Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsausbildung im Einzelhandel. Eingruppierung einer Verkäuferin im Einzelhandel. Begriff der Berufsausbildung i. S. von § 3 B Gehaltsgruppe Ib GTV Hess. Einzelhandel vom 18./19. Juni 1991
Leitsatz (amtlich)
Auch für den Begriff der Berufsausbildung i. S. der neu eingeführten Gehaltsgruppe Ib in § 3 B GTV vom 18./19. Juni 1991 gilt die Regelung des § 2 Ziff. 3 GTV, nach der eine abgeschlossene zweijährige Ausbildung als Bürogehilfe/in oder eine kaufmännische Berufstätigkeit überwiegend im Verkauf von drei Jahren, im übrigen von vier Jahren der abgeschlossenen Berufsausbildung gleichgesetzt werden.
Diese Gehaltsgruppe erfordert daher nicht zwingend eine tatsächlich durchlaufene abgeschlossene Berufsausbildung.
Normenkette
TVG § 1 Tarifverträge: Einzelhandel; Gehaltstarifvertrag (GTV) für den Einzelhandel in Hessen vom 18./19. Juni 1991 § 3B G Ib
Verfahrensgang
Tenor
- Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 5. Juli 1993 – 11 Sa 97/93 – aufgehoben.
- Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Gießen vom 24. November 1992 – 4 Ca 272/92 – abgeändert.
- Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 350,-- DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich jeweils aus 50,-- DM brutto ergebenden Nettobetrag seit dem 1. Februar, 1. März, 1. April, 1. Mai, 1. Juni, 1. Juli und 1. August 1992 zu zahlen.
- Es wird festgestellt, daß die Beklagte verpflichtet ist, die Klägerin ab 1. August 1992 nach Gehaltsgruppe Ib des § 3 B GTV Hessischer Einzelhandel zu vergüten.
- Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten um die tarifgerechte Vergütung der Klägerin.
Die am 6. Juni 1955 geborene Klägerin steht seit dem 1. Februar 1979 in den Diensten der Beklagten, die eine Kaufhauskette betreibt. Auf das Arbeitsverhältnis finden Kraft beiderseitiger Verbandszugehörigkeit die Tarifverträge für den Einzelhandel in Hessen, insbesondere der Gehaltstarifvertrag für die Arbeitnehmer sowie Auszubildenden im Einzelhandel vom 18./19. Juni 1991, in Kraft getreten am 1. März 1991 – im folgenden kurz: GTV – Anwendung.
Die im Kaufhaus in G… als Verkäuferin beschäftigte Klägerin verfügt nicht über eine abgeschlossene Berufsausbildung. Seit dem 1. Oktober 1989 ist sie als Verkäuferin in der Abteilung “Schmuck und Uhren” eingesetzt. Dies ist eine Tätigkeit, für die sie vertiefte Warenkenntnisse benötigt, die beratungs- und bedienungsintensiv regelmäßig eingesetzt werden. Sie erhält das Gehalt der Endstufe der Gehaltsgruppe (künftig: G) Ia des § 3 B GTV, die sie am 1. Februar 1985 erreicht hat (damals: G I); dies beläuft sich seit dem 1. Januar 1992 auf 2.660,-- DM.
Durch den GTV ist die G Ib neu geschaffen worden. Infolgedessen erhielt die frühere G I die Bezeichnung G Ia, die Bezeichnung der G II bis G IV blieb unverändert. Dies gilt auch für die allgemeinen Eingruppierungsvoraussetzungen der Gruppen G Ia und G II bis IV im Vergleich zu der früheren tariflichen Regelung.
Mit Schreiben vom 18. März 1992 ließ die Klägerin die Beklagte auffordern, sie rückwirkend ab dem 1. Januar 1992 in die zu diesem Zeitpunkt neu geschaffene Tarifgruppe G Ib des GTV einzugruppieren, ihr ein tarifliches Grundgehalt von 2.710,-- DM ab April 1992 zu gewähren und die entstandenen Gehaltsdifferenzen in Höhe von 50,-- DM brutto für die Monate Januar bis März 1992 nachzuzahlen. Die Beklagte antwortete unter dem 31. März 1992, es sei unstreitig, daß die Eingruppierungsvoraussetzungen der erweiterten Fachkenntnisse sowie der Ausübung einer Tätigkeit mit vertieften Warenkenntnissen, die bedienungs- und beratungsintensiv regelmäßig eingesetzt würden, vorlägen. Das Aufrücken in die Gruppe G Ib setze jedoch eine Berufsausbildung voraus, die in der Tätigkeit angewandt werde; über diese verfüge die Klägerin nicht.
