Entscheidungsstichwort (Thema)
Wirksamkeit von Betriebskollektivverträgen
Leitsatz (redaktionell)
Hinweise des Senats: Parallelsache zu – 10 AZR 621/92 –
Normenkette
AGB-DDR in der Fassung vom 16. Juni 1977 (GBl. I S. 185) § 28, § 24; Richtlinien des Ministerrates und des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes zur Arbeit mit dem Betriebskollektivvertrag vom 23. Mai 1985 (GBl. I S. 173); Gewerkschaftsgesetz vom 6. März 1990 (GBl. I S. 110) §§ 11, 12; Gesetz zur Änderung und Ergänzung der Verfassung der DDR – Verfassungsgrundsätzegesetz – vom 17. Juni 1990 (GBl. I S. 299) Art. 1; Verordnung zu Übergangsregelungen bis zur erstmaligen Wahl der Betriebsräte nach dem
Verfahrensgang
LAG Mecklenburg-Vorpommern (Urteil vom 17.09.1992; Aktenzeichen 1 Sa 183/92) |
KreisG Rostock-Stadt (Urteil vom 14.04.1992; Aktenzeichen 9 Ca 186/91) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 17. September 1992 – 1 Sa 183/92 – aufgehoben.
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Kreisgerichts Rostock-Stadt vom 14. April 1992 – 9 Ca 186/91 – abgeändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Beklagte, die R GmbH, ist ein Tochterunternehmen der D AG. Diese wiederum ist Rechtsnachfolgerin des VEB F (im folgenden nur VEB).
Am 19. Juni 1990 schlossen der VEB und die hier bestehende Betriebsgewerkschaftsleitung eine Rationalisierungsschutzvereinbarung, in der es u.a. wie folgt heißt:
1. Ziel der Vereinbarung
Regelung der Verfahrensweise bei Rationalisierungsmaßnahmen, Umstrukturierungen, Veränderung der Eigentumsverhältnisse, Stillegungen und Teilstillegungen, die unter den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft eine steigende wirtschaftliche Effektivität mit einer sozialen Absicherung der Belegschaft in Übereinstimmung bringen.
2. Geltungsbereich
VEB F und deren Rechtsnachfolger…
3. …
4. Umsetzung
…
5. Umschulung
…
6. Vorruhestand
…
7. Kündigungen
Für alle Kündigungen durch den Betrieb gilt eine Mindestkündigungsfrist von drei Monaten.
…
Muß Werktätigen fristgemäß gekündigt werden, weil ihnen innerhalb oder außerhalb des Betriebes kein zumutbarer Arbeitsplatz angeboten werden kann, ist eine Abfindung wegen Verlustes des Arbeitsplatzes zu zahlen…
7.1. Berechnung der Abfindung
Die Höhe der Abfindung wird nach folgender Formel berechnet:
Lebensalter × Dienstjahre |
= 50 |
Anzahl der Bruttomonatsverdienste |
Die Abfindung beträgt höchstens zehn Bruttomonatsverdienste, mindestens sechs Bruttomonatsverdienste, jedoch nicht mehr als 30.000 DM.
7.3. Sonstige Bestimmungen – Urlaub
…
10. Finanzierungsgrundsätze
Beide Vertragspartner gehen davon aus, daß die Wirtschaftlichkeit des Fischkombinates kurzfristig nicht erreicht werden kann. Demzufolge nutzen die Vertragspartner alle Möglichkeiten, um die entsprechenden Förderungsbeträge insbesondere für die Punkte 4.3. (Ausgleichszahlungen bei Umsetzungen) und 7.1. (Abfindungen) dieser Vereinbarung für die Anpassung an die Bedingungen der sozialen Marktwirtschaft von der Regierung zu erhalten.
Neben der Absicherung der Lohn- und Gehaltszahlung betrachten die Vertragspartner die finanziellen Zuwendungen dieser Rationalisierungsschutzvereinbarung als vorrangig.
11. Gültigkeit der Vereinbarung
Diese Vereinbarung tritt mit Wirkung vom 1. Juli 1990 in Kraft. Diese Vereinbarung gilt zeitlich unbegrenzt. Eine einseitige Kündigungsfrist wird mit sechs Monaten vereinbart.
Die Vereinbarung hat im Falle der Kündigung eine Nachwirkung solange, bis im Einvernehmen beider Vertragspartner eine neue Vereinbarung wirksam wird.
Die Kosten dieser Rationalisierungsschutzvereinbarung hätten sich nach dem Vorbringen der Beklagten auf rund 80 Mio. DM belaufen.
Am 19. Oktober 1990 wurde zwischen dem Vorstand der D – AG und dem „Vertretungsorgan der Arbeitnehmer” gem. § 112 BetrVG „für alle Unternehmen der D – AG” ein zentraler Sozialplan (im folgenden nur Sozialplan) vereinbart. Der Sozialplan ist auf Arbeitnehmerseite unterzeichnet von einem „Sprecher der BGL-/Betriebsratsvorsitzenden der D -AG”.
In diesem Sozialplan heißt es u.a. wie folgt:
Präambel
Der Sozialplan wird zum Zwecke des Ausgleichs oder der Milderung von wirtschaftlichen Nachteilen vereinbart, die Belegschaftsmitgliedern infolge von Struktur- und Rationalisierungsmaßnahmen entstehen können…
1. Geltungsbereich
Dieser Sozialplan gilt für alle Mitarbeiter der Betriebe der D AG, die von den geplanten personellen Maßnahmen während der Laufdauer dieses Sozialplanes betroffen werden.
Betriebe der D AG im Sinne dieses Sozialplanes sind
a) alle Kapitalgesellschaften, die entsprechend dem Treuhandgesetz… in Tochterunternehmen der D AG umgewandelt wurden;
…
2. Laufdauer
Dieser Sozialplan tritt ab 1. Juli 1990 in Kraft und läuft bis zum 31. Dezember 1992.
…
3. Kündigungsfristen/Kündigungsschutz
…
4. Versetzungen/Privatisierung
…
5. Umschulungen
…
6. Kündigungen/Vorruhestand
6.1. Bei betriebsbedingten Kündigungen und bei Auflösung des Arbeitsverhältnisses in beiderseitigem Einverständnis, wenn keine Versetzung entsprechend Punkt 4. zustande kommt, gilt folgendes: Die Belegschaftsmitglieder erhalten nach Beendigung der Kündigungsfrist eine Einmalzahlung, deren Höhe sich aus dem beigefügten Abfindungsplan ergibt (Anl. 1).
…
6.2. Vorruhestand
Die Arbeitnehmer erhalten im ersten Quartal 1991 eine Einmalzahlung, deren Höhe sich aus dem beigefügten Abfindungsplan ergibt (Anl. 2).
…
10. Schlußbestimmungen/Übergangsregelungen
10.1. Zwischen den Partnern dieses zentralen Sozialplanes besteht Übereinstimmung, daß für den Zeitraum der Gültigkeit dieses zentralen Sozialplanes die Rationalisierungsschutzvereinbarung vom 19. Juni 1990, abgeschlossen zwischen dem geschäftsführenden Beauftragten des VEB F und dem BGL-Vorsitzenden des VEB F –, nicht angewendet wird.
Weiter besteht Übereinstimmung der Partner, daß auch alle anderen Rationalisierungsschutzvereinbarungen… gleichbehandelt werden.
In der Anlage 1 zum Sozialplan heißt es u.a.:
Die Abfindung beträgt:
Lebensalter × Dienstjahre × 800 |
= 50 |
Höhe der Abfindung in DM |
…
Die Abfindung beträgt… höchstens 23.000,– DM. Die Mindestabfindung beträgt 2.000,– DM….
Dieser Sozialplan soll Aufwendungen in Höhe von etwas weniger als 40 Mio. DM zur Folge haben.
Die Klägerin war beim VEB und später bei der Beklagten beschäftigt. Die Beklagte kündigte ihr 1990 aus betrieblichen Gründen. Im Kündigungsschreiben heißt es u.a.:
„Ihr Anspruch auf Abfindungszahlung wegen Verlustes des Arbeitsplatzes regelt sich nach Ziffer 7 des betrieblichen Rationalisierungsschutzabkommens vom 19.06.1990.”
Die Beklagte zahlte der Klägerin bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine Abfindung, die sie nach dem Sozialplan berechnete.
