wertungsspielraum. Seine äußersten Grenzen ergeben sich zum einen aus der Wertung des Kündigungsschutzgesetzes selbst: § 10 KSchG läßt sich entnehmen, daß der Gesetzgeber für die rechtlich relevante Schutzbedürftigkeit der Betriebszugehörigkeit und dem Lebensalter Priorität eingeräumt hat, und zwar der Betriebszugehörigkeit noch vor dem Lebensalter. Demgemäß hat der Arbeitgeber bei der sozialen Auswahl zunächst die Betriebszugehörigkeit und dann das Lebensalter zu berücksichtigen. Darüber hinaus besteht ein Mindestkonsens darüber, daß die Unterhaltsverpflichtungen bei der Auswahl Berücksichtigung finden müssen.
Auch der vorliegende Fall gibt keinen Anlaß, diesen Wertungsspielraum näher zu konkretisieren. Die Beklagte hat bei der sozialen Auswahl die genannten drei Kriterien berücksichtigt. Wenn sie der im Verhältnis zum Kläger doppelt so langen Betriebszugehörigkeit des Arbeiters Salvatore D und dessen Unterhaltsverpflichtungen für zwei Kinder den Vorrang vor dem höheren Lebensalter des Klägers eingeräumt hat, so hat sie damit den ihr eingeräumten Wertungsspielraum nicht überschritten, wie immer dessen Grenzen auch zu ziehen sein mögen.
IV. Das angefochtene Urteil muß somit aufgehoben und der Rechtsstreit zurückverwiesen werden. In der erneuten Verhandlung kann das Berufungsgericht die ihm seinerzeit mögliche Entscheidung nach § 528 Abs. 2 ZPO im Hinblick auf die veränderte Lage, in der sich der Rechtsstreit befindet, nicht nachholen (vgl. dazu BGH NJW 1981, 2255). Es muß vielmehr die Ordnungsmäßigkeit der Anhörung des Betriebsrats zu der Kündigung sachlich nachprüfen. Hierbei kommt es wesentlich auch darauf an, ob die Beklagte dem Betriebsrat von sich aus die nach ihrer Ansicht für die soziale Auswahl des Klägers wesentlichen Umstände mitgeteilt hat, wie dies nach der neueren Rechtsprechung des Senats erforderlich ist (Senatsurteil vom 29. März 1984 - 2 AZR 429/83 A - BAG 45, 277 = AP Nr. 31 zu § 102 BetrVG 1972). Diese Rechtsprechung ist auf den vorliegenden Fall anzuwenden, weil das Senatsurteil bereits geraume Zeit vor der Anhörung des Betriebsrats Ende Oktober 1984 in maßgebenden Fachzeitschriften veröffentlicht war (BB 1984 Heft 22 vom 10. August 1984; DB 1984 Heft 38 vom 21. September 1984). Zwar hat der Senat in diesem Urteil ausgesprochen, daß aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit die in dieser Entscheidung aufgestellten Grundsätze nicht auf Kündigungen angewandt werden dürften, die in der Vergangenheit im Vertrauen auf die bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts erklärt worden seien. Vielmehr müsse der Praxis des Arbeitslebens Gelegenheit gegeben werden, sich auf die neuen Grundsätze einzustellen. Danach ist für die Anwendung der neuen Grundsätze nicht auf die positive Kenntnis des Arbeitgebers von dem vorbezeichneten Urteil, sondern darauf abzustellen, ob er ausreichend Gelegenheit hatte, sich hiervon Kenntnis zu verschaffen. Dies war im Hinblick auf die genannten Veröffentlichungen vorliegend der Fall.
Hillebrecht Triebfürst Ascheid
Timpe Binzek
Fundstellen