Mit ihrer Klage erstrebt die Klägerin die Verurteilung der Beklagten zur Nachzahlung der Vergütungsdifferenz in Höhe von 350,-- DM brutto für die Monate Januar bis Juli 1992 sowie die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten, sie nach der Gehaltsgruppe G Ib des § 3 B GTV zu vergüten.
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, ihr Anspruch auf Vergütung nach der G Ib des § 3 B GTV, dessen übrige Voraussetzungen von der Beklagten nicht bestritten würden, scheitere nicht an der in ihrem Falle fehlenden abgeschlossenen Berufsausbildung, denn auch § 2 Ziff. 3b des neuen GTV stelle der abgeschlossenen Berufsausbildung eine kaufmännische Berufstätigkeit überwiegend im Verkauf von drei Jahren gleich. Auf diese Bestimmung verweise die Überschrift der Gehaltsstaffel B… des § 3 GTV ausdrücklich. Damit gelte die Regelung des § 2 Ziff. 3 GTV auch für die G Ib. Die von der Beklagten vertretene Interpretation des Tarifvertrages sei systemwidrig. Auch ohne abgeschlossene Berufsausbildung könne ein Angestellter in die G II bis IV des § 3 B GTV gelangen, wenn er eine kaufmännische Berufstätigkeit überwiegend im Verkauf von drei Jahren aufzuweisen habe. Wenn aber sogar für eine Eingruppierung in die G IV eine abgeschlossene Berufsausbildung nicht erforderlich sei, vielmehr ein Ersatztatbestand genüge, könnten die Tarifvertragsparteien durch die Formulierung “mit einer Berufsausbildung” in der G Ib auf keinen Fall gemeint haben, daß die Ersatztatbestande des § 2 Ziff. 3 GTV nicht genügten.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 350,00 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich jeweils aus 50,00 DM brutto ergebenden Nettobetrag seit dem 1. Februar, 1. März, 1. April, 1. Mai, 1. Juni, 1. Juli und 1. August 1992 zu zahlen;
festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet ist, die Klägerin nach Gehaltsgruppe Ib des § 3 B GTV Hessischer Einzelhandel zu vergüten.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat die Auffassung vertreten, in die G Ib der Gehaltsstaffel B… des § 3 GTV seien nur Angestellte einzugruppieren, die über eine tatsächlich abgeschlossene Berufsausbildung verfügten, nicht jedoch solche, die aufgrund ihrer bisherigen Verkaufstätigkeit mittels § 2 Ziff. 3 GTV Angestellten mit abgeschlossener Ausbildung gleichgestellt seien. Dies ergebe sich aus dem Wortlaut der Eingruppierungsmerkmale der neuen G Ib; für diese sei somit eine andere Voraussetzung als für die bisher bestehenden und in den neuen Tarifvertrag übernommenen Gehaltsgruppen G Ia und G II – IV formuliert worden. Ziel der Tarifvertragsparteien sei es gewesen, eine besondere Tarifgruppe für Verkaufskräfte mit besonderen Kenntnissen und Fähigkeiten zu schaffen. Nur insoweit habe die Arbeitgeberseite der Forderung der Gewerkschaft HBV in den Tarifverhandlungen, die G I der Gehaltsstaffel B… nach oben zu öffnen, entgegenkommen wollen.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Mit ihrer Revision verfolgt die Klägerin ihren Zahlungs- und Feststellungsantrag, letzteren für die Zeit ab “1. September 1992”, weiter. Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur antragsgemäßen Verurteilung der Beklagten nach dem Zahlungsantrag und der von der Klägerin erstrebten Feststellung der Verpflichtung der Beklagten, sie ab 1. August 1992 – nicht wie offensichtlich schreibfehlerhaft beantragt: ab 1. September 1992 – nach der G Ib GTV zu vergüten. Der Klägerin steht entgegen der von den Vorinstanzen vertretenen Auffassung der von ihr geltend gemachte Vergütungsanspruch zu.
I. Die Klage ist zulässig.
Was den Feststellungsantrag anbelangt, hat die Klägerin eine der allgemein üblichen Eingruppierungsfeststellungsklagen erhoben. Für solche Klagen besteht auch außerhalb des öffentlichen Dienstes das nach § 256 ZPO erforderliche besondere Feststellungsinteresse (Senatsurteile vom 25. September 1991 – 4 AZR 87/91 – AP Nr. 7 zu § 1 TVG Tarifverträge: Großhandel = EzA § 4 TVG Großhandel Nr. 2, zu I der Gründe; vom 26. Mai 1993 – 4 AZR 358/92 – AP Nr. 2 zu § 12 AVR Caritasverband, zu B I der Gründe).
Sie hat diesen Antrag in der Revisionsinstanz dahin klargestellt, daß er sich auf die Zeit ab “1. September 1992” bezieht. Dabei ist ihr offensichtlich ein Schreibfehler unterlaufen. Der Feststellungsantrag soll die Zeit erfassen, die sich an diejenige anschließt, für die sie einen Zahlungsantrag gestellt hat. Dies ist die Zeit vom 1. Januar 1992 bis zum 31. Juli 1992. Folglich bezieht sich der Feststellungsantrag auf die Zeit ab 1. August 1992.
Der Feststellungsantrag ist auch zulässig, soweit er Zinsforderungen zum Gegenstand hat. In Eingruppierungsstreitigkeiten ist ein Feststellungsantrag nach § 256 ZPO nämlich nicht nur für die Hauptsache, sondern ebenso für die Zinsforderung zulässig. Dies ergibt sich daraus, daß die im Verhältnis zur Hauptschuld akzessorische Zinsforderung auch in prozessualer Beziehung das rechtliche Schicksal der Hauptforderung teilen soll (BAGE 22, 247, 249 = AP Nr. 30 zu §§ 22, 23 BAT).
II. Die Klage ist auch begründet.
1. Auf das Arbeitsverhältnis findet kraft Verbandszugehörigkeit der Parteien der Gehaltstarifvertrag für den Einzelhandel in Hessen vom 18./19. Juni 1991 (GTV) mit unmittelbarer und zwingender Wirkung Anwendung (§ 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG). Für die Eingruppierung der Klägerin sind demnach folgende tarifliche Bestimmungen heranzuziehen:
§ 2 Gehaltsregelung
§ 3 Beschäftigungsgruppen
Gehaltsgruppe Ia)
Angestellte mit einfacher kaufmännischer oder technischer Tätigkeit
Beispiele:
Verkäufer/in
Kassierer/in (auch in Selbstbedienungsläden)
Stenotypist/in für einfache Tätigkeit
Telefonist/in
Schauwerbegestalter/in und Plakatmaler/in mit einfacher Tätigkeit
Angestellte/r mit einfachen Büroarbeiten in allgemeiner Buchhaltung, Einkauf, Kalkulation, Kreditbüro, Lohnbuchhaltung, Rechnungsprüfung, Registratur, Statistik usw.
Angestellte/r mit einfacher kaufmännischer Tätigkeit in Warenannahme, Lager und Versand Angestellte/r in Werbeabteilungen Kontrolleur/in an Packtischen bzw.
