Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachträgliche Regelungslücke im Tarifvertrag
Orientierungssatz
1. In § 20 Abschnitt 3 Abs 2 Unterabs 1 des Tarifvertrages für die Arbeiter der Deutschen Bundespost ist seit dem 1.1.1984 insoweit eine nachträgliche Regelungslücke entstanden, als für die Tarifvertragsparteien 1969 die Belastung des Krankengeldes mit Arbeitnehmeranteilen für Renten- und Arbeitslosenversicherung nicht vorhersehbar war. Deshalb bestand für sie damals auch kein Anlaß, die Frage zu regeln, ob bei der Berechnung des vom Arbeitgeber zu gewährenden Zuschußes von dem "Bruttokrankengeld" oder von dem "Nettokrankengeld" auszugehen sei.
2. Siehe auch Leitfall BAG Urteil vom 10.12.1986 5 AZR 517/85.
Normenkette
TVG § 1; RVO § 182 Abs. 1 Nr. 1b, §§ 210, 180; AFG § 186 Abs. 1; SGB I § 11 Abs. 1; AVG § 112b Abs. 1; RVO § 1385 b Abs. 1; HBegleitG 1984 Art. 2 Nr. 30, Art. 1 Nr. 53, Art. 17 Nr. 30, Art. 39 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Mannheim (Entscheidung vom 06.03.1985; Aktenzeichen 8 Ca 458/84) |
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Höhe des den Klägern zustehenden Krankengeldzuschusses.
Die Kläger sind bei der Beklagten als Fernmeldehandwerker beschäftigt, der Kläger zu 1) seit 1972, der Kläger zu 2) seit 1968 und der Kläger zu 3) seit 1975. Für die Arbeitsverhältnisse gilt der Tarifvertrag für die Arbeiter der Deutschen Bundespost (TVArb) vom 6. Januar 1955 in der jeweiligen Fassung.
Nach § 20 Abschnitt I Abs. 5 in Verbindung mit Abschnitt II Abs. 2 sowie Abschnitt III Abs. 1 und Abs. 4 Unterabs. 1 TVArb erhält der Arbeiter nach Wegfall der Lohnfortzahlung bei einer Postdienstzeit von mehr als einem Jahr bis zur Dauer von 13 Wochen und bei einer Postdienstzeit von mehr als drei Jahren bis zur Dauer von 26 Wochen seit dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit einen Krankengeldzuschuß. Nach § 20 Abschnitt III Abs. 2 Unterabs. 1 TVArb entsteht der Anspruch auf Krankengeldzuschuß monatlich in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen dem Nettoarbeitsentgelt und den Barleistungen der gesetzlichen Kranken- oder Unfallversicherung, soweit und solange solche Barleistungen gezahlt werden. Bemessungsgrundlage für den Krankengeldzuschuß ist das unterstellte Nettoarbeitsentgelt, nämlich der Zeitlohn (ohne vermögenswirksame Leistung) und der Zeitlohnzuschlag, gemindert um die daraus unterstellten gesetzlichen Abzüge (Abs. 3).
Das Krankengeld (§ 182 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3, Abs. 4 RVO) unterliegt seit dem 1. Januar 1984 der Beitragspflicht zur Renten- und Arbeitslosenversicherung. Die Beiträge sind je zur Hälfte von den Krankengeldbeziehern und den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung aufzubringen und von der Krankenversicherung an den Rentenversicherungsträger sowie an die Bundesanstalt für Arbeit abzuführen (§ 1385 b Abs. 1 RVO, § 186 Abs. 1 AFG, eingefügt durch Art. 1 Nr. 53, Art. 17 Nr. 30, Art. 39 Abs. 1 des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 vom 22. Dezember 1983, BGBl. I S. 1532). Der Streit der Parteien betrifft vorliegend die Frage, ob bei der Berechnung des Krankengeldzuschusses das um den Beitragsanteil des Arbeitnehmers gekürzte oder aber das ungekürzte Krankengeld zugrundezulegen ist.
