Entscheidungsstichwort (Thema)
Überbrückungsbeihilfe – Anrechnung einer Unfallrente
Leitsatz (amtlich)
Auf eine Überbrückungsbeihilfe nach § 4 TV SozSich, die ein ausgeschiedener Arbeitnehmer der US-Stationierungsstreitkräfte beanspruchen kann, ist gemäß § 5 Buchst. b TV SozSich eine gesetzliche Unfallrente anzurechnen.
Zur Anrechnung einer US-Militärrente auf eine Überbrückungsbeihilfe nach TV SozSich: vgl. Senatsurteil vom 16. Juli 1998 - 6 AZR 672/96 - AP TVG § 4 Rationalisierungsschutz Nr. 27
Normenkette
Tarifvertrag zur sozialen Sicherung bei den Stationierungsstreitkräften im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland vom 31. August 1971 (TV SozSich) §§ 3-5
Verfahrensgang
Tenor
1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz vom 28. Juli 1997 - 9 Sa 508/97 - wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten der Revision.
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte auf die dem Kläger zustehende Überbrückungsbeihilfe eine Unfallrente anrechnen darf.
Der Kläger war seit dem 7. April 1965 bei den US-Streitkräften als Control Lead Inspector beschäftigt. Dieses Arbeitsverhältnis, auf das aufgrund einzelvertraglicher Vereinbarung der TV AL II Anwendung fand, wurde wegen Truppenreduzierung durch einen Vergleich der Parteien mit Ablauf des 31. Januar 1996 beendet.
Der Kläger erhielt von der Beklagten wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine Überbrückungsbeihilfe nach dem Tarifvertrag zur sozialen Sicherung bei den Stationierungsstreitkräften im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland vom 31. August 1971 (TV SozSich). Auf die Überbrückungsbeihilfe rechnete die Beklagte eine gesetzliche Unfallrente an, die der Kläger wegen eines am 20. Januar 1988 erlittenen Arbeitsunfalls erhielt, und zahlte dem Kläger die Überbrückungsbeihilfe monatlich um 737,20 DM gekürzt aus.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, eine Anrechnung nach § 5 Satz 1 TV SozSich sei ausgeschlossen, da einer der in § 5 Satz 2 TV SozSich geregelten Ausnahmefälle vorliege. Bereits der Text des § 5 TV SozSich zeige, daß die Anrechnung nur Bezüge erfassen solle, die allein „aus öffentlichen Leistungen” erwüchsen. Dies sei bei der Unfallrente nicht der Fall.
Der Kläger hat zuletzt beantragt:
1. Es wird festgestellt, daß die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger die Überbrückungsleistungen gem. TASS ohne Anrechnung der Unfallrente aus dem Arbeitsunfall vom 20. Januar 1988 zu gewähren.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 12.532,40 DM zu zahlen.
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und die Auffassung vertreten, die Anrechnung der Unfallrente auf die Überbrückungsbeihilfe sei nicht durch § 5 Satz 2 TV SozSich ausgeschlossen. Diese Tarifbestimmung erfasse nicht Leistungen eines Sozialversicherungsträgers.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat keinen Erfolg.
I. Zu Recht haben die Vorinstanzen die Klage als unbegründet abgewiesen.
Auf die dem Kläger von der Beklagten zu gewährende Überbrückungsbeihilfe ist die gesetzliche Unfallrente des Klägers anzurechnen. Dies ergibt sich aus § 5 Satz 1 Buchst. b TV SozSich. Die Unfallrente ist eine Leistung im Sinne dieser Tarifbestimmung. Sie fällt nicht unter die in § 5 Satz 2 TV SozSich bezeichneten Leistungen, die von der Anrechnung ausgenommen sind.
1. Die Unfallrente ist im Sinne des § 5 Satz 1 TV SozSich eine „andere Leistung als nach § 4 Ziff. 1”. Die Bestimmung des § 4 Ziff. 1 TV SozSich, die die sogenannten Anknüpfungsleistungen, zu denen die Überbrückungsbeihilfe gezahlt wird, definiert, erwähnt von den Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung lediglich das Verletztengeld (§§ 45 ff. SGB VII; vor dem 1. Januar 1997: §§ 560 ff. RVO aF), nicht jedoch die Unfallrente, die in §§ 56 ff. SGB VII geregelt ist (vor dem 1. Januar 1997: §§ 580, 581 RVO aF). Diese ist keine Anknüpfungsleistung, deren Bezug nach dem Tarifvertrag Voraussetzung für einen Anspruch auf Überbrückungsbeihilfe sein kann.
Die gesetzliche Unfallrente ist vielmehr eine Leistung, die auf die Überbrückungsbeihilfe anzurechnen ist, denn sie beruht im Sinne des § 5 Satz 1 Buchst. b TV SozSich auf einem Anspruch „gegen einen Sozialversicherungsträger”. Die zuständige Berufsgenossenschