Entscheidungsstichwort (Thema)
Tarifvertragliche Ausschlussfrist
Leitsatz (redaktionell)
Für die Anwendung von § 18 Ziff. 1 S. 2 und 3 MTV für den Berliner Einzelhandel kommt es nicht darauf an, ob der Arbeitgeber sich gegenüber dem betreffenden Arbeitnehmer oder allen Arbeitnehmern in vollem Umfang an die tariflichen Vergütungsregelungen hält. Die Bestimmung kann nicht dahin verstanden werden, dass die Ausschlussfrist nur für den Arbeitgeber gilt, der unabhängig von dem streitigen Anspruch die Tarifverträge einhält. Wenn vorsätzliche untertarifliche Bezahlung nicht „hierunter” fällt, bezieht sich das allein auf den Verfall des geltend zu machenden Anspruchs.
Normenkette
Manteltarifvertrag für den Berliner Einzelhandel § 18
Verfahrensgang
Tenor
1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 3. Mai 2007 – 14 Sa 354/07 – wird in Höhe von 66,87 Euro als unzulässig verworfen, im Übrigen als unbegründet zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten im Wege der Zahlungsklage über Mehrarbeitszuschläge für die Jahre 2003 bis 2005 sowie im Wege einer Stufenklage über weitere Mehrarbeitszuschläge für 2002.
Der Kläger ist seit 1998 bei der Beklagten als Lagerist beschäftigt. Sein Beschäftigungsbetrieb ist in einem westlichen Bezirk Berlins gelegen. Auf das Arbeitsverhältnis findet kraft beiderseitiger Tarifbindung der Manteltarifvertrag für den Berliner Einzelhandel (MTV) Anwendung.
Nach § 6 Ziff. 1 MTV beträgt die regelmäßige tarifliche Arbeitszeit in den westlichen Bezirken Berlins 37 Stunden wöchentlich. Die tarifvertragliche Regelung lässt unter bestimmten Voraussetzungen Ausnahmen zu. Mehrarbeit ist mit 25 % Zuschlag zum Stundenentgelt zu vergüten, § 7 Ziff. 4 MTV.
§ 18 MTV lautet:
“1. Ansprüche auf Zahlung oder Rückzahlung von Gehalt oder Lohn, tarifliche Eingruppierung oder höhere tarifliche Eingruppierung verfallen, wenn sie nicht innerhalb von 3 Monaten nach Ende des Abrechnungszeitraumes, in dem sie hätten berücksichtigt werden müssen, schriftlich geltend gemacht werden.
Vorsätzliche untertarifliche Bezahlung fällt nicht hierunter. Sie liegt vor, wenn ein/e Arbeitgeber/in in Kenntnis des Gehalts- und Lohntarifs unter Tarif bezahlt.
2. Scheidet der/die Arbeitnehmer/in aus, sind alle Ansprüche auf Zahlung oder Rückzahlung von Entgelt, tarifliche Eingruppierung und höhere tarifliche Eingruppierung spätestens einen Monat nach dem Ausscheiden oder, falls dieser Termin später liegt, einen Monat nach erfolgter Endabrechnung schriftlich geltend zu machen.
…
4. Vorstehende Fristen gelten als Ausschlussfristen für beide Seiten.”
Mit seiner am 23. Dezember 2005 beim Arbeitsgericht eingereichten und der Beklagten am 5. Januar 2006 zugestellten Klage hat der Kläger die Zahlung von Mehrarbeitszuschlägen verlangt. Er hat die Auffassung vertreten, die tarifvertragliche Ausschlussfrist ergreife weder die geltend gemachten Zahlungsansprüche auf Zuschläge noch die vorbereitenden Anträge, die der Geltendmachung weiterer Ansprüche für 2002 dienten.
Der Kläger hat beantragt,
1. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 253,19 Euro brutto zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszins aus 40,47 Euro seit dem 2. Januar 2004, aus 93,73 Euro seit dem 2. Januar 2005 und aus weiteren 118,99 Euro seit dem 1. September 2005 zu zahlen,
2. die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger gut lesbare Kopien sämtlicher Stempelkarten für das Jahr 2002 auszuhändigen oder ein anderes Verzeichnis auszustellen, aus welchem die vom Kläger geleisteten Wochenarbeitsstunden im Jahr 2002 hervorgehen,
3. hilfsweise zum Antrag zu 2. die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger auf anderem Wege Auskunft über die vom Kläger geleisteten Wochenarbeitsstunden für das Jahr 2002 zu erteilen,
4. für den Fall des Obsiegens mit den Anträgen zu 2. oder 3. die Beklagte zu verurteilen, die Richtigkeit der erteilten Auskunft an Eides statt zu versichern,
5. die Beklagte zu verurteilen, die sich aus den Unterlagen zu 2. oder der Auskunft zu 3. ergebende Mehrarbeitsvergütung für das Jahr 2002 an den Kläger zu zahlen,
6. hilfsweise zu den Anträgen zu 2. bis 5. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger weitere 34,64 Euro zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 2. Januar 2003 zu zahlen.
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.
Sie hat die Auffassung vertreten, der Kläger habe die angeblich geleistete Mehrarbeit und die Ansprüche auf Mehrarbeitszuschläge nicht substantiiert dargelegt. Die Ansprüche seien gegebenenfalls zum größten Teil verfallen.
Das Arbeitsgericht hat die Beklagte verurteilt, an den Kläger 11,89 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 2. Januar 2006 zu zahlen, und die Klage im Übrigen abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Anträge weiter.
Entscheidungsgründe
I. Die Revision ist unzulässig, soweit sie die mangels hinreichender Substantiierung abgewiesenen Ansprüche für die Zeit ab dem 1. Oktober 2005 betrifft; denn insoweit fehlt es an einer Revisionsbegründung. Nach § 551 Abs. 3 ZPO muss die Revision zu jedem einzelnen Streitgegenstand begründet werden (vgl. nur BAG 16. April 1997 – 4 AZR 653/95 – zu I 2, 3 der Gründe mwN, AP ArbGG 1979 § 72 Nr. 35 = EzA ZPO § 554 Nr. 6).
II. Im Übrigen ist die Revision unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat im Ergebnis zutreffend erkannt, dass die Ansprüche, die vor dem 1. Oktober 2005 fällig geworden sein sollen, jedenfalls gem. § 18 MTV verfallen sind. Das betrifft auch die Hilfsansprüche auf Herausgabe und Auskunft für das Jahr 2002.
1. Ansprüche auf Mehrarbeitszuschläge gem. § 7 Ziff. 4 MTV fallen unter § 18 Ziff. 1 Satz 1 MTV.
a) Ansprüche auf Zahlung von Gehalt oder Lohn betreffen nach dem allgemeinen Sprachgebrauch die Arbeitsvergütung insgesamt, nicht nur einen Stundenlohn oder Grundlohn (Grundgehalt). Es besteht kein Anhaltspunkt dafür, dass nur die Vergütung für die regelmäßig geleistete Arbeit, nicht die Vergütung für Mehrarbeit gemeint ist. Gehalt und Lohn ergeben sich nicht allein aus den Gehalts- und Lohntarifverträgen, sondern können auch in Manteltarifverträgen geregelt werden.
b) Der tarifliche Zusammenhang zeigt, dass der MTV kein hiervon abweichendes Verständnis zugrunde legt. § 9 Ziff. 1 MTV enthält keine Definition von Gehältern und Löhnen. Vielmehr sind hiernach die in einer besonderen Tarifvereinbarung festzusetzenden Löhne und Gehälter Mindestentgelte für die regelmäßige Arbeitszeit. Die etwa hinzukommenden “Beträge für Mehrarbeit, Zulagen usw.” stellen ebenfalls Entgelt im Sinne von Gehalt und Lohn dar, wie der Zusammenhang mit § 9 Ziff. 8 und 9 sowie § 18 Ziff. 2 MTV ergibt. Die Stellung des § 18 MTV am Schluss dieses Tarifvertrags spricht eindeutig dafür, dass alle zuvor aufgeführten Entgeltansprüche erfasst werden.
c) Ausschlussfristen dienen dem Zweck, Rechtsfrieden und Rechtssicherheit herzustellen (Senat 19. Dezember 2007 – 5 AZR 1008/06 – Rn. 32, EzA BGB 2002 § 306 Nr. 3). Die Vertragsparteien werden nach Fristablauf davon befreit, Rückstellungen zu bilden und Beweismittel vorzuhalten. Dies gilt bei Unklarheit über regelmäßige Gehalts- oder Lohnansprüche ebenso wie bei Unklarheit über Ansprüche auf Mehrarbeitszuschläge. Die Wahrscheinlichkeit einer Unklarheit über die Voraussetzungen des Anspruchs ist hier eher größer. Dies spricht dafür, Ausschlussfristen auch auf Zuschläge anzuwenden, soweit dies im Rahmen des Wortlauts und des tariflichen Gesamtzusammenhangs liegt. Es besteht kein Anhaltspunkt dafür, dass die Tarifvertragsparteien mit § 18 MTV ein anderes Ziel verfolgt haben.
