Entscheidungsstichwort (Thema)
Kündigung wegen Tätigkeit für das MfS. Dekonspiration
Normenkette
Einigungsvertrag Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschn. III Nr. 1 Abs. 5 Ziff. 2; BGB § 626 Abs. 2
Verfahrensgang
LAG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 14.01.1997; Aktenzeichen 4 Sa 784/95) |
ArbG Halle (Saale) (Urteil vom 16.06.1995; Aktenzeichen 4 Ca 1450/95) |
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Sachsen-Anhalt vom 14. Januar 1997 – 4 Sa 784/95 – wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer auf Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 5 Ziff. 2 Einigungsvertrag (fortan: Abs. 5 Ziff. 2 EV) gestützten außerordentlichen Kündigung.
Der im Jahre 1941 geborene Kläger war seit 1969 als Diplomlehrer im Schuldienst der ehemaligen DDR beschäftigt. Zuletzt war er an der Lernbehindertenschule in Sangerhausen tätig.
Auf einem Personalfragebogen des Beklagten verneinte der Kläger am 5. Juli 1991 die Frage nach einer früheren Tätigkeit für das MfS. Auch in seinem Antrag auf Anerkennung von Vordienstzeiten verneinte er am 2. Oktober 1992 eine entsprechende Frage.
Mit Bericht des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR vom 26. September 1994 wurde dem Beklagten mitgeteilt, daß dort eine handschriftliche Verpflichtungserklärung des Klägers gegenüber dem MfS vom 25. September 1974, 23 handschriftliche Berichte des Klägers mit Decknamen unterzeichnet, 37 Treffberichte und 12 Berichte der Führungsoffiziere des Klägers aus dem Zeitraum vom 25. September 1974 bis 28. Februar 1980 vorlägen. In diesem Zeitraum habe das MfS versucht, durch den Kläger insbesondere Informationen aus dem kirchlichen Kreis um die Pfarrer L., B. und H. sowie den Diakon L. zu erhalten. Der Kläger sei in seiner evangelischen Kirchengemeinde aktiv tätig gewesen und habe diese Personen gekannt. Nachdem der Kläger zunächst gut im Sinne des MfS beurteilt worden sei, habe das MfS schließlich Zweifel an der Zuverlässigkeit des Klägers als inoffizieller Mitarbeiter bekommen. Eine daraufhin eingeleitete Überprüfung habe ergeben, daß der Kläger sich gegenüber mehreren Zielpersonen offenbart habe. Daraufhin sei der Kläger nur noch zur Desinformation des kirchlichen Kreises benutzt und schließlich die Zusammenarbeit mit ihm durch das MfS eingestellt worden.
Der Kläger wurde am 8. November 1994 durch den zuständigen Personalausschuß für Lehrpersonalien und am 17. Februar 1995 durch den Leiter des Personaldezernats angehört. Mit Schreiben vom 7. März 1995 unterrichtete die Beklagte den Bezirkspersonalrat über die beabsichtigte fristlose Kündigung des Klägers. Nach Ablauf der Anhörungsfrist erhielt der Kläger durch Schreiben vom 17. März 1995, das ihm am nächsten Tag zuging, die außerordentliche fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses.
Mit der am 7. April 1995 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat der Kläger geltend gemacht, die Kündigung sei unwirksam. Er hat die Auffassung vertreten, die Voraussetzungen für eine außerordentliche Kündigung nach dem Einigungsvertrag seien nicht gegeben. Zur Zusammenarbeit mit dem MfS habe er sich nur deshalb bereit erklärt, weil er seinen Lehrerberuf sonst gefährdet hätte. Im Geheimen habe er beschlossen, die Infos so abzufassen, daß kein Schaden den betreffenden kirchlichen Würdenträgern entstehen werde. Schließlich habe er sich den Zielpersonen gegenüber offenbart und dem MfS auch nur weniger verfängliche Informationen weitergegeben. Kritik habe er nur soweit geübt, daß der Schein gewahrt bleibe. Es müßten die besonderen Umstände der damaligen Zeit berücksichtigt werden, in der gerade nach dem Tod des Pfarrers B. und wegen der erfolgreichen Jugendarbeit in seiner Gemeinde der Druck von Seiten des MfS besonders groß gewesen sei. Sein bewußtes Verschweigen von belastenden Materialien der betroffenen kirchlichen Mitarbeitern habe schließlich 1980 zum „unehrenhaften” Abbruch der IM-Tätigkeit geführt. Er fühle sich nicht als Täter, sondern als Opfer der Stasi.
