Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachträgliche Regelungslücke in Tarifvertrag
Orientierungssatz
1. Seit dem 1.1.1984 unterliegt das Krankengeld der Beitragspflicht zur Renten- und Arbeitslosenversicherung. Diese Belastung des Krankengeldes mit Arbeitnehmeranteilen für Renten- und Arbeitslosenversicherung bedeutet eine grundlegende Änderung des Krankenversicherungsrechts. Sie war für die Tarifvertragsparteien nicht vorhersehbar, so daß für sie damals kein Anlaß bestand, ob sie der Berechnung des vom Arbeitgeber zu gewährenden Zuschußes von dem "Bruttokrankengeld" oder von dem "Nettokrankengeld" auszugehen sei. In § 5 Nr des Bundesrahmentarifvertrages für die Poliere und Schachtmeister des Baugewerbes im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland und des Landes Berlin vom 12.6.1978 in der Fassung vom 3.5.1983 ist folglich seit dem 1.1.1984 insoweit eine nachträgliche Regelungslücke entstanden.
2. Siehe auch BAG Urteil vom 10.12.1986 5 AZR 517/85.
Normenkette
TVG § 1; RVO § 182 Abs. 1 Nr. 1b, §§ 210, 180; AFG § 186 Abs. 1; SGB I § 11 Abs. 1; AVG § 112b Abs. 1; RVO § 1385 b Abs. 1; HBegleitG 1984 Art. 2 Nr. 30, Art. 1 Nr. 53, Art. 17 Nr. 30, Art. 39 Abs. 1
Verfahrensgang
LAG Hamm (Entscheidung vom 13.11.1984; Aktenzeichen 7 Sa 1118/84) |
ArbG Bocholt (Entscheidung vom 04.06.1984; Aktenzeichen 1 Ca 808/84) |
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Höhe des dem Kläger zustehenden Krankengeldzuschusses.
Der Kläger ist bei der Beklagten seit September 1955 als Polier beschäftigt. Für das Arbeitsverhältnis gilt kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Bundesrahmentarifvertrag für die Poliere und Schachtmeister des Baugewerbes im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland und des Landes Berlin vom 12. Juni 1978 in der Fassung vom 3. Mai 1983 (BRTV-Poliere). Nach § 5 Nr. 2.1 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 BRTV-Poliere erhält der Polier (oder Schachtmeister), der länger als sechs Wochen arbeitsunfähig krank ist, von der siebten Woche an nach dreijähriger Betriebszugehörigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen, nach siebenjähriger Betriebszugehörigkeit bis zur Dauer von acht Wochen und nach zehnjähriger Betriebszugehörigkeit bis zur Dauer von zwölf Wochen vom Arbeitgeber einen Zuschuß zum Krankengeld. § 5 Nr. 2.1 Abs. 2 Satz 2 und Satz 3 BRTV-Poliere lauten:
Der Zuschuß wird in Höhe des Betrages gewährt,
der sich als Unterschied zwischen dem Nettoge-
halt und den Leistungen der gesetzlichen Kranken-
versicherung oder Unfallversicherung ergibt. Ist
der Polier oder Schachtmeister nicht in einer
gesetzlichen Krankenkasse versichert, so ist das
Krankengeld oder Hausgeld der Berechnung zugrunde-
zulegen, das er als Mitglied einer gesetzlichen
Krankenversicherung in der Höchststufe erhalten
würde.