Warenausgabren
Personalkontrolleur/in
Staffel A |
Staffel B |
Angestellte, die vor dem 1. März 1988 erstmals in die Gehaltsgruppe I eingruppiert wurden, erhalten im |
Angestellte, die nach dem 29. Februar 1988 erstmals in die Gehaltsgruppe I/I a) eingruppiert wurden/werden, erhalten im |
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1. |
Berufsjahr |
1900,- DM |
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2. |
Berufsjahr |
1950,- DM |
4. |
Berufsjahr |
2000,- DM |
3. |
Berufsjahr |
2000,- DM |
5. |
Berufsjahr |
2125,- DM |
4. |
Berufsjahr |
2125,- DM |
6. |
Berufsjahr |
2325,- DM |
5. |
Berufsjahr |
2325,- DM |
7. |
Berufsjahr |
2640,- DM |
n. |
d. 5. Bj. |
2640,- DM |
7. |
Bj. ab 1.1.1992 |
2660,- DM |
n. |
d. 5. Bj. ab 1.1.1992 |
2660,- DM |
Gehaltsgruppe Ib)
Angestellte mit erweiterten Fachkenntnissen
Tätigkeiten mit vertieften Warenkenntnissen, die beratungs- und bedienungsintensiv regelmäßig eingesetzt werden
- mit einer Berufsausbildung, die in der Tätigkeit angewandt wird und
- mindestens 5 Jahre Tätigkeit in der G Ia) nach Erreichen der Endstufe sowie
- einer Unternehmenszugehörigkeit von mindestens 2 Jahren
gültig ab 1.1.1992 |
2710,- DM |
2. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, in die G Ib der Gehaltsstaffel B… des § 3 GTV sollten nur solche Angestellte eingruppiert werden, die tatsächlich eine Berufsausbildung absolviert und abgeschlossen hätten. Dafür spreche einmal die Verwendung des Begriffs “Berufsausbildung” in § 3B G Ib GTV im Gegensatz zu dem der “Ausbildung” in der Überschrift B… des § 3 GTV, zum anderen der Gesamtzusammenhang: Es müsse sich nämlich um eine Berufsausbildung handeln, die in der Tätigkeit angewandt werde. Angewandt werden könnten indessen nur die mit einer Berufsausbildung für einen bestimmten Beruf erlangten Fähigkeiten und Qualifikationen. Hätten die Tarifvertragsparteien damit etwa auch die durch verkäuferische Berufserfahrung erlangten Fähigkeiten und Kenntnisse gemeint, so wäre die Einfügung des gesamten Satzes überflüssig gewesen, da derlei Kenntnisse schon durch die übrigen tätigkeitsbezogenen Merkmale der G Ib erfaßt würden (“erweiterte Fachkenntnisse”, “vertiefte Warenkenntnisse, die beratungs- und bedienungsintensiv regelmäßig eingesetzt werden”). So verstanden stelle die Betonung der in der Tätigkeit angewandten Berufsausbildung nur eine inhaltsleere Verdoppelung bereits aufgestellter Voraussetzungen dar. Indem die Tarifvertragsparteien im Gegensatz zu den Gehaltsgruppen G Ia und G II bis IV für die Gruppe G Ib eine tatsächlich absolvierte und abgeschlossene Berufsausbildung im Sinne des § 2 Ziff. 2 GTV forderten, hätten sie einen Anreiz geschaffen, eine derartige Berufsausbildung zu absolvieren, da nur diese zur Vergütung nach der G Ib führe. Für die Sonderstellung der neu eingeführten Gehaltsgruppe spreche auch ihre Einfügung unter der Ziff. Ib in § 3B GTV. Wären die Eingruppierungsmerkmale – wie in den übrigen Gruppen – tätigkeitsbezogen gemeint, hätte es nahegelegen, die neue Gehaltsgruppe mit II zu beziffern und die nachfolgenden Gehaltsgruppen aufsteigend bis zu der G V (vormals G IV) zu zählen. Die dem Wortlaut und Gesamtzusammenhang entsprechende Auslegung des Tarifvertrages werde auch durch die Tarifentstehungsgeschichte bestätigt: Die Arbeitgeberseite habe sich in ihrem Beharren auf einer “abgeschlossenen” Berufsausbildung, die zudem noch in der Tätigkeit angewandt werden müsse, bei der Vergütungsgruppe G Ib durchgesetzt. Dies sei auch von der Gewerkschaft HBV so gesehen worden, wie sich aus ihrer Tarifinformation unmittelbar nach Abschluß der Verhandlungen ergebe.
3. Diese Ausführungen des Landesarbeitsgerichts, die im Ergebnis und Teilen der Begründung mit der Auffassung des Arbeitsgerichts übereinstimmen, halten einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht stand. Auch für die G Ib gilt, daß der dort geforderten Berufsausbildung die in § 2 Ziff. 3 GTV aufgeführten Ersatztatbestände gleichgesetzt werden. Dies folgt aus Wortlaut, Gesamtzusammenhang und Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages.
4. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages, über die hier zwischen den Parteien Streit besteht, folgt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Soweit der Tarifwortlaut jedoch nicht eindeutig ist, ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Läßt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, dann können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages, gegebenenfalls auch eine praktische Tarifübung ergänzend heranziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (vgl. z. B. Senatsurteil vom 23. September 1992 – 4 AZR 66/92 – AP Nr. 8 zu § 1 TVG Tarifverträge: Großhandel, zu I 2a der Gründe, m. w. N; vgl. auch die zusammenfassende Darstellung bei Schaub, Auslegung und Regelungsmacht von Tarifverträgen, NZA 1994, 597).
a) Aus dem Wortlaut des § 3B GTV ergibt sich keine zweifelsfreie Auslegung, auf die allein zur Entscheidung des vorliegenden Falles zurückgegriffen werden könnte.
aa) Für die Vergütung nach G Ib wird zwar u.a. eine “Berufsausbildung” gefordert, “die in der Tätigkeit angewandt wird”. In der Überschrift für die Gehaltsstaffel B…, die auch für die G Ib gilt, wird jedoch ausdrücklich auf § 2 Ziff. 3 GTV verwiesen, nach welcher der abgeschlossenen Berufsausbildung a) eine abgeschlossene zweijährige Ausbildung als Bürogehilfe/in, b) eine kaufmännische Berufstätigkeit überwiegend im Verkauf von drei Jahren, im übrigen von vier Jahren gleichgesetzt werden.
bb) Hingegen wird in der Überschrift für die Gehaltsstaffel B… der Begriff der “Ausbildung” im Unterschied zu demjenigen der “Berufsausbildung” verwandt. Dies kann, wie das Landesarbeitsgericht angenommen hat, damit erklärt werden, daß die Tarifvertragsparteien die “Ausbildung” als Oberbegriff für die in § 2 Ziff. 2 GTV behandelte abgeschlossene kaufmännische oder technische Berufsausbildung einerseits und die Ersatztatbestände des § 2 Ziff. 3a und b GTV andererseits verstehen. Wenn dann für die Gehaltsgruppe G Ib eine “Berufsausbildung” gefordert wird, könnte dies als Ausnahmeregelung von dem Grundsatz zu deuten sein, daß der abgeschlossenen kaufmännischen oder technischen Berufsausbildung die Ersatztatbestände des § 2 Ziff. 3 GTV gleichgesetzt werden.
Eine logische Notwendigkeit, in der Überschrift des § 3B GTV den Begriff der “Ausbildung” im Unterschied zur “Berufsausbildung” zu verwenden, bestand jedoch nicht. Ebensogut hätte dort der Begriff der “Berufsausbildung” verwandt werden können, da durch die Verweisung auf § 2 Ziff. 3 GTV klargestellt ist, daß die dort genannten Ersatztatbestände der abgeschlossenen zweijährigen Ausbildung als Bürogehilfe/in sowie einer kaufmännischen Berufstätigkeit überwiegend im Verkauf von drei Jahren, im übrigen von vier Jahren der abgeschlossenen Berufsausbildung gleichgesetzt sind, so daß Angestellte, die die dort genannten Voraussetzungen erfüllen, als Angestellte mit “abgeschlossener Berufsausbildung” gelten.
cc) Wenngleich der Wortlaut des § 3B GTV zu keiner zweifelsfreien Auslegung führt, spricht er eher dafür, daß die Gleichsetzungsregelung des § 2 Ziff. 3 GTV auch für das Merkmal der “Berufsausbildung” in G Ib gilt. Die Tarifvertragsparteien haben in § 2 Ziff. 3 GTV unmißverständlich bestimmt, daß die dort aufgeführten Ersatztatbestände “der abgeschlossenen Berufsausbildung … gleichgesetzt” werden. Auf diese kommt es bei den Gehaltsgruppen G I – IV der Beschäftigungsgruppen B… des § 3 GTV an (§ 2 Ziff. 2 GTV). In der Überschrift zur Gehaltsstaffel B… für die G Ia, G Ib, G II, G III und G IV wird im Klammerzusatz ausdrücklich auf diese Vorschriften verwiesen. Nach der Systematik der Norm gilt daher die Gleichsetzung der Ersatztatbestände des § 2 Ziff. 3 GTV auch für die G Ib. Wenn die Tarifvertragsparteien die Geltung der Gleichsetzungsregelung des § 2 Ziff. 3 GTV für das Merkmal der “Berufsausbildung” in G Ib ausschließen wollten, hätte dies einer Verdeutlichung im Tarifvertragswortlaut bedurft. Dies hätte entweder in der Weise geschehen können, bei G Ib zu formulieren, daß hier eine “tatsächlich durchlaufene und abgeschlossene Berufsausbildung” erforderlich sei, wie dies die Arbeitgeberseite bei den Tarifvertragsverhandlungen angestrebt hat, oder bei § 2 Ziff. 3 GTV beispielsweise den Satz anzufügen: “Dies gilt nicht für die G Ib”.
