Entscheidungsstichwort (Thema)
Dynamische tarifliche Blankettverweisung im Nachwirkungszeitraum. Parallelsachen – 4 AZR 140/03 – und – 4 AZR 142/03 –
Leitsatz (redaktionell)
1. Inhaltlich beschränkt sich die Nachwirkung einer Tarifregelung darauf, dass der Zustand der Tarifnormen bis zum Abschluss einer anderen Abmachung erhalten bleibt, der bei Beendigung des Tarifvertrages bestanden hat. Die Nachwirkung erstreckt sich hingegen nicht auf Änderungen des Tarifvertrages nach seinem Ablauf.
2. Die Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG ist auch dann statisch, wenn die nachwirkende Tarifnorm dynamisch auf eine in einem anderen Tarifvertrag vereinbarte Regelung, die nach dem Beginn der Nachwirkung geändert worden ist, verweist.
Normenkette
TVG § 4 Abs. 5, § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1; Tarifvertrag über Urlaubsgeld, Sonderzuwendung und Entgeltfortzahlung im niedersächsischen Einzelhandel vom 3. Dezember 1997 (TV USE), gekündigt zum 31. Dezember 1999, § 9
Verfahrensgang
Tenor
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Höhe der der Klägerin für das Jahr 2001 zustehenden tariflichen Sonderzuwendung.
Die Klägerin steht seit dem 1. Juli 1989 als teilzeitbeschäftigte Verkäuferin in den Diensten der Beklagten. Für das Arbeitsverhältnis der Parteien gelten kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit die Tarifverträge für den niedersächsischen Einzelhandel. In dem ab seinem Inkrafttreten am 1. Januar 1997 bis zu seiner Beendigung allgemeinverbindlichen Tarifvertrag über Urlaubsgeld, Sonderzuwendung und Entgeltfortzahlung im niedersächsischen Einzelhandel vom 3. Dezember 1997 (nachfolgend: TV USE) ist in § 9 bestimmt:
Höhe der Sonderzuwendung
Die tarifliche Sonderzuwendung beträgt 60 % des für den Beschäftigten am 30. September, bzw. bei früherem Ausscheiden dem Monat vor seinem Austritt, geltenden Tarifentgelts gemäß Gehalts- und Lohntarifvertrag.
Der TV USE ist durch Kündigung am 31. Dezember 1999 beendet worden, ohne dass es – bis zum Ende des Berufungsrechtszuges – zum Abschluss eines Nachfolgetarifvertrages gekommen ist.
Das Tarifgehalt der Gehaltsgruppe II, in der die Klägerin eingruppiert ist, betrug in der für sie maßgebenden Gehaltsstufe 7 Ortsklasse I nach dem einschlägigen Lohn- und Gehaltstarifvertrag vom 19. August 1999 im September 1999 3.449,00 DM, für die Klägerin zeitanteilig 2.115,95 DM, nach dem Lohn- und Gehaltstarifvertrag vom 19. Juli 2001 im September 2001 3.631,98 DM, für die Klägerin zeitanteilig 2.228,00 DM – jeweils brutto –. Für 2001 zahlte die Beklagte an die Klägerin als tarifliche Sonderzuwendung 60 % von 2.115,95 DM brutto – dem anteiligen Tarifgehalt der Klägerin für September 1999 –, mithin 1.269,57 DM brutto.
Die Klägerin ist der Ansicht, die tarifliche Sonderzuwendung für 2001 richte sich nach dem Tarifgehalt für September 2001, betrage mithin für sie 1.336,80 DM brutto (60 % von 2.228,00 DM). Zwar befinde sich der TV USE in der Nachwirkung. Die nachwirkenden Tarifansprüche änderten sich aber mit den Veränderungen der für die Höhe eines tariflichen Anspruchs maßgeblichen tariflich geregelten Rechnungsgrößen, auf die verwiesen sei. In diesen Fällen hätten die Tarifvertragsparteien selbst eine vollständige normative Regelung getroffen, die als solche komplett nachwirke und nicht etwa infolge der Nachwirkung “eingefroren” werde. Mithin stünden ihr als restliche Sonderzahlung für 2001 34,37 Euro (vormals 67,23 DM = Differenz zwischen geforderter Sonderzuwendung in Höhe von 1.336,80 DM und gezahlter 1.269,57 DM) zu. Diesen Betrag nebst Rechtshängigkeitszinsen fordert sie mit ihrer Zahlungsklage.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 34,37 Euro brutto nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz der EZB seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Ansicht vertreten, nach der Nachwirkungsregelung des § 4 Abs. 5 TVG werde die tarifliche Sonderzuwendung des TV USE auf dem status quo des Jahres 1999 “eingefroren”. Änderungen der in Bezug genommenen Tarifnormen könnten nicht mehr auf den TV USE als verweisenden Tarifvertrag einwirken.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben und die Berufung zugelassen. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen. Mit ihrer Revision erstrebt die Klägerin die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin hat keinen Erfolg.