Die Klägerin ist der Ansicht, ihre Abfindung müsse nach der Rationalisierungsschutzvereinbarung berechnet werden. Die Rationalisierungsschutzvereinbarung sei wirksam vereinbart worden. Durch den Sozialplan habe ihr mit der Kündigung entstandener Anspruch auf eine Abfindung nach dieser Rationalisierungsschutzvereinbarung nicht mehr gemindert werden dürfen.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 5.110,– DM nebest 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hält die Rationalisierungsschutzvereinbarung für unwirksam. Nach § 24 AGB-DDR hätten in Betriebskollektivverträgen Abfindungszahlungen nicht vereinbart werden können. Die Erfüllung der Rationalisierungsschutzvereinbarung hätte ihre Illiquidität zur Folge gehabt. Wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage der Rationalisierungsschutzvereinbarung sei der Sozialplan vereinbart worden.
Kreisgericht und Landesarbeitsgericht haben der Klage stattgegeben. Mit der zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Abweisungsantrag weiter, während die Klägerin um Zurückweisung der Revision bittet.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Die Rationalisierungsschutzvereinbarung ist unwirksam. Auf sie kann die Klägerin ihren Abfindungsanspruch nicht stützen. Der Klageanspruch ist von der Beklagten auch nicht im Kündigungsschreiben anerkannt worden.
I. Das Landesarbeitsgericht hat seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt begründet:
Als Betriebskollektivvertrag sei die Rationalisierungsschutzvereinbarung unwirksam, da in Betriebskollektivverträgen Abfindungszahlungen nicht hätten vereinbart werden dürfen. Das Rationalisierungsschutzabkommen sei aber eine „andere Vereinbarung” zwischen Betrieb und Betriebsgewerkschaftsleitung, die in § 24 AGB-DDR ebenfalls genannt werde und deren Inhalt unter Berücksichtigung der sozialen und rechtlichen Umwälzung im Jahre 1990 auch Abfindungszahlungen für Arbeitnehmer hätten sein können, denen im Zuge der notwendigen Umstrukturierung und Anpassung hätte gekündigt werden müssen.
Diese Begründung ist rechtsfehlerhaft. Ihr vermag der Senat nicht zu folgen.
II. Soweit die Beklagte auch in der Revisionsinstanz noch rügt, das Urteil des Kreisgerichts stimme wortwörtlich mit vorher verkündeten Urteilen einer anderen Kammer des Kreisgerichts überein und sei daher ein Schein- oder Nichturteil, vermag das ihre Revision nicht zu begründen. Das Landesarbeitsgericht hat über die Berufung der Beklagten gegen ein förmlich verkündetes Urteil des Kreisgerichts in der Sache entschieden und die Klage für begründet erachtet. Nach § 68 ArbGG durfte das Landesarbeitsgericht den Rechtsstreit unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt an das Arbeitsgericht zurückverweisen, mußte vielmehr in der Sache selbst entscheiden. Darin liegt weder ein Rechtsfehler, der zur Aufhebung der landesarbeitsgerichtlichen Entscheidung zwingt, noch ist dadurch allein die Beklagte beschwert. Davon abgesehen macht die Revision zu Recht geltend, daß das Landesarbeitsgericht die Rationalisierungsschutzvereinbarung zu Unrecht für wirksam erachtet hat.
III. Die Rationalisierungsschutzvereinbarung vom 19. Juni 1990 ist unwirksam.
1. Der Senat hat schon in seinem Beschluß vom 26. Mai 1992 (– 10 ABR 63/91 – AP Nr. 1 zu § 28 AGB-DDR, auch zum Abdruck in der Amtlichen Sammlung bestimmt) ausgesprochen, daß vor dem 1. Juli 1990 zwischen Betrieb und Betriebsgewerkschaftsleitung in einem Betriebskollektivvertrag keine Abfindungsansprüche für Arbeitnehmer begründet werden konnten, die infolge von Umstrukturierungs- oder Rationalisierungsmaßnahmen entlassen werden. Der Senat hat diese Entscheidung – zusammengefaßt – wie folgt begründet:
Der mögliche Inhalt eines Betriebskollektivvertrages wird in § 28 Abs. 2 AGB-DDR geregelt. In den Betriebskollektivvertrag sind konkrete, abrechenbare und termingebundene Verpflichtungen des Betriebsleiters und der Betriebsgewerkschaftsleitung aufzunehmen. Nähere Einzelheiten werden durch Grundsätze bestimmt, die vom Ministerrat und vom Bundesvorstand des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes gemeinsam erlassen werden, § 28 Abs. 3 AGB-DDR. Diese Grundsätze sind als Richtlinien durch Beschluß des Ministerrates der DDR und des Bundesvorstandes des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes vom 10. Juli 1975 erlassen worden. Danach enthalten Betriebskollektivverträge zunächst gegenseitige Verpflichtungen der Betriebspartner selbst hinsichtlich der in Satz 2 im einzelnen genannten Angelegenheiten und Aufgaben. Darüber hinaus ist der Betriebskollektivvertrag auch ein Normenvertrag, indem er arbeitsrechtliche Regelungen enthält, also Normen, die das Verhältnis des Arbeitnehmers zum Betrieb regeln. Solche Normen zu schaffen, steht jedoch nicht im Belieben von Betriebsleiter und Betriebsgewerkschaftsleitung, sie sind vielmehr zur Schaffung solcher Normen verpflichtet, soweit Rechtsvorschriften solche Regelungen vorschreiben, wie etwa in § 93 Abs. 2, § 112, § 116 Abs. 2, § 117 Abs. 2 und § 152 Abs. 3 AGB-DDR. Aus § 28 Abs. 2 Satz 3 AGB-DDR folgt zusätzlich, daß Betriebskollektivverträge überhaupt nur insoweit abgeschlossen werden können, als Rechtsvorschriften eine Regelung durch Betriebskollektivvertrag vorschreiben. Betriebsleitung und Betriebsgewerkschaftsleitung hatten daher nur eine beschränkte Regelungskompetenz. Für Betriebskollektivverträge galt nicht das Günstigkeitsprinzip. Durch sie konnten keine Ansprüche der Arbeitnehmer begründet werden, die über das gesetzlich zulässige hinausgingen. Die Rechtsvorschriften des Arbeitsrechts der DDR sahen jedoch die Zahlungen von Abfindungen an Arbeitnehmer, die infolge von Rationalisierungsmaßnahmen entlassen wurden, nicht vor.
2. Die Entscheidung des Senats hat im Schrifttum Kritik erfahren (vgl. Schindele, Zur Wirksamkeit von vor dem 1. Juli 1990 in den neuen Bundesländern abgeschlossenen Sozialprogrammen, BB 1992, 1211; Kohte, Betriebskollektivverträge und Betriebsverfassungsrecht, JuS 1993, 545; Däubler, Kollektivvereinbarungen aus der früheren DDR – ein Ärgernis? BB 1993, 427; zustimmend Plagemann, EWiR 1992, 1147; für Unwirksamkeit solcher Betriebskollektivverträge auch Schaub, Die Ablösung kollektivrechtlicher Vereinbarungen in den neuen Bundesländern, BB 1991, 685).
Dem Senat wird insbesondere vorgeworfen, er habe übersehen, daß die von ihm angezogenen Richtlinien des Ministerrates und des freien deutschen Gewerkschaftsbundes zur Arbeit mit dem Betriebskollektivvertrag vom 10. Juli 1975 durch neue Richtlinien vom 23. Mai 1985 (GBl. I S. 173) ersetzt worden seien. Nach III.4. dieser neuen Richtlinien seien in Betriebskollektivverträgen auch aufzunehmen:
Verpflichtungen und Festlegungen … zur einheitlichen betrieblichen Regelung sozialer und arbeitsrechtlicher Fragen im Zusammenhang mit Rationalisierungsmaßnahmen.
Regelungen über die Zahlung von Abfindungen bei Entlassungen könnten aber auch Regelungen arbeitsrechtlicher Fragen im Zusammenhang mit Rationalisierungsmaßnahmen sein. Die „Dynamik des Übergangsrechts” gestatte eine Auslegung der Richtlinien in diesem Sinne (vgl. vor allen Dingen Kohte, aaO, S. 548 ff.).
Die Argumente der genannten Kritik vermögen nicht zu überzeugen. Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest.
3.a) Es trifft zu, daß der Senat anläßlich seiner Entscheidung vom 26. Mai 1992 die neuen Richtlinien zur Arbeit mit dem Betriebskollektivvertrag vom 23. Mai 1985 nicht gekannt und daher nicht gewürdigt hat. Auch aus den neuen Richtlinien ergibt sich jedoch nicht die Befugnis der Betriebe und der Betriebsgewerkschaftsleitung in Betriebskollektivverträgen Abfindungen für Arbeitnehmer zu vereinbaren, die im Zuge von Rationalisierungsmaßnahmen entlassen werden.