Der Wortlaut des § 2 Ziff. 2 GTV, “die Gehaltsgruppen I bis IV der Beschäftigungsgruppen B… des § 3” umfaßten “die Tätigkeiten, für die in der Regel eine abgeschlossene kaufmännische oder technische Berufsausbildung erforderlich” sei, spricht ebenfalls dafür, daß auch für die mitgenannte Gruppe G Ib die abgeschlossene kaufmännische oder technische Berufsausbildung nur “in der Regel” erforderlich ist, also auch bei ihr die Ersatztatbestände des § 2 Ziff. 3 GTV gleichgesetzt werden.
dd) Die Anerkennung der Ersatztatbestände des § 2 Ziff. 3 GTV für die G Ib führt auch nicht zu einer inhaltsleeren Verdoppelung bereits aufgestellter Voraussetzungen, wie das Landesarbeitsgericht annimmt. Es führt aus, wenn die Tarifvertragsparteien mit der Voraussetzung “mit einer Berufsausbildung, die in der Tätigkeit angewandt wird” auch die durch verkäuferische Berufserfahrung – im Sinne von § 2 Ziff. 3 GTV – erlangten Fähigkeiten und Kenntnisse gemeint hätten, wäre die Einfügung des gesamten Satzes überflüssig gewesen, da derlei Kenntnisse schon durch die übrigen tätigkeitsbezogenen Merkmale der G Ib erfaßt würden (“erweiterte Fachkenntnisse”, “vertiefte Warenkennntnisse, die beratungs- und bedienungsintensiv regelmäßig eingesetzt werden”).
Dies trifft jedoch nicht zu. Gerade in einem Warenhaus mit einem vielfältigen Sortiment kann ein Angestellter über verkäuferische Berufserfahrung im Sinne von § 2 Ziff. 3 GTV, die in der Tätigkeit angewandt wird, verfügen, ohne daß die Voraussetzungen der “Tätigkeiten mit vertieften Warenkenntnissen, die beratungs- und bedienungsintensiv regelmäßig eingesetzt werden” vorliegen. Eine Verkäuferin, die beispielsweise ohne kaufmännische Berufsausbildung 15 Jahre in der Drogerieabteilung eines Warenhauses beschäftigt war, danach in die Abteilung “Uhren und Schmuck” versetzt wird, erfüllt zwar auch schon unmittelbar nach ihrer Versetzung wegen § 2 Ziff. 3b GTV das Merkmal “mit einer Berufsausbildung, die in der Tätigkeit verwandt wird”, verfügt jedoch zu Beginn ihrer Tätigkeit in der neuen Abteilung noch nicht über “vertiefte Warenkenntnisse”, die sie “beratungs- und bedienungsintensiv regelmäßig” einsetzen kann.
Auch die Tätigkeit der Klägerin bei der Beklagten hat sich während des Arbeitsverhältnisses geändert, denn sie ist im Warenhaus G… bereits seit dem 1. Februar 1979 als Verkäuferin beschäftigt, in der Abteilung “Schmuck und Uhren” jedoch erst seit dem 1. Oktober 1989. Vertiefte Warenkenntnisse, die beratungs- und bedienungsintensiv eingesetzt werden, bei den Artikeln Uhren und Schmuck kann sie erst nach geraumer Beschäftigungszeit in dieser Abteilung besitzen. Für die Zeit ab 1. Januar 1992 ist die Erfüllung dieser Voraussetzung zwischen den Parteien unstreitig.