Das Krankengeld (§ 182 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3, Abs. 4 RVO) unterliegt seit dem 1. Januar 1984 der Beitragspflicht zur Renten- und Arbeitslosenversicherung. Die Beiträge sind je zur Hälfte von den Krankengeldbeziehern und den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung aufzubringen und von der Krankenversicherung an den Rentenversicherungsträger sowie an die Bundesanstalt für Arbeit abzuführen (§ 1385 b Abs. 1 RVO, § 112 b Abs. 1 AVG, § 186 Abs. 1 AFG, eingefügt durch Art. 1 Nr. 53, Art. 17 Nr. 30, Art. 39 Abs. 1 des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 vom 22. Dezember 1983, BGBl. I S. 1532). Der Streit der Parteien betrifft vorliegend die Frage, ob bei der Berechnung des Krankengeldzuschusses das um den Beitragsanteil des Arbeitnehmers gekürzte oder aber das ungekürzte Krankengeld zugrundezulegen ist.
Der Kläger war ab Mitte November 1983 arbeitsunfähig krank. Ab 1. Januar 1984 gewährte ihm die Krankenkasse nur noch das um die Arbeitnehmeranteile zur Renten- und Arbeitslosenversicherung verminderte Krankengeld ("Nettokrankengeld"). Die Beklagte berechnete den Zuschuß zum Krankengeld wie bisher auf der Grundlage des ungekürzten Krankengeldes ("Bruttokrankengeld"). Dadurch erhielt der Kläger in den Monaten Januar bis März 1984 insgesamt 920,04 DM weniger, als sein Nettogehalt im Sinne des § 5 Nr. 2.1 BRTV-Poliere betragen hätte. Dieses Ergebnis hält der Kläger für ungerechtfertigt und verlangt von der Beklagten die Zahlung des Unterschiedsbetrages.
Der Kläger hat die Ansicht vertreten, § 5 Nr. 2.1 BRTV-Poliere wolle bezwecken, daß der länger beschäftigte Arbeitnehmer auch von der siebten Krankheitswoche ab keinen finanziellen Nachteil erleide. Diesen Nachteil erfahre er aber aufgrund des Haushaltsbegleitgesetzes 1984, sofern bei der Berechnung des Zuschusses das "Bruttokrankengeld" zugrundegelegt werde. Zwar hätten die Tarifvertragsparteien die Gesetzesänderung bei ihren letzten Verhandlungen im Mai 1983 nicht berücksichtigen können. Unter dem Begriff "Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung" hätten sie aber auch bei Kenntnis der gesetzlichen Änderung nur das verstanden, was dem Versicherten effektiv zufließe. Das sei jetzt nur noch das "Nettokrankengeld". Nur dieses stehe dem Arbeitnehmer zu seiner wirtschaftlichen Absicherung zur Verfügung. Das Risiko der veränderten Gesetzeslage nach vollzogenem Tarifabschluß müsse nach Sinn und Zweck der tarifvertraglichen Regelung allein der Arbeitgeber tragen. Deshalb schulde die Beklagte die Differenz zwischen Nettokrankengeld und Nettogehalt.
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 920,04 DM
nebst 4 % Zinsen seit dem 17. Mai 1984 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat vorgetragen: Der Berechnung des Zuschusses seien die Leistungen der Krankenkasse zugrundezulegen. Diese Leistungen seien ab Januar 1984 zwar beitragspflichtig, aber in der Höhe unverändert. Sinn der gesetzlichen Regelung sei die Stabilisierung der Rentenversicherung. Vom Gesetz würden als Adressat der Belastung mit Beitragsanteilen der Arbeitnehmer und die Krankenkasse bestimmt (§ 1385 RVO, § 112 b AVG, § 186 AFG). Dieser Gesetzeszweck würde während der Dauer der Zuschußgewährung in sein Gegenteil verkehrt, sofern der Berechnung des Zuschusses das Nettokrankengeld zugrundegelegt werden müsse. Auch daraus folge, daß als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung im Sinne des § 5 Nr. 2.1 BRTV-Poliere das Bruttokrankengeld maßgeblich sei.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht die Klage abgewiesen. Dagegen richtet sich die Revision, mit der der Kläger die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils erstrebt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Die Vorschrift des § 5 Nr. 2.1 BRTV-Poliere, die allein dafür in Betracht kommt, bietet zur Zeit keine Anspruchsgrundlage für das Klagebegehren. Sie ist seit dem 1. Januar 1984 lückenhaft geworden (I). Eine ergänzende Lückenausfüllung ist dem Gericht nicht möglich (II).