Der Kläger zu 1) erhielt in der Zeit vom 16. April bis zum 31. August 1984, der Kläger zu 2) vom 17. April bis zum 31. August 1984 und der Kläger zu 3) vom 12. April bis zum 1. Juni 1984 Krankengeld, das die Krankenkasse um die Arbeitnehmeranteile zur Renten- und Arbeitslosenversicherung gekürzt auszahlte ("Nettokrankengeld"). Die Beklagte berechnete den Zuschuß zum Krankengeld auf der Grundlage des ungekürzten Krankengeldes ("Bruttokrankengeld"). Dadurch erhielten der Kläger zu 1) insgesamt 936,-- DM, der Kläger zu 2) 1.041,40 DM und der Kläger zu 3) 366,-- DM weniger, als ihr Nettoarbeitsentgelt nach § 20 Abschnitt III Abs. 3 TVArb betragen hätte. Dieses Ergebnis halten die Kläger für ungerechtfertigt und verlangen von der Beklagten die Zahlung des Unterschiedsbetrages.
Die Kläger haben vorgetragen: Die Tarifvertragsparteien hätten der Regelung des § 20 Abschnitt III TVArb das Lohnausfallprinzip zugrunde gelegt. Das sei geschehen, um den erkrankten Arbeiter dem nicht erkrankten gleichzustellen. Daraus folge, daß sich der Krankengeldzuschuß um die vom Krankengeld einzubehaltenden Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung erhöhen müsse.
Demgemäß haben die Kläger beantragt,
die Beklagte zu verurteilen,
an den Kläger zu 1) 936,-- DM,
an den Kläger zu 2) 1.041,40 DM und
an den Kläger zu 3) 366,-- DM zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat geltend gemacht: Der Begriff der Barleistung werde in § 20 Abschnitt III TVArb im Gegensatz zu den Begriffen Dienst- und Sachleistung verwendet. Die von der Krankenkasse als Arbeitnehmeranteil vom Krankengeld einbehaltenen Sozialversicherungsbeiträge seien Barleistungen im Sinne des Tarifvertrages. Auch wenn die Krankenkasse den Arbeitnehmeranteil vom Krankengeld einbehalte und abführe, bleibe der Arbeitnehmer Schuldner dieses Anteils. Daher stelle auch der abgeführte Betrag eine Leistung der Krankenkasse an den Arbeitnehmer dar.
Das Arbeitsgericht hat die Klagen abgewiesen. Dagegen richten sich die Sprungrevisionen der Kläger, die ihr Klageziel weiterverfolgen.
Entscheidungsgründe
Die Sprungrevisionen sind nicht begründet. Die Vorschrift des § 20 TVArb, die allein dafür in Betracht kommt, bietet zur Zeit keine Anspruchsgrundlage für das Klagebegehren. Sie ist seit dem 1. Januar 1984 lückenhaft geworden (I). Eine ergänzende Lückenausfüllung ist dem Gericht nicht möglich (II).
I. 1. Die von Tarifvertragsparteien in § 20 TVArb verwendeten Begriffe "Krankengeldzuschuß" und "Barleistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung" richten sich nach dem Krankenversicherungsrecht.
Der Krankengeldzuschuß stellt eine tarifvertragliche Leistung des Arbeitgebers dar, die das Krankengeld als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 182 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 RVO) ergänzen soll. Die tarifvertraglichen Begriffe "Krankengeld" und "Barleistung" sind dem Krankenversicherungsrecht entnommen. Sie müssen daher auch im sozialversicherungsrechtlichen Sinne verstanden und ausgelegt werden (vgl. dazu BAGE 46, 61, 66 = AP Nr. 3 zu § 9 TVG 1969, mit weiteren Nachweisen). Daraus ergibt sich: Mit "Barleistung" ist nicht der Betrag gemeint, der dem Arbeitnehmer tatsächlich zufließt. Vielmehr soll damit unterschieden werden zwischen Geldleistungen einerseits sowie Sach- und Dienstleistungen andererseits als den Leistungsformen im Krankenversicherungsrecht.