Wenn nach III.4. der Richtlinien 1985 in den Betriebskollektivvertrag Verpflichtungen und Festlegungen aufzunehmen sind u.a.
„zur einheitlichen betrieblichen Regelung sozialer und arbeitsrechtlicher Fragen im Zusammenhang mit Rationalisierungsmaßnahmen”, so kann zunächst nicht übersehen werden, daß diese Verpflichtungen und Festlegungen unter der Überschrift
„Sicherung und Entwicklung der gesundheitlichen und sozialen Betreuung der Werktätigen”
aufgeführt sind. Schon das verbietet die Annahme, daß arbeitsrechtliche Fragen im Zusammenhang mit Rationalisierungsmaßnahmen sich auf rationalisierungsbedingte Entlassungen und die Zahlung von Abfindungen beziehen. Rationalisierungsmaßnahmen i.S. dieser Richtlinien stehen im Dienst einer „sozialistischen Rationalisierung”, wie sich aus II.2. der Richtlinien 1985 ergibt, wonach die Grundorientierung für die Ausarbeitung von Betriebskollektivverträgen u.a.
„Maßnahmen zur weiteren Entwicklung der Arbeits- und Lebensbedingungen, vor allem im Zusammenhang mit der sozialistischen Rationalisierung” beinhalten sollen. Die „sozialistische Rationalisierung” ist darauf gerichtet, Arbeitskräfte freizusetzen, um sie für andere gesellschaftlich notwendige Aufgaben zu gewinnen, was mit der Übernahme anderer Arbeitsaufgaben und teilweise auch mit einem Wechsel des Betriebes verbunden ist (Autorenkollektiv, Grundriß des Arbeitsrechts, 1980, S. 137). Werktätige, die infolge solcher Rationalisierungsmaßnahmen eine andere Arbeit im Betrieb oder …in einem anderen Betrieb übernehmen und dadurch ihren bisherigen Durchschnittslohn… nicht wieder erreichen können, erhalten nach § 121 AGB-DDR ein einmaliges Überbrückungsgeld in Höhe der Jahressumme der voraussichtlichen Minderung des Durchschnittslohnes. Auch diese Zusammenhänge schließen es aus, daß die „Regelung arbeitsrechtlicher Fragen im Zusammenhang mit Rationalisierungsmaßnahmen” eine Vereinbarung über die Zahlung von Abfindungen an entlassene Arbeitnehmer zum Inhalt haben kann.
Auch die Richtlinien 1985 haben die Befugnisse des Betriebes und der Betriebsgewerkschaftsleitung zur Schaffung arbeitsrechtlicher Regelungen und damit zur Begründung von Ansprüchen der Arbeitnehmer nicht erweitert. Auch nach dieser Richtlinie sind im Betriebskollektivvertrag – nur – die arbeitsrechtlichen Regelungen zu treffen, die entsprechend den Rechtsvorschriften im Betriebskollektivvertrag zu vereinbaren sind. Soweit in Betriebskollektivverträgen Ansprüche der Arbeitnehmer durch arbeitsrechtliche Regelungen zu begründen sind, hat der Betriebsleiter zu sichern, daß solche Festlegungen „finanziell, materiell und personell bilanziert und vertraglich gesichert werden (I.5. der Richtlinien)”. Die Mittel zur Befriedigung solcher Ansprüche wurden mit dem Volkswirtschaftsplan zum Teil in Form von Fonds zur planmäßigen eigenverantwortlichen Verwendung bereitgestellt. Daß Abfindungsansprüche der Arbeitnehmer bilanziert und dafür Mittel bereitgestellt wurden, ist nicht ersichtlich. Aus Nr. 10 der Rationalisierungsschutzvereinbarung ergibt sich vielmehr, daß solche Mittel nicht vorhanden waren, vielmehr „Förderungsbeträge” für Ausgleichszahlungen und Abfindungen von der Regierung erbeten werden sollten.