I. 1. Die von den Tarifvertragsparteien in § 5 Nr. 2.1 BRTV-Poliere verwendeten Begriffe "Zuschuß" und "Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung oder Unfallversicherung" richten sich nach dem Krankenversicherungsrecht.
Der Krankengeldzuschuß stellt eine tarifvertragliche Leistung des Arbeitgebers dar, die das Krankengeld als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 182 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 RVO) ergänzen soll. Die tarifvertraglichen Begriffe "Krankengeld" und "Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung" sind dem Krankenversicherungsrecht entnommen. Sie müssen daher auch im sozialversicherungsrechtlichen Sinne verstanden und ausgelegt werden (vgl. dazu BAGE 46, 61, 66 = AP Nr. 3 zu § 9 TVG 1969, mit weiteren Nachweisen). Daraus ergibt sich: Mit "Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung" (gleichbedeutend mit "Barleistungen" oder "tatsächlichen Barleistungen", die andere Tarifverträge formulieren) ist nicht der Betrag gemeint, der dem Arbeitnehmer tatsächlich zufließt. Vielmehr soll damit unterschieden werden zwischen Geldleistungen einerseits sowie Sach- und Dienstleistungen andererseits als den Leistungsformen im Krankenversicherungsrecht (vgl. die zur Veröffentlichung vorgesehene Entscheidung des Senats vom 10. Dezember 1986 - 5 AZR 517/85 -, zu I 1 und 2 a der Gründe). Dies wird vorliegend noch besonders deutlich dadurch, daß nach § 5 Nr. 2.1 Abs. 2 Satz 3 BRTV-Poliere das "Krankengeld" der Berechnung des Zuschusses zugrundezulegen ist, das der Polier, der nicht in einer gesetzlichen Krankenversicherung versichert ist, als Mitglied einer solchen Krankenkasse erhalten würde.
2. Seit dem 1. Januar 1984 unterliegt das Krankengeld der Beitragspflicht zur Renten- und Arbeitslosenversicherung. Nach § 1385 b Abs. 1 Satz 2 RVO, § 112 b Abs. 1 Satz 2 AVG und § 186 Abs. 1 Satz 2 AFG tragen der Krankengeldbezieher und der Leistungsträger die Beiträge je zur Hälfte. (Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Beitragsabzugs vgl. BSG Urteil vom 19. Juni 1986 - 12 RK 54/85 -, zur Veröffentlichung vorgesehen.) Bei dieser Neuregelung hat der Gesetzgeber die Vorschriften über das Krankengeld selbst (§ 182 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4 RVO) unverändert gelassen. Hieraus folgt, daß der Begriff des Krankengeldes seit dem 1. Januar 1984 in einem zweifachen Sinn zu verstehen ist, als "Bruttokrankengeld" und als "Nettokrankengeld". Das Gesetz trifft diese Unterscheidung jedoch nicht ausdrücklich und regelt auch nicht die Folgerungen, die sich für die Verwendung des Begriffs des Krankengeldes aus der Neuregelung ergeben.
3. Es kann davon ausgegangen werden, daß die Tarifvertragsparteien bei der am 12. Juni 1978 getroffenen Vereinbarung des § 5 Nr. 2 BRTV-Poliere (einschließlich der Neufassung vom 3. Mai 1983) mit geringfügigen Veränderungen in der Höhe des Krankengeldes gerechnet haben. Derartige Veränderungen entsprechen der Erfahrung des Arbeitslebens. Die Belastung des Krankengeldes mit Arbeitnehmeranteilen für Renten- und Arbeitslosenversicherung bedeutet jedoch eine grundlegende Änderung des Krankenversicherungsrechts. Sie war für die Tarifvertragsparteien nicht vorhersehbar, so daß für sie damals kein Anlaß bestand, die Frage zu regeln, ob bei der Berechnung des vom Arbeitgeber zu gewährenden Zuschusses von dem "Bruttokrankengeld" oder von dem "Nettokrankengeld" auszugehen sei. In § 5 Nr. 2 BRTV-Poliere ist folglich seit dem 1. Januar 1984 insoweit eine nachträgliche Regelungslücke entstanden. Anders als bei bewußten Tariflücken kommt in derartigen Fällen eine Lückenausfüllung durch Urteil grundsätzlich in Betracht (vgl. statt vieler BAGE 47, 61, 67 = AP Nr. 95 zu §§ 22, 23 BAT 1975). Vorliegend sind die Gerichte jedoch nicht befugt, die Regelungslücke im Wege einer ergänzenden Auslegung zu schließen, weil den Tarifvertragsparteien hierfür verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen und sie sich aufgrund ihrer Tarifhoheit für eine hiervon selbst entscheiden müssen. Ein Tätigwerden der Gerichte bedeutete, daß sie verfassungswidrig in die Tarifautonomie eingriffen (vgl. BAGE 36, 218, 225, 226 = AP Nr. 19 zu § 611 BGB Lehrer, Dozenten).
II. Folgende Möglichkeiten einer Ergänzung des Manteltarifvertrages bestehen, denen die Gerichte nicht vorgreifen dürfen:
1. Sieht man als entscheidenden Gesichtspunkt an, daß der Arbeitnehmer nach Sinn und Zweck des § 5 Nr. 2 BRTV-Poliere auch nach Wegfall der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle seinen Nettolohn durch Krankengeld und einen entsprechenden Zuschuß des Arbeitgebers behalten soll, dann müßte die Neuregelung vorsehen, daß der Zuschuß zum Nettokrankengeld zu zahlen ist. Auf der anderen Seite ließe sich an den Grundsatz anknüpfen, daß gesetzliche Lasten, die dem Arbeitnehmer auferlegt sind, auch von diesem getragen werden müssen. Ein Anhalt dafür findet sich schon in der bisherigen tariflichen Regelung insofern, daß die auf den Zuschuß entfallende Lohnsteuer (§ 2 Abs. 3 Nr. 3 LStDVO) vom Arbeitnehmer allein zu tragen ist. Legte man dieses Prinzip zugrunde, wäre der Zuschuß nach dem Bruttokrankengeld zu bemessen. Schließlich wäre daran zu denken, die vom Gesetz neu geschaffene Belastung des Arbeitnehmers zwischen den Arbeitsvertragsparteien aufzuteilen, wobei sich wiederum verschiedene Möglichkeiten der Verteilung der Beitragslast ergeben, auch in der Weise, daß die Anspruchsdauer oder der anspruchsberechtigte Personenkreis verändert würden. Jede dieser Möglichkeiten erfordert eine ergänzende rechtspolitische Entscheidung, die von den Tarifvertragsparteien zu treffen ist (vgl. dazu auch BAGE 41, 161 = AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG Besitzstand).
2. Es muß daher den Tarifvertragsparteien überlassen bleiben, durch entsprechende Vereinbarung diejenige Lösung auszuhandeln, die nach ihren Vorstellungen im Hinblick auf den Zweck der Regelung am besten geeignet ist, die entstandene Lücke zu schließen. Da die Tarifvertragsparteien in der Lage sind, den Tarifvertrag rückwirkend auf den Zeitpunkt zu ergänzen, zu dem die Neuregelung des Krankenversicherungsrechts in Kraft getreten ist, war die Klage noch nicht endgültig, sondern nur als zur Zeit unbegründet abzuweisen.
Dr. Thomas Dr. Gehring Dr. Olderog
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Scherer Dr. Stadler
Fundstellen