Der Kläger hat, soweit in der Revision von Bedeutung, beantragt festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die Kündigung des Beklagten vom 17. März 1995 aufgelöst worden sei.
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Er hat die Auffassung vertreten, ihm sei die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses mit dem Kläger mit Rücksicht auf das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Zuverlässigkeit und Funktionsfähigkeit der Landesverwaltung, insbesondere im Hinblick auf die besonderen Anforderungen an die Glaubwürdigkeit eines Lehrers nicht zumutbar. Der Kläger habe sich zwar einigen Zielpersonen gegenüber offenbart, der Zeitpunkt sei jedoch nicht exakt erkennbar und habe wahrscheinlich erst im letzten Abschnitt der Berichtstätigkeit des Klägers gelegen. Dies könne den Kläger letztlich nicht wesentlich entlasten, da er weiterhin und in großem Umfang dem MfS berichtet habe, ohne unter besonderem Druck zu stehen.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben. Mit seiner Revision begehrt der Beklagte die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist durch die außerordentliche Kündigung vom 17. März 1995 nicht aufgelöst worden.
I. Das Landesarbeitsgericht hat im wesentlichen ausgeführt:
Die außerordentliche Kündigung sei nicht nach Abs. 5 Ziff. 2 EV gerechtfertigt, weil dem Beklagten trotz der früheren MfS-Tätigkeit des Klägers die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses noch zumutbar sei. Zwar bekleide der Kläger als Lehrer ein besonderes Amt innerhalb der öffentlichen Verwaltung. Ihm seien junge Menschen anvertraut, denen er nicht nur Fachwissen zu vermitteln habe, sondern auch Vorbild sei. Die Verstrickung des Klägers sei jedoch nicht so erheblich, daß seine Weiterbeschäftigung als Lehrer nicht mehr zumutbar sei. Dabei sei zunächst zu berücksichtigen, daß der Kläger zahlreiche Berichte gefertigt habe, Zuwendungen erhalten und Auslagen erstattet bekommen habe. Die Verpflichtung, welche der Kläger 1974 unterzeichnet habe, beruhe aber offensichtlich darauf, daß der Kläger bei einer Ablehnung der Zusammenarbeit mit dem MfS bestimmte berufliche Konsequenzen befürchtete. Bereits nach der MfS-Beurteilung vom 28. Dezember 1977 sei beim Kläger eine gewisse Befangenheit hinsichtlich der Berichterstattung zu täglichen Problemen zu spüren gewesen. Besonders wenn es darum gegangen sei, personengebundene Informationen zu liefern, habe der Kläger in der Regel versucht, diese Informationen allgemein zu halten oder auf ihm angenehmere Dinge auszuweichen. Nach der vorgenannten Beurteilung des MfS sei die Zuverlässigkeit des Klägers noch nicht nachgewiesen. Es bestehe der Eindruck, daß der Kläger nicht alles sage bzw. solche Informationen, die die Personen belasten könnten, verschweige. Der Kläger habe sich offen zu seinem Glauben bekannt und sein Handeln sei das eines überzeugten Christen. Es gebe Hinweise auf eine Dekonspiration des Klägers. Nach der MfS- Beurteilung vom 26. Juni 1978 habe sich der Kläger gegenüber mehreren Pfarrern dekonspiriert und mehrfach Briefe zum „B.-Zentrum” in die BRD zum Versand gebracht. Nach dieser Beurteilung sei bereits zum damaligen Zeitpunkt beabsichtigt gewesen, den Kläger aus dem aktiven Schuldienst herauszulösen. Die Zusammenarbeit des Klägers mit dem MfS sei schließlich vom MfS im Februar 1980 beendet worden, weil sich Unehrlichkeiten in seiner Berichterstattung gezeigt hätten und er sich gegenüber den zu bearbeitenden Personen dekonspiriert habe, so daß eine weitere Zusammenarbeit unzweckmäßig gewesen sei. Auch nach den von der Kammer vernommenen Zeugen habe der Kläger versucht, die auf Bespitzelung, Denunziation und Gesinnungsschnüffelei gerichtete Tätigkeit des MfS-Unterdrückungsapparates dadurch zu unterlaufen, daß er sich den Zielpersonen offenbarte und diese gegenüber dem MfS in ein günstigeres Licht setzte.