2. Der Kläger hat die Ansprüche nach den unbeanstandeten Feststellungen des Landesarbeitsgerichts vor Klageerhebung nicht schriftlich geltend gemacht. Die Klageschrift ist der Beklagten erst im Januar 2006 und damit nach Ablauf von drei Monaten nach dem jeweiligen Ende des Abrechnungszeitraums zugestellt worden. Die Berechnung des Landesarbeitsgerichts zu II 1 der Entscheidungsgründe trifft zu, sie wird von der Revision auch nicht angegriffen.
3. Die Ausnahme bei vorsätzlicher untertariflicher Bezahlung gem. § 18 Ziff. 1 Satz 2, 3 MTV betrifft wie die Ausschlussfrist selbst alle tariflichen Vergütungsansprüche. Bezahlung “unter Tarif” heißt, dass der Arbeitgeber weniger Vergütung zahlt als sich aus den anzuwendenden Tarifverträgen ergibt. Auch arbeitsvertraglich wird unter “Vergütung nach Tarif” das Arbeitsentgelt unter Berücksichtigung aller einschlägigen tariflichen Bestimmungen verstanden, soweit nichts anderes geregelt ist. Der Senat vermag der Auffassung des Landesarbeitsgerichts, untertarifliche Bezahlung beziehe nur die Tarife der Lohn- und Gehaltstarifverträge ein, nicht zu folgen. Maßgebend für die Aufrechterhaltung des Anspruchs ist der “Vorsatz” des Arbeitgebers. Die vorsätzliche Verletzung des Tarifs ist nach Wortlaut und Zusammenhang der Regelung ebenso umfassend wie die Vergütung nach Tarif. (Nur) der vorsätzlich handelnde Arbeitgeber soll nicht durch die Ausschlussfrist begünstigt werden. Jedenfalls bei einem zutreffenden Verständnis des Begriffs “Vorsatz” wird die Grundregelung des § 18 Ziff. 1 Satz 1 MTV damit entgegen den Ausführungen des Landesarbeitsgerichts keineswegs weitgehend entbehrlich. Deshalb können auch die streitgegenständlichen Ansprüche auf Zuschläge für Mehrarbeit unter die Ausnahmeregelung fallen. Sie sind nicht verfallen, wenn die Beklagte vorsätzlich unter Tarif bezahlt hat.
4. Der Rechtsfehler des Landesarbeitsgerichts führt nicht zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache. Vielmehr stellt sich die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts aus anderen Gründen als richtig dar, § 561 ZPO. Die Ansprüche sind verfallen, weil die Beklagte nicht vorsätzlich unter Tarif bezahlt hat, § 18 Ziff. 1 Satz 2 und 3 MTV. Das Landesarbeitsgericht hat keine Feststellungen zur Frage des Vorsatzes der Beklagten getroffen. Es hat aber auf die in beiden Instanzen gewechselten Schriftsätze und die erstinstanzliche Entscheidung Bezug genommen. Hiernach ergibt sich, dass der Kläger keinen schlüssigen Vortrag für einen Vorsatz der Beklagten geleistet hat. Die vom Senat vertretene Auslegung zum gegenständlichen Anwendungsbereich des § 18 MTV lag an sich nahe. Der Kläger hatte dieses Verständnis der Tarifnorm auch selbst erwogen und hätte es bei seinem weiteren Sachvortrag berücksichtigen müssen. Er ist für die Aufrechterhaltung der Ansprüche darlegungs- und beweispflichtig und hätte deshalb wenigstens vorsorglich zur Frage des Vorsatzes der Beklagten vortragen müssen. Der Senat kann in der Sache selbst abschließend entscheiden, da ein entsprechender Sachvortrag seitens des Klägers nicht mehr zu erwarten ist.
III. Der Kläger hat gem. § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten der Revision zu tragen.
Unterschriften
Müller-Glöge, Mikosch, Laux, Kessel W. Hinrichs
Fundstellen
Haufe-Index 2136720 |
AUR 2009, 186 |