b) Entgegen der Ansicht von Kohte folgt auch aus dem Gewerkschaftsgesetz vom 6. März 1990 (GBl. I S. 110) nicht, daß den Betriebsgewerkschaftsleitungen und Betrieben weitergehende Befugnisse zum Abschluß von Betriebskollektivverträgen eingeräumt worden sind. Wenn es in § 12 GewG heißt, daß die Betriebsgewerkschaftsleitungen mit den Betriebsleitern Betriebskollektivverträge abschließen, so ist damit über den möglichen Inhalt solcher Betriebskollektivverträge nichts gesagt, vielmehr wird lediglich auf das noch geltende Recht, § 28 AGB-DDR, Bezug genommen. Wenn § 11 GewG den gewerkschaftlichen Grundorganisationen ein Recht auf Mitbestimmung bei allen betrieblichen Fragen einräumt, die die Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen betreffen, so ist auch diese Bestimmung nur eine Grundsatzproklamation, die über die Reichweite dieser Mitbestimmung nichts aussagt und insbesondere angesichts der Sonderregelung in § 12 GewG keine Aussage darüber enthält, was in Betriebskollektivverträgen geregelt werden kann.
c) Daß sich aus den Bestimmungen des Staatsvertrages vom 18. Mai 1990 keine Auswirkungen auf das bis zum 30. Juni 1990 geltende Recht der DDR ergeben, hat der Senat schon in seiner Entscheidung vom 26. Mai 1992 (zu II 2.a der Gründe) dargelegt. Daran hält der Senat fest.
d) Der Senat vermag auch nicht der Ansicht von Kohte zu folgen, daß aus dem Gesetz zur Änderung und Ergänzung der Verfassung der DDR – Verfassungsgrundsätzegesetz – vom 17. Juni 1990 (GBl. I S. 299) sich die Berechtigung oder gar Verpflichtung der Gerichte ergibt, die genannten Richtlinien zur Arbeit mit dem Betriebskollektivvertrag vom 23. Mai 1985 dahin auszulegen, daß zu den „arbeitsrechtlichen Fragen im Zusammenhang mit Rationalisierungsmaßnahmen” auch Fragen der Zahlung von Abfindungen an entlassene Arbeitnehmer gehören. Wenn es in Art. 1 Abs. 1 dieses Gesetzes heißt, daß die DDR ein freiheitlicher, demokratischer, föderativer, sozialer und ökologisch orientierter Rechtsstaat ist, und Art. 1 Abs. 2 bestimmt, daß die Vorschriften der Verfassung und sonstiger Rechtsvorschriften entsprechend diesem Verfassungsgesetz anzuwenden sind, so vermag das die von Kohte geforderte Auslegung nicht zu rechtfertigen. Auch wenn Betriebe und Betriebsgewerkschaftsleitung in Betriebskollektivverträgen keine Abfindungszahlungen an entlassene Arbeitnehmer vereinbaren konnten, steht dies dem in Abs. 1 dokumentierten Selbstverständnis der DDR als freiheitlicher und sozialer Rechtsstaat noch nicht entgegen. Auch wenn die §§ 12 und 28 AGB-DDR Ausdruck einer bewußten Einschränkung der wirtschaftlichen und sozialen Handlungsfreiheit von Betrieb und Betriebsgewerkschaftsleitung sind, folgt aus der Proklamation eines freiheitlichen Rechtsstaates noch nicht die Aufgabe aller normierten Beschränkungen der Regelungsbefugnis der Betriebsparteien.
Aus § 28 Abs. 2 Satz 3 AGB-DDR in Verb. mit den Richtlinien zur Arbeit mit dem Betriebskollektivvertrag vom 23. Mai 1985 ergibt sich daher keine Befugnis von Betrieb und Betriebsgewerkschaftsleitung, in Betriebskollektivverträgen Abfindungen für entlassene Arbeitnehmer zu vereinbaren.