ee) Die Bezeichnung der neu eingeführten Vergütungsgruppe als G Ib – statt ihrer Benennung als G II und der Bezeichnung der Gruppen G II bis IV um jeweils eine Ziffer höher – ist entgegen der vom Landesarbeitsgericht vertretenen Auffassung ebenfalls kein eindeutiger Hinweis darauf, daß diese systematisch eine Ausnahme bildet, für sie also § 2 Ziff. 3 GTV nicht gilt. Bei der Änderung der Bezifferung der übernommenen früheren Gehaltsgruppen hätte eine Vielzahl von Angestellten “höhergruppiert” werden müssen, was zu erheblichen Unsicherheiten bezüglich der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats hätte führen können. Darauf hat die Klägerin zutreffend hingewiesen. Diese zu vermeiden lag im Interesse beider Tarifvertragsparteien.
b) Auch der Gesamtzusammenhang des Tarifvertrages spricht dafür, daß für die G Ib die Vorschrift des § 2 Ziff. 3 GTV gilt: Grundprinzip für die “Einstufung” (vgl. § 2 Ziff. 1 GTV) der Angestellten in die Vergütungsgruppen der Gehaltsstaffel ist, die Einstufung nicht von einer abgeschlossenen kaufmännischen oder technischen Ausbildung abhängig zu machen, sondern dieser entsprechende Kenntnisse und Erfahrungen gleichzusetzen, von deren Vorliegen die Tarifvertragsparteien nach § 2 Ziff. 3 GTV ausgehen, wenn der Angestellte eine abgeschlossene zweijährige Ausbildung als Bürogehilfe/in oder eine kaufmännische Berufstätigkeit überwiegend im Verkauf von drei Jahren, im übrigen von vier Jahren, aufzuweisen hat (vgl. Urteil des Senats vom 29. April 1987 – 4 AZR 520/86 –, n. v.). Auch die Einstufung in die G II bis IV kann daher ohne abgeschlossene Berufsausbildung über einen der beiden Ersatztatbestände des § 2 Ziff. 3 GTV erfolgen. Ein sachlicher Grund dafür, weshalb davon für die im Verhältnis zu den vorgenannten Gruppen niedrigere Vergütungsgruppe G Ib eine Ausnahme zu machen ist, ist nicht zu erkennen.
Insbesondere ist die Annahme des Landesarbeitsgerichts nicht überzeugend, wenn für den Anspruch auf Vergütung nach der G Ib “eine tatsächlich durchgeführte und abgeschlossene Berufsausbildung” erforderlich sei, werde für Angestellte im Einzelhandel im Geltungsbereich des GTV ein Anreiz geschaffen, eine kaufmännische oder technische Berufsausbildung zu absolvieren. Davon könnte nur dann die Rede sein, wenn Angestellte mit einer “tatsächlich durchlaufenen und abgeschlossenen Berufsausbildung” bei gleicher Tätigkeit besser vergütet würden als solche ohne diese berufliche Vorbildung. In diesem Verhältnis stehen aber die Vergütungsgruppen G Ia und G Ib nicht zueinander: Die Vergütungsgruppe G Ia gilt für “Angestellte mit einfacher kaufmännischer oder technischer Tätigkeit”, die Vergütungsgruppe G Ib hingegen für “Angestellte mit erweiterten Fachkenntnissen”. Die höhere Vergütung der G Ib im Vergleich zu derjenigen aus G Ia erhält der Angestellte daher nicht allein wegen einer abgeschlossenen Berufsausbildung, sondern für seine anspruchsvollere Arbeit.
Abgesehen davon muß bezweifelt werden, daß die Einführung der Vergütungsgruppe G Ib, versteht man ihre Voraussetzungen dahin, daß für die Vergütung nach dieser Gruppe eine “tatsächlich durchlaufene und abgeschlossene Berufsausbildung” erforderlich ist, dazu führen wird, daß im Einzelhandel der Anteil der Angestellten mit abgeschlossener Berufsausbildung ansteigt. Das Gehalt nach der Vergütungsgruppe G Ib ist – Stand 1.1.1992 – um 50,- DM höher als dasjenige der Gruppe G Ia. Bei dreijähriger Dauer der Berufsausbildung erreicht der Angestellte die Endstufe der Gruppe G Ia nach acht Jahren. Nach weiteren “mindestens fünf Jahre Tätigkeit in der G Ia nach Erreichen der Endstufe” – so § 3B Ib GTV – kann er Gehalt nach G Ib beanspruchen, insgesamt also 13 Jahre nach Beginn seiner Berufsausbildung. Für die Entscheidung, eine Berufsausbildung durchzuführen oder ohne Ausbildung eine Tätigkeit im Einzelhandel aufzunehmen, wird die Aussicht, mit abgeschlossener Ausbildung nach 13 Jahren 50,-- DM mehr im Monat zu verdienen als ohne solchen Abschluß, noch dazu für eine anspruchsvollere Arbeit, nur von untergeordneter Bedeutung sein, zumal dem Angestellten auch ohne Berufsausbildung der Aufstieg in die Gruppen G II bis IV nicht verschlossen ist.