Die Klage ist nicht begründet. Dies hat das Landesarbeitsgericht rechtsfehlerfrei erkannt.
1. Die Beklagte schuldet der Klägerin nicht nach dem allein als Anspruchsgrundlage für das Klagebegehren in Betracht kommenden § 9 TV USE über den an sie als tarifliche Sonderzuwendung für 2001 gezahlten Betrag hinaus weitere 34,37 Euro.
a) Der Anspruch der Klägerin auf die tarifliche Sonderzuwendung für das Jahr 2001 folgt aus § 9 TV USE. Dieser Tarifvertrag galt bis zu seiner durch Kündigung herbeigeführten Beendigung am 31. Dezember 1999 kraft beiderseitiger Verbandszugehörigkeit der Parteien (§ 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG) für sie unmittelbar und zwingend. Nach dessen Ablauf zum vorgenannten Zeitpunkt gelten seine Rechtsnormen für die Parteien gem. § 4 Abs. 5 TVG weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Mangels einer solchen folgt damit auch der Anspruch der Klägerin auf die tarifliche Sonderzuwendung im Jahre 2001 aus § 9 TV USE. Davon gehen die Parteien übereinstimmend aus.
b) Der Höhe nach richtet sich der tarifliche Sonderzuwendungsanspruch der Klägerin nach § 9 TV USE im Jahr 2001 nach dem für sie maßgebenden Tarifgehalt (Gehaltsgruppe II Stufe 7 Ortsklasse I) für September 1999. Denn inhaltlich beschränkt sich die Nachwirkung einer Tarifregelung darauf, dass der Zustand der Tarifnormen bis zum Abschluss einer anderen Abmachung erhalten bleibt, der bei Beendigung des Tarifvertrages bestanden hat. Die Nachwirkung erstreckt sich hingegen nicht auf Änderungen des Tarifvertrages nach seinem Ablauf. Dies ist, soweit ersichtlich, einhellige Ansicht in Rechtsprechung und Schrifttum (vgl. zB die Nachweise bei Däubler/Bepler TVG § 4 in Fußnote 2121 zu Rn. 821).
Die Nachwirkung gem. § 4 Abs. 5 TVG ist auch dann statisch, wenn die nachwirkende Tarifnorm dynamisch auf eine in einem anderen Tarifvertrag vereinbarte Regelung, die nach dem Beginn der Nachwirkung geändert worden ist, verweist. Für diese Fallgestaltung hat der Senat entschieden, dass die nachwirkende Verweisung sich nicht auf im Nachwirkungszeitraum vereinbarte Änderungen der in Bezug genommenen Regelungen erstreckt (Senat 17. Mai 2000 – 4 AZR 363/99 – BAGE 94, 367 = AP TVG § 3 Verbandsaustritt Nr. 8 = EzA TVG § 3 Nr. 19; 29. August 2001 – 4 AZR 332/00 – BAGE 99, 10 = AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 17 = EzA BGB § 613a Nr. 201).
An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. Der verweisende Tarifvertrag und der in Bezug genommene Tarifvertrag bilden eine Einheit. Es macht daher der Sache nach keinen Unterschied, ob der inhaltliche Tarifnormenstand in einem solchen Fall nach Ablauf des Verweisungstarifvertrages durch Änderung desselben oder des Bezugstarifvertrages geändert wird. Im einen wie im anderen Fall tritt eine Änderung des inhaltlichen Tarifnormenstandes des Verweisungstarifvertrages nach dessen Ablauf ein, der von der Anordnung der “Weitergeltung” (§ 4 Abs. 5 TVG) nicht erfasst wird. Bei einer – dynamischen – tariflichen Verweisung auf eine andere tarifliche Regelung ist der Verweisungstarifvertrag als solcher unvollständig. Er wird erst durch die in Bezug genommenen Regelungen des Bezugstarifvertrages vervollständigt. Diese sind der Sache nach Teil der Normen des Verweisungstarifvertrages. Damit endet aber mit dem Ende der Laufzeit des Verweisungstarifvertrages der übereinstimmende Geltungswille der Tarifvertragsparteien auch hinsichtlich des Inhalts des Bezugstarifvertrages (Däubler/Bepler aaO § 4 Rn. 824; Kempen/Zachert TVG § 4 Rn. 310).