Erscheine danach wegen der Tätigkeit des Klägers für das frühere MfS ein Festhalten am Arbeitsverhältnis nicht unzumutbar, so sei die Zumutbarkeit nicht allein deshalb anders zu bewerten, weil der Kläger die Fragen nach einer früheren Tätigkeit für das MfS falsch beantwortet habe. Nach Abs. 5 Ziff. 2 EV müsse das Festhalten am Arbeitsverhältnis wegen der MfS-Tätigkeit („deshalb”) unzumutbar sein.
Zwar könne die Falschbeantwortung auch ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung nach § 626 BGB sein. Insoweit sei jedoch bereits die zweiwöchige Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB nicht eingehalten.
Die danach unwirksame außerordentliche Kündigung könne auch nicht in eine wirksame ordentliche Kündigung umgedeutet werden, weil insoweit die ordnungsgemäße Beteiligung des Personalrats nicht vorliege.
II. Diese Ausführungen halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung stand:
1. Nach Abs. 5 Ziff. 2 EV liegt ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung dann vor, wenn der Arbeitnehmer für das frühere MfS bzw. Amt für Nationale Sicherheit tätig war und deshalb ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint. Abs. 5 Ziff. 2 EV unterscheidet nicht zwischen hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit. Damit gilt auch für inoffizielle Mitarbeiter, daß eine außerordentliche Kündigung nur gerechtfertigt ist, wenn eine bewußte, finale Mitarbeit für das MfS/AfNS vorliegt (vgl. BAG Urteil vom 26. August 1993 – 8 AZR 561/92 – BAGE 74, 120 = AP Nr. 8 zu Art. 20 Einigungsvertrag; BAG Urteil vom 23. September 1993 – 8 AZR 484/92 – BAGE 74, 257 = AP Nr. 19 zu Einigungsvertrag Anlage I Kap. XIX).
Die außerordentliche Kündigung nach Abs. 5 Ziff. 2 EV setzt weiter voraus, daß wegen der Tätigkeit für das MfS ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint. Ob dies der Fall ist, muß in einer Einzelfallprüfung festgestellt werden. Abs. 5 Ziff. 2 EV ist keine „Mußbestimmung”. Nicht jedem, der für das MfS tätig war, zu kündigen. Das individuelle Maß der Verstrickung bestimmt über die außerordentliche Auflösbarkeit des Arbeitsverhältnisses. Je größer das Maß der Verstrikkung, desto unwahrscheinlicher ist die Annahme, dieser Beschäftigte sei als Angehöriger des öffentlichen Dienstes der Bevölkerung noch zumutbar (vgl. BAG Urteil vom 11. Juni 1992 – 8 AZR 474/91 – BAGE 70, 309, 320 = AP Nr. 4 zu Einigungsvertrag Anlage I Kap. XIX, zu B II 1 c der Gründe). Beim inoffiziellen Mitarbeiter wird sich der Grad der persönlichen Verstrickung vor allem aus Art, Dauer und Intensität der Tätigkeit sowie aus dem Grund der Aufnahme und der Beendigung der Tätigkeit für das MfS ergeben.
2. Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, die Verstrickung des Klägers durch seine Tätigkeit für das MfS sei nicht als so erheblich anzusehen, daß dem Beklagten die weitere Beschäftigung des Klägers im öffentlichen Dienst nicht zumutbar wäre, hält der revisionsrechtlichen Überprüfung stand.
a) Der Kläger ist bewußt und gewollt als inoffizieller Mitarbeiter für das MfS tätig geworden. Das steht zwischen den Parteien außer Streit.
b) Die Entscheidung des Berufungsgerichts über die Zumutbarkeit des Festhaltens am Arbeitsverhältnis ist in der Revisionsinstanz nur beschränkt nachprüfbar. Es handelt sich um die Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs, die vom Revisionsgericht nur darauf überprüft werden kann, ob das Berufungsgericht den Rechtsbegriff selbst verkannt hat, ob es bei der Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnorm des Abs. 5 Ziff. 2 EV Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt und alle wesentlichen Umstände berücksichtigt hat und ob das Urteil in sich widerspruchsfrei ist (ständige Rechtsprechung des BAG, vgl. zu § 1 KSchG u.a. Urteil vom 21. Mai 1992 – 2 AZR 10/92 – BAGE 70, 262, 268 f. = AP Nr. 29 zu § 1 KSchG 1969 Verhaltensbedingte Kündigung, zu II 2 a der Gründe, m.w.N.). Diesem eingeschränkten Prüfungsmaßstab hält das angefochtene Urteil stand.
Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht berücksichtigt, daß der Kläger sich 1974 zur Zusammenarbeit mit dem MfS verpflichtete, weil er bei einer Ablehnung berufliche Konsequenzen befürchtete. Die MfS-Beurteilung des Klägers vom 26. Juni 1978 zeigt, daß das MfS auch beabsichtigte, den Kläger aus dem aktiven Schuldienst „herauszulösen”. Zutreffend hat das Landesarbeitsgericht den erheblichen Umfang der MfS-Tätigkeit des Klägers als belastend angesehen. Immerhin fertigte der Kläger insgesamt 23 handschriftliche Berichte über einen Zeitraum von etwa fünf Jahren. Entscheidend ist aber die Feststellung des Landesarbeitsgerichts, daß der Kläger bereits in der Zeit von 1974 bis 1980 versucht hat, die auf Bespitzelung, Denunziation und Gesinnungsschnüffelei gerichtete Tätigkeit des MfS dadurch zu unterlaufen, daß er sich den Zielpersonen offenbarte und diese gegenüber dem MfS in ein günstigeres Licht setzte. Dies hat auch das MfS erkannt und schließlich deshalb die Zusammenarbeit mit dem Kläger im Februar 1980 abgebrochen. Auch die vom Landesarbeitsgericht durchgeführte Beweisaufnahme hat die Dekonspiration des Klägers gegenüber seinen Zielpersonen sowie die unerlaubten Westkontakte des Klägers zum B.-Zentrum bestätigt. Die Revision hat zwar die Beweiswüdigung angegriffen, jedoch keine zulässigen Verfahrensrügen erhoben. Es ist nicht erkennbar, daß die Würdigung des Landesarbeitsgerichts gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen hätte.
Dem Landesarbeitsgericht ist auch darin zu folgen, daß die falsche Beantwortung des Klägers von Fragen nach einer früheren MfS-Tätigkeit eine außerordentliche Kündigung nach § 626 BGB schon deshalb nicht rechtfertigt, weil der Beklagte die zweiwöchige Kündigungserklärungsfrist nach § 626 Abs. 2 BGB nicht eingehalten hat.
4. Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht auch darauf hingewiesen, daß auch eine Umdeutung der unwirksamen außerordentlichen Kündigung in eine wirksame ordentliche Kündigung ausscheidet. Im Streitfall wurde der zuständige Personalrat nur zur außerordentlichen, nicht jedoch zur ordentlichen Kündigung gehört. Da der Personalrat der außerordentlichen Kündigung nicht ausdrücklich und vorbehaltlos zugestimmt hat, ist die Anhörung zur (umgedeuteten) ordentlichen Kündigung nicht entbehrlich (vgl. BAG Urteil vom 16. März 1978 – 2 AZR 424/76 – BAGE 30, 176 = AP Nr. 15 zu § 102 BetrVG 1972).
III. Der Beklagte hat gem. § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seiner erfolglosen Revision zu tragen.
Unterschriften
Ascheid, Dr. Wittek, Müller-Glöge, Dr. E. Vesper, B. Hennecke
Fundstellen