c) Auch die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages spricht dafür, die Ersatztatbestände des § 2 Ziff. 3 GTV für die G Ib ebenfalls gelten zu lassen. Die vom Arbeitsgericht bei den Tarifvertragsparteien eingeholten Auskünfte haben ergeben, daß der Textvorschlag der Arbeitgeberseite für die neu zu schaffende Gehaltsgruppe dahin lautete, die Einstufung in diese erfordere eine “tatsächlich abgeschlossene Handelsberufsausbildung” bzw. eine “tatsächlich abgeschlossene Handelsausbildung”. Damit hat sich die Arbeitgeberseite jedoch nicht durchsetzen können. Die Worte “tatsächlich abgeschlossene” sind dem Eingruppierungsmerkmal der “Berufsausbildung” in dem vereinbarten Text nicht vorangestellt worden.
Zuzugeben ist dem Landesarbeitsgericht, daß die Mitteilung 10/6/91 der Gewerkschaft HBV über das Ergebnis des Tarifabschlusses, in der es heißt: “Für Fachverkäufer mit Berufsausbildung und langer Berufspraxis wurde endlich eine neue Tarifgruppe vereinbart (G Ib)”, dafür spricht, daß seinerzeit auch die Gewerkschaft HBV davon ausgegangen ist, die Gehaltsgruppe G Ib erfordere eine “tatsächlich abgeschlossene Berufsausbildung”. Für die Auslegung des Tarifvertrages ist dieser Umstand jedoch deshalb bedeutungslos, weil die Vorstellungen der Tarifvertragsparteien nur insoweit mitzuberücksichtigen sind, als sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben, was hier für die Herausnahme der G Ib aus der allgemeinen Regel des § 2 Ziff. 3 GTV nicht der Fall ist.
Die hier interessierende Regelung wird nunmehr auch von den Tarifvertragsparteien unterschiedlich ausgelegt, wie die vom Arbeitsgericht bei ihnen eingeholten Auskünfte ergeben haben. Während der Landesverband des Hessischen Einzelhandels e. V. der Auffassung ist, die neue G Ib gelte nur für Angestellte mit einer Berufsausbildung, die tatsächlich abgeschlossen sein muß, steht die Gewerkschaft HBV auf dem Standpunkt, sie habe sich damit durchgesetzt, daß auch Arbeitnehmer mit den Voraussetzungen des § 2 Ziff. 3 GTV bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen in die neue Gehaltsgruppe G Ib einzugruppieren seien.
5. Mit ihrer kaufmännischen Berufstätigkeit im Verkauf von drei Jahren (§ 2 Ziff. 3 GTV) erfüllt die Klägerin somit die Voraussetzung der in G Ib geforderten Berufsausbildung. Diese wendet sie in ihrer Tätigkeit als Verkäuferin der Abteilung “Schmuck und Uhren” bei der Beklagten auch an. Streitlos verfügt sie über vertiefte Warenkenntnisse, die beratungs- und bedienungsintensiv regelmäßig eingesetzt werden. Da sie die Endstufe der G Ia – früher G I – am 1. Februar 1985 erreicht hat, befand sie sich bei Inkrafttreten der tariflichen Neuregelung am 1. März 1991 bei Beginn des Anspruchszeitraumes am 1. Januar 1992 mehr als fünf Jahre in der Gehaltsgruppe G Ia nach Erreichen der Endstufe. Auch die geforderte mindestens zweijährige Unternehmenszugehörigkeit hat die Klägerin aufzuweisen. Die Höhe der von der Klägerin mit dem Zahlungsantrag geforderten Nachzahlung für die Monate Januar bis Juli 1992 ist unstreitig.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Dr. h.c. Schaub, Schneider, Bott, Grätz, Kiefer
Fundstellen
Haufe-Index 856724 |
BB 1994, 2500 |
NZA 1995, 800 |