c) Die Kritik der Klägerin an der angefochtenen Entscheidung überzeugt den Senat nicht.
aa) Soweit die Klägerin die Rechtsprechung des Senats, der das Landesarbeitsgericht gefolgt ist, angreift, wendet sie sich allein gegen die Entscheidung des Senats vom 24. November 1999 (– 4 AZR 666/98 – BAGE 93, 34 = AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 34 = EzA TVG § 4 Nachwirkung Nr. 28), die eine dynamische tarifliche Verweisung auf eine gesetzliche Berechnungsgröße betrifft und vom Landesarbeitsgericht auch nicht angeführt worden ist. Auf die nachfolgenden Entscheidungen des Senats vom 17. Mai 2000 (– 4 AZR 363/99 – aaO) und vom 29. August 2001 (– 4 AZR 332/00 – aaO) zum Inhalt der Nachwirkung bei einer dynamischen tariflichen Verweisung in einem nachwirkenden Tarifvertrag auf eine in einem anderen Tarifvertrag enthaltene Regelung geht die Revision nicht ein. Sie nimmt an, bei einer dynamischen Verweisung auf eine gesetzliche oder in einem anderen Tarifvertrag enthaltene Regelung sei es “der Wille der Tarifvertragsparteien”, dass der “dynamische Norminhalt … auch nach dem Ablauf des Tarifvertrages, also im Nachwirkungszeitraum dynamisch weiter” gelte. Dies ist, wie bereits dargelegt, nicht zutreffend. Der Geltungswille der Tarifvertragsparteien des Verweisungstarifvertrages erstreckt sich mit dessen Ablauf nicht mehr auf Änderungen des Bezugstarifvertrages. Die Fallgestaltung des vorliegenden Falles ist entgegen der Ansicht der Klägerin auch nicht vergleichbar mit der der Entscheidung des Achten Senats vom 16. August 1990 (– 8 AZR 439/89 – BAGE 65, 359 = AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 19 = EzA TVG § 4 Nachwirkung Nr. 9) zugrunde liegenden, in der der abgelaufene Tarifvertrag selbst bereits abschließende Regelungen für die Dauer des Urlaubs im Nachwirkungszeitraum vorgesehenen hatte. In einem solchen Fall tritt die bereits geregelte Rechtsfolge (Verlängerung des Urlaubs) infolge der Nachwirkung auch noch nach deren Beginn ein. Dieser Rechtsprechung hat sich der Senat in seinem Urteil vom 17. Mai 2000 (– 4 AZR 363/99 – BAGE 94, 367, 378 = AP TVG § 3 Verbandsaustritt Nr. 8 = EzA TVG § 3 Nr. 19) ausdrücklich angeschlossen.
bb) Die von der Klägerin angeführten Beispiele einer denkbaren tarifvertraglichen Verweisung auf “andere tatsächliche” Bezugsgrößen für die Sonderzuwendung wie den Gesamtbruttomonatsverdienst am 30. September des Auszahlungsjahres oder einen bestimmten Prozentsatz des Umsatzes oder des Gewinns des Unternehmens oder des Betriebes sind spekulativ. Beispiele für die Existenz solcher tariflichen Verweisungsregelungen führt die Klägerin nicht an, sie behauptet nicht einmal, dass es solche Regelungen gibt. Welchen Inhalt die Nachwirkung des Verweisungstarifvertrages in einem solchen Fall hätte, ist hier nicht zu entscheiden.
d) Die Verweisung in § 9 TV USE auf das für den Beschäftigten am 30. September bzw. bei früherem Ausscheiden dem Monat vor seinem Austritt geltende Tarifentgelt gem. Gehalts- und Lohntarifvertrag ist nach alledem mit Ablauf des TV USE am 31. Dezember 1999 statisch. Die Klägerin hat daher im Jahre 2001 lediglich Anspruch auf die tarifliche Sonderzuwendung nach Maßgabe des Tarifgehaltes für September 1999 nach dem Gehalts- und Lohntarifvertrag vom 19. August 1999. In Höhe des ihr danach rechnerisch unstreitig zustehenden Betrages hat sie die Sonderzahlung von der Beklagten erhalten.
2. Damit besteht auch kein Anspruch der Klägerin auf Verzinsung des Hauptanspruchs.
- Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Schliemann, Wolter, Bott, Valentien, Rzadkowski
Fundstellen