2. a) Den Begriff "Barleistung" verwendet der Gesetzgeber in § 210 RVO. Nach dieser Vorschrift werden die Barleistungen (ausgenommen das Sterbegeld) mit Ablauf jeder Woche ausgezahlt. Barleistungen bedeutet das gleiche wie "bare Leistungen" im Sinne von § 180 Abs. 1 Satz 2 RVO, wonach die baren Leistungen der Kasse mit Ausnahme des Krankengeldes nach einem Grundlohn bemessen werden. Barleistung ist gleichbedeutend mit Geldleistung im Sinne von § 11 Satz 1 SGB I (vgl. Burdensky in GK-SGB I, 2. Aufl., § 11 Rz 17). Barleistung ist der ältere, Geldleistung der neuere Ausdruck für eine Sozialleistung, die nicht Dienst- oder Sachleistung ist. Gegenwärtig werden im Sozialrecht beide Begriffe noch nebeneinander gebraucht. Der Begriff Geldleistung umfaßt die heute üblich gewordene bargeldlose Überweisung von Sozialleistungen. Der heutige § 20 Abschnitt III Abs. 2 Unterabs. 1 der TVArb ist mit Wirkung vom 1. Januar 1970 durch den Tarifvertrag Nr. 269 a/b vom 10. Oktober 1969 (Amtsblatt des Bundesministeriums für das Post- und Fernmeldewesen, Verfügung Nr. 838/1969), also lange vor Inkrafttreten des SGB I vom 11. Dezember 1975 (BGBl. I S. 3015) in das Tarifwerk eingefügt worden. Die Tarifvertragsparteien konnten daher den späteren Sprachgebrauch des SGB I nicht berücksichtigen.
Zudem sah die RVO zur wirtschaftlichen Sicherung des arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmers früher zwei Arten von Geldleistungen vor: Krankengeld und Hausgeld (§§ 182, 186 RVO in der Fassung des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfalle vom 12. Juli 1961, BGBl. I S. 913). Das geringere Hausgeld bestand lediglich in einem Prozentsatz des Krankengeldes und wurde dem Arbeitnehmer bei Krankenhauspflege gewährt. Erst das Zweite Krankenversicherungsänderungsgesetz vom 21. Dezember 1970 (BGBl. I S. 1770) ließ das Hausgeld entfallen und änderte § 186 RVO dahin, daß vom Beginn der Krankenhauspflege an Krankengeld zu zahlen war. Auch der eben erwähnte Umstand (Aufgliederung der Geldleistung in Krankengeld und Hausgeld) erklärt, warum die Tarifvertragsparteien in der ursprünglichen Fassung des § 20 Abschnitt III Abs. 2 Unterabs. 1 TVArb vom 10. Oktober 1969 den Krankengeldzuschuß nicht lediglich als Unterschiedsbetrag zwischen Nettoarbeitsentgelt und Krankengeld, sondern zwischen Nettoarbeitsentgelt und "Barleistungen der gesetzlichen Kranken- oder Unfallversicherung" definiert haben.
b) Seit dem 1. Januar 1984 unterliegt das Krankengeld der Beitragspflicht zur Renten- und Arbeitslosenversicherung. Nach § 1385 b Abs. 1 Satz 2 RVO, § 112 b Abs. 1 Satz 2 AVG und § 186 Abs. 1 Satz 2 AFG tragen der Krankengeldbezieher und der Leistungsträger die Beiträge je zur Hälfte. (Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Beitragsabzugs vgl. BSG Urteil vom 19. Juni 1986 - 12 RK 54/85 -, zur Veröffentlichung vorgesehen.) Bei dieser Neuregelung hat der Gesetzgeber die Vorschriften über das Krankengeld selbst (§ 182 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4 RVO) unverändert gelassen. Hieraus folgt, daß der Begriff des Krankengeldes seit dem 1. Januar 1984 in einem zweifachen Sinn zu verstehen ist, als "Bruttokrankengeld" und als "Nettokrankengeld". Das Gesetzt trifft diese Unterscheidung jedoch nicht ausdrücklich und regelt auch nicht die Folgerungen, die sich für die Verwendung des Begriffs des Krankengeldes aus der Neuregelung ergeben.
3. Es kann davon ausgegangen werden, daß die Tarifvertragsparteien bei der im Jahre 1969 getroffenen Vereinbarung des § 20 Abschnitt III Abs. 2 Unterabs. 1 TVArb mit geringfügigen Veränderungen in der Höhe des Krankengeldes gerechnet haben. Derartige Veränderungen entsprechen der Erfahrung des Arbeitslebens. Die Belastung des Krankengeldes mit Arbeitnehmeranteilen für Renten- und Arbeitslosenversicherung bedeutet jedoch eine grundlegende Änderung des Krankenversicherungsrechts. Sie war für die Tarifvertragsparteien im Jahre 1969 nicht vorhersehbar, so daß für sie damals kein Anlaß bestand, die Frage zu regeln, ob bei der Berechnung des vom Arbeitgeber zu gewährenden Zuschusses von dem "Bruttokrankengeld" oder von dem "Nettokrankengeld" auszugehen sei. In § 20 Abschnitt III Abs. 2 Unterabs. 1 TVArb ist folglich seit dem 1. Januar 1984 insoweit eine nachträgliche Regelungslücke entstanden. Anders als bei bewußten Tariflücken kommt in derartigen Fällen eine Lückenausfüllung durch Urteil grundsätzlich in Betracht (vgl. statt vieler BAGE 47, 61, 67 = AP Nr. 95 zu §§ 22, 23 BAT 1975). Vorliegend sind die Gerichte jedoch nicht befugt, die Regelungslücke im Wege einer ergänzenden Auslegung zu schließen, weil den Tarifvertragsparteien hierfür verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen und sie sich aufgrund ihrer Tarifhoheit für eine hiervon selbst entscheiden müssen. Ein Tätigwerden der Gerichte bedeutete, daß sie verfassungswidrig in die Tarifautonomie eingriffen (vgl. BAGE 36, 218, 225, 226 = AP Nr. 19 zu § 611 BGB Lehrer, Dozenten).
II. Folgende Möglichkeiten einer Ergänzung des Manteltarifvertrages bestehen, denen die Gerichte nicht vorgreifen dürfen:
1. Sieht man als entscheidenden Gesichtspunkt an, daß der Arbeitnehmer nach Sinn und Zweck des § 20 Abschnitt III Abs. 2 Unterabs. 1 TVArb auch nach Wegfall der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle seinen Nettolohn durch Krankengeld und einen entsprechenden Zuschuß des Arbeitgebers behalten soll, dann müßte die Neuregelung vorsehen, daß der Zuschuß zum Nettokrankengeld zu zahlen ist. Auf der anderen Seite ließe sich an den Grundsatz anknüpfen, daß gesetzliche Lasten, die dem Arbeitnehmer auferlegt sind, auch von diesem getragen werden müssen. Ein Anhalt dafür findet sich schon in der bisherigen tariflichen Regelung insofern, als die auf den Zuschuß entfallende Lohnsteuer (§ 2 Abs. 3 Nr. 3 LStDVO) vom Arbeitnehmer allein zu tragen ist. Legte man dieses Prinzip zugrunde, wäre der Zuschuß nach dem Bruttokrankengeld zu bemessen. Schließlich wäre daran zu denken, die vom Gesetz neu geschaffene Belastung des Arbeitnehmers zwischen den Arbeitsvertragsparteien aufzuteilen, wobei sich wiederum verschiedene Möglichkeiten der Verteilung der Beitragslast ergeben, auch in der Weise, daß die Anspruchsdauer oder der anspruchsberechtigte Personenkreis verändert würden. Jede dieser Möglichkeiten erfordert eine ergänzende rechtspolitische Entscheidung, die von den Tarifvertragsparteien zu treffen ist (vgl. dazu auch BAGE 41, 161 = AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG Besitzstand).
2. Es muß daher den Tarifvertragsparteien überlassen bleiben, durch entsprechende Vereinbarung diejenige Lösung auszuhandeln, die nach ihren Vorstellungen im Hinblick auf den Zweck der Regelung am besten geeignet ist, die entstandene Lücke zu schließen. Da die Tarifvertragsparteien in der Lage sind, den Tarifvertrag rückwirkend auf den Zeitpunkt zu ergänzen, zu dem die Neuregelung des Krankenversicherungsrechts in Kraft getreten ist, war die Klage noch nicht endgültig, sondern nur als zur Zeit unbegründet abzuweisen.
Dr. Thomas Dr. Gehring Richter Dr. Olderog
ist durch Urlaub an
der Unterschrift ver-
hindert.
Dr. Thomas
Liebsch Wengeler
Fundstellen