4. Der Umstand, daß vor dem 1. Juli 1990 gewählte Arbeitnehmervertretungen – auch Betriebsgewerkschaftsleitungen – nach der „Verordnung zur Übergangsregelungen bis zur erstmaligen Wahl der Betriebsräte nach dem Betriebsverfassungsgesetz” vom 11. Juli 1990 (GBl. I S. 715) zunächst im Amt blieben, wenn sie nach demokratischen Grundsätzen von der Belegschaft in geheimer Abstimmung gewählt waren, besagt nichts für die Befugnisse und Kompetenzen dieser Arbeitnehmervertretungen vor dem 1. Juli 1990. Sinn der Verordnung war es, daß gewählte Arbeitnehmervertretungen mit dem Inkrafttreten des Betriebsverfassungsgesetzes vom 1. Juli 1990 die in diesem Gesetz normierten Rechte der Betriebsräte wahrnehmen konnten, damit nicht bis zur erstmals möglichen Wahl von Betriebsräten die Interessenvertretung der Arbeitnehmer wegen Fehlen eines Vertretungsorgangs leerlief. Aus der Verordnung folgt entgegen der Ansicht von Däubler (Arbeitsverträge und Kollektivverträge im Übergang, AUA 1991, 196, 198) aber nicht, daß diese Arbeitnehmervertretungen schon vor dem 1. Juli 1990 Befugnisse wahrnehmen konnten, die ihnen erst das Betriebsverfassungsgesetz einräumte. Daß von diesen Arbeitnehmervertretungen vor dem 1. Juli 1990 wirksam abgeschlossene Betriebskollektivverträge auch über den 30. Juni 1990 weitergalten, hat der Erste Senat zwischenzeitlich entschieden (Beschluß vom 1. Dezember 1992 – 1 ABR 28/92 – AP Nr. 2 zu § 28 AGB-DDR, auch zum Abdruck in der Amtlichen Sammlung bestimmt). Die Rationalierungsschutzvereinbarung vom 19. Juni 1990 war jedoch – wie dargelegt – nicht wirksam vereinbart worden.
5. Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 26. Mai 1992 erwogen (zu II 3. der Gründe), ob das damals zu beurteilende Sozialprogramm vom 19. Juni 1990 lediglich im Vorgriff und schon auf der Grundlage des Betriebsverfassungsgesetzes, dessen Geltung ab dem 1. Juli 1990 bereits feststand, abgeschlossen worden ist. Auch im vorliegenden Fall ist diese Frage zu prüfen und zu entscheiden. Für eine solche Annahme spricht, daß die Rationalisierungsschutzvereinbarung mit Wirkung vom 1. Juli 1990 in Kraft treten sollte. Weitere Anhaltspunkte für einen solchen Willen von Betrieb und Betriebsgewerkschaftsleitung ergeben sich jedoch aus der Rationalisierungsschutzvereinbarung nicht. Auf einen solchen Willen der Betriebsparteien kommt es auch nicht an. Zwar können die Tarifvertragsparteien und auch die Betriebspartner grundsätzlich frei darüber bestimmen, zu welchem Zeitpunkt eine von ihnen vereinbarte Regelung in Kraft treten soll. Sie können eine Regelung auch im Hinblick auf eine zu erwartende Änderung der Rechtslage treffen. Voraussetzung für die Wirksamkeit einer solchen Regelung ist aber stets, daß im Zeitpunkt des Abschlusses der Regelung den jeweiligen Vertragspartnern überhaupt die entsprechende Regelungsbefugnis zukommt. Ebenso wie ein Rechtsgeschäft eines Minderjährigen nicht deswegen wirksam ist, weil die Wirkungen des Rechtsgeschäftes erst nach Erlangung der vollen Geschäftsfähigkeit eintreten sollen, das Rechtsgeschäft vielmehr der Genehmigung des unbeschränkt geschäftsfähig gewordenen Vertragspartners noch bedarf, § 108 Abs. 3 BGB, ist ein Betriebskollektivvertrag, den Betrieb und Betriebsgewerkschaftsleitung außerhalb ihrer Regelungsbefugnis vereinbart haben, nicht deswegen wirksam, weil er erst zu einer Zeit in Kraft treten soll, zu der infolge einer späteren Änderung der Rechtslage den Betriebsparteien diese Befugnis zustehen würde.
Auch für vor dem 1. Juli 1990 abgeschlossene, aber nicht mehr registrierte Tarifverträge ist anerkannt, daß diese nicht allein deswegen wirksam sind, weil sie sich Geltung auch für die Zeit nach dem 1. Juli 1990 zulegen. Sie müssen vielmehr, um wirksam zu werden, von den Tarifvertragsparteien bestätigt und damit im Ergebnis neu abgeschlossen werden (BAG Urteil vom 20. April 1994 – 4 AZR 354/93 – zur Veröffentlichung vorgesehen).
Eine solche Bestätigung ist von den Parteien der Rationalisierungsschutzvereinbarung nach dem 30. Juni 1990 nicht vorgenommen worden. Wenn die Beklagte in dem Kündigungsschreiben darauf hingewiesen hat, daß sich der Abfindungsanspruch der gekündigten Arbeitnehmer nach dem betrieblichen Rationalisierungsschutzabkommen vom 19. Juni 1990 richtet, so liegt darin keine Bestätigung dieses Abkommens. Die Bestätigung muß durch die Parteien der Rationalisierungsschutzvereinbarung gemeinsam und schriftlich erfolgen. Das ist jedoch nicht geschehen.
IV. Das Landesarbeitsgericht hat in der Rationalisierungsschutzvereinbarung eine „andere Vereinbarung” im Sinne von § 24 Abs. 1 a AGB-DDR gesehen und diese für zulässig und wirksam gehalten. Diese Begründung enthält einen Rechtsfehler.
Nach § 24 Abs. 1 a AGB-DDR hatte die Betriebsgewerkschaftsleitung das Recht, Betriebskollektivverträge und „andere Vereinbarungen” mit dem Betriebsleiter abzuschließen. Welchen Inhalt diese anderen Vereinbarungen haben können oder haben müssen, ist im AGB-DDR nicht näher geregelt. Schließen jedoch Betriebsgewerkschaftsleitung und Betrieb eine Vereinbarung ab, die inhaltlich ein Betriebskollektivvertrag ist, indem sie arbeitsrechtliche Regelungen trifft, mithin einen Normenvertrag darstellt, und ist diese Vereinbarung – wie dargelegt – unwirksam, weil sie etwas regelt, was durch Betriebskollektivvertrag nicht geregelt werden kann, dann kann eben diese Regelung nicht unter dem Etikett „andere Vereinbarung” nur deswegen für wirksam angesehen werden, weil die genannten „anderen Vereinbarungen” offenbar keinen inhaltlichen Beschränkungen unterliegen. Auch wenn mit der Möglichkeit, daß Betrieb und Betriebsgewerkschaftsleitung andere Vereinbarungen treffen, Raum gelassen werden sollte für Vereinbarungen, die aufgrund geänderter wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse notwendig werden sollten, berechtigt auch eine solche „Öffnungsklausel” nicht zu Vereinbarungen, die nach dem nach wie vor geltenden positiven Recht unzulässig sind.
V. Im Ergebnis zu Recht hat das Landesarbeitsgericht ausgeführt, daß der Hinweis der Beklagten im Kündigungsschreiben, der Anspruch des Klägers auf Abfindungszahlung richte sich nach der Rationalisierungsschutzvereinbarung, keine individualrechtliche Zusage der Beklagten beinhaltet, unabhängig von der Gültigkeit dieser Rationalisierungsschutzvereinbarung an den Kläger eine Abfindung in der dort geregelten Höhe zu zahlen. Die genannte Passage enthält lediglich einen Hinweis auf die auch nach damaliger Ansicht der Beklagten noch bestehende Rechtslage, die die Beklagte nicht hinderte, auch dem Kläger gegenüber später geltend zu machen, daß die Rationalisierungsschutzvereinbarung unwirksam ist. Ein Vertrauen des Klägers auf die in der Rationalisierungsschutzvereinbarung geregelte Abfindung konnte durch diesen Hinweis nicht begründet werden. Schon angesichts der in der Rationalisierungsschutzvereinbarung selbst bekundeten Mittellosigkeit des VEB und der Notwendigkeit, die benötigten Gelder von der Regierung zu erbitten, mußte auch der Kläger damit rechnen, daß in der Rationalisierungsschutzvereinbarung begründete Ansprüche u.U. nicht erfüllt würden.
VI. Die Beklagte hat sich im Laufe des Rechtsstreites auf den Wegfall der Geschäftsgrundlage berufen und will wohl geltend machen, mit dem zentralen Sozialplan hätten die Ansprüche der Arbeitnehmer aus der Rationalisierungsschutzvereinbarung der geänderten Geschäftsgrundlage angepaßt werden sollen. Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 10. August 1994 (– 10 ABR 61/93 – zur Veröffentlichung vorgesehen) entschieden, daß ein Wegfall der Geschäftsgrundlage eines Sozialplanes die Betriebspartner berechtigt, die Ansprüche aus dem Sozialplan auch mit Wirkung für bereits gekündigte und ausgeschiedene Arbeitnehmer anzupassen. Ob auch aus diesem Grunde der Abfindungsanspruch des Klägers nur in der im Sozialplan vom 19. Oktober 1990 bestimmten Höhe besteht, braucht nach dem Gesagten nicht entschieden zu werden.
Die Klägerin hat nach § 91 ZPO die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Unterschriften
Matthes, Dr. Freitag, Hauck, Rosendahl, Thiel
Fundstellen