Entscheidungsstichwort (Thema)

Ordentliche Kündigung nach Einigungsvertrag

 

Normenkette

Einigungsvertrag Art. 20, 37; Einigungsvertrag Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschn. III Nr. 1 Abs. 4 Ziff. 1

 

Verfahrensgang

LAG Berlin (Urteil vom 22.09.1992; Aktenzeichen 5 Sa 56/92)

ArbG Berlin (Urteil vom 22.01.1992; Aktenzeichen 71 A Ca 17581/91)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 22. September 1992 – 5 Sa 56/92 – aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer auf Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 4 Ziff. 1 des Einigungsvertrages (fortan: Abs. 4 Ziff. 1 EV) gestützten ordentlichen Kündigung.

Der 1943 geborene Kläger studierte am Pädagogischen Institut G. Im Jahre 1965 erwarb er den Abschluß als Fachlehrer für Mathematik und Physik. Anschließend unterrichtete der Kläger bis 1970 als Fachlehrer an einer Schule in Rostock. Seit 1966 war er stellvertretender Direktor an dieser Schule. Nach Absolvierung eines weiteren Studiums erwarb der Kläger 1972 den Abschluß eines Diplompädagogen und war danach bis 1975 als stellvertretender Direktor im Bezirkskabinett für Weiterbildung in Rostock tätig. Danach wechselte er in das Ministerium für Volksbildung und wurde Leiter der Abteilung Sonderschulen, 1986 wurde der Kläger zum Hauptabteilungsleiter befördert. Aufgrund eines am 5. Februar 1990 mit dem Ministerium für Bildung, dem Rat des Stadtbezirkes Berlin-H. und dem Kläger abgeschlossenen Überleitungsvertrages schied der Kläger aus den Diensten des Ministeriums aus und ist seit 1. März 1990 als Lehrer an der Hilfsschule H. tätig.

Nach einer Anhörung des Klägers im Mai 1991 entschloß sich der Beklagte zur Kündigung des Klägers und leitete dem Personalrat die Kündigungsvorlage zu. Der Personalrat stimmte der beabsichtigten Kündigung zu.

Mit Schreiben des Bezirksamtes H. von Berlin vom 5. Juli 1991, welches dem Kläger am 8. Juli 1991 zuging, kündigte der Beklagte dem Kläger unter Bezugnahme auf den Einigungsvertrag zum 31. August 1991. Die Kündigung begründete er damit, der Kläger habe seit 1975 bis 1990 keine konkret unterrichtliche oder unterrichtsbezogene Tätigkeit ausgeübt, sondern sei als Abteilungsleiter – und zuletzt als Hauptabteilungsleiter – im Ministerium für Volksbildung tätig gewesen. Diese Tätigkeit stelle eine nicht behebbare Belastung des für eine Beschäftigung erforderlichen Vertrauensverhältnisses dar.

Mit seiner am 18. Juli 1991 beim Arbeitsgericht eingereichten Klage hat der Kläger die Unwirksamkeit der Kündigung geltend gemacht. Er hat vorgetragen, seine persönliche Eignung für eine Weiterbeschäftigung als Lehrer könne nicht bezweifelt werden. Seine frühere Tätigkeit im Ministerium für Volksbildung habe ganz allein dem Wohle der Behinderten gegolten. Seine damalige Tätigkeit und seine Persönlichkeit seien auch aus „westlicher Sicht” positiv beurteilt worden.

Der Kläger hat beantragt

festzustellen, daß sein Arbeitsverhältnis nicht durch die ordentliche Kündigung vom 5. Juli 1991 beendet worden sei,

ferner – für den Fall, daß er mit dem Feststellungsantrag obsiege – den Beklagten zu verurteilen, ihn zu unveränderten Bedingungen weiterzubeschäftigen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hat vorgetragen, dem Kläger fehle bereits die fachliche Qualifikation zur Ausübung des Lehramtes an einer Sonderschule, da er keine entsprechende Ausbildung habe und es ihm an praktischer Erfahrung fehle. Als Abteilungsleiter im Ministerium für Volksbildung und als Reisekader habe er das System der DDR mitgestaltet sowie nach innen und außen repräsentiert, so daß er zur Ausübung des Lehrerberufes persönlich ungeeignet sei.

Der Kläger hat erwidert, hinsichtlich des nachgeschobenen Kündigungsgrundes der mangelnden fachlichen Qualifikation als Sonderschullehrer sei der Personalrat nicht ordnungsgemäß angehört worden.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung des Beklagten hat das Landesarbeitsgericht die Klage abgewiesen. Hiergegen richtet sich die Revision des Klägers, mit der er die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils begehrt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 565 Abs. 1 ZPO).

A. Das Landesarbeitsgericht hat im wesentlichen ausgeführt:

Die Kündigung sei gemäß Abs. 4 Ziff. 1 EV bereits begründet, weil dem Kläger die formale fachliche Qualifikation für den Einsatz als Lehrer an einer Sonderschule fehle. Der Personalrat sei hierzu ordnungsgemäß angehört worden. Zwar seien die Angaben in dem mit dem Anhörungsschreiben zugeleiteten Kündigungsentwurf zum Kündigungsgrund der mangelnden fachlichen Qualifikation dürftig. Der Hinweis, der Kläger habe von 1975 bis 1990 keine konkret unterrichtliche Tätigkeit ausgeübt, reiche jedoch. Im übrigen sei bei der Anhörung des Klägers im Mai 1991 der persönliche und berufliche Werdegang des Klägers in Anwesenheit eines Personalratsmitglieds erörtert worden. Der Personalrat habe daher die mangelnde fachliche Qualifikation des Klägers gekannt.

B. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts ist nicht frei von Rechtsfehlern.

I. Auf die mangelnde fachliche Qualifikation des Klägers als Sonderschullehrer kann die Kündigung bereits deshalb nicht gestützt werden, weil der Personalrat zu diesem Kündigungsgrund nicht ordnungsgemäß angehört worden ist.

1. Zutreffend ist das Landesarbeitsgericht davon ausgegangen, daß auch auf Kündigungen nach Abs. 4 EV die Personalvertretungsregelungen und damit die Beteiligungsrechte des Personalrats gemäß § 79 Abs. 1 PersVG-DDR/BPersVG anzuwenden sind (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. Urteil vom 11. Juni 1992 – 8 AZR 537/91 – AP Nr. 1 zu Einigungsvertrag Anlage I Kap. XIX, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen; Urteil vom 23. September 1993 – 8 AZR 262/92 – zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen).

2. Nicht folgen kann der Senat der Annahme des Landesarbeitsgerichts, der Beklagte habe den Personalrat zum Kündigungsgrund der mangelnden fachlichen Qualifikation (Abs. 4 Ziff. 1 EV) ordnungsgemäß angehört. Das dem Personalrat vorgelegte Kündigungsschreiben weist mit keinem Wort darauf hin, daß dem Kläger die fachliche Qualifikation als Sonderschullehrer fehle und daß darauf die Kündigung gestützt werde. Als Kündigungsgrund ist angegeben das gestörte Vertrauensverhältnis wegen der früheren Tätigkeit des Klägers als Abteilungsleiter und zuletzt als Hauptabteilungsleiter im Ministerium für Volksbildung. Damit ist die persönliche Nichteignung wegen Ausübung dieser Ämter geltend gemacht. Soweit in dem Schreiben auch auf die von 1975 bis 1990 fehlende unterrichtliche oder unterrichtsbezogene Tätigkeit des Klägers verwiesen wird, liegt hierin jedenfalls kein Hinweis auf die fehlende fachliche Ausbildung des Klägers als Sonderschullehrer. Die erst im Laufe des Prozesses geltend gemachte fehlende fachliche Qualifikation als Sonderschullehrer ist somit ein Nachschieben eines anderen Kündigungsgrundes und nicht lediglich eine zulässige Substantiierung und Konkretisierung eines bereits mitgeteilten Kündigungsgrundes (vgl. BAGE 34, 309, 317 = AP Nr. 22 zu § 102 BetrVG 1972, zu B II 3 b der Gründe).

Auch auf die Anhörung des Klägers im Mai 1991 in Anwesenheit eines Personalratsmitgliedes kann sich der Beklagte nicht mit Erfolg berufen. Der Beklagte behauptet selbst nicht, bei dieser Gelegenheit sei die Kündigung wegen mangelnder Qualifizierung des Klägers als Sonderschullehrer erörtert worden. Die allgemeine Besprechung des persönlichen und beruflichen Werdegangs des Klägers reicht nicht aus anzunehmen, der Personalrat sei über den Kündigungsgrund der mangelnden fachlichen Qualifikation des Klägers als Sonderschullehrer unterrichtet gewesen.

3. Damit ist der dem Personalrat nicht mitgeteilte Kündigungsgrund der mangelnden fachlichen Qualifikation des Klägers als Sonderschullehrer im vorliegenden Kündigungsrechtsstreit nicht zu verwerten. Hierbei spielt es keine Rolle, daß der Personalrat einer Kündigung wegen fehlender persönlicher Eignung zugestimmt hat. Dem Arbeitgeber vor Ausspruch der Kündigung bekannte Kündigungsgründe, die er dem Personalrat vor Abgabe der Kündigungserklärung nicht mitgeteilt hat, kann er im Kündigungsschutzprozeß selbst dann nicht nachschieben, wenn der Personalrat der Kündigung aufgrund der ihm mitgeteilten Gründe zugestimmt hat (BAGE 35, 190 = AP Nr. 23 zu § 102 BetrVG 1972). Sinn und Zweck des Anhörungsverfahrens ist es, dem Personalrat Gelegenheit zu geben, ohne eigene zusätzliche Ermittlungen anstellen zu müssen, seine Überlegungen zur Kündigungsabsicht aus der Sicht der Arbeitnehmerseite dem Arbeitgeber zur Kenntnis zu bringen, damit dieser bei seiner Entscheidung die Stellungnahme des Personalrats berücksichtigen kann. Diese Möglichkeit der Einflußnahme entfällt bei einem Nachschieben eines Kündigungsgrundes, der vor Ausspruch der Kündigung entstanden und dem Arbeitgeber bekannt gewesen ist, den er aber dem Personalrat nicht mitgeteilt hat (BAGE 34, 309, 316 = AP Nr. 22 zu § 102 BetrVG 1972, zu B II 2 der Gründe; BAGE 35, 190, 199 = AP, a.a.O., zu III 1 b der Gründe).

II. Das Landesarbeitsgericht wird daher zu prüfen haben, ob das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung des Beklagten vom 5. Juli 1991 wegen mangelnder persönlicher Eignung des Klägers aufgelöst worden ist. Dabei sind alle für und gegen den Kläger sprechenden Umstände zu berücksichtigen. Soweit der Beklagte eine persönliche Ungeeignetheit des Klägers daraus herleitet, daß dieser im Ministerium für Volksbildung tätig war, wird es dem Vortrag des Klägers zur sachlichen Art der Ausführung dieses Amtes nachzugehen haben.

 

Unterschriften

Dr. Ascheid, Dr. Wittek, Dr. Müller-Glöge, Wittendorfer, Sperl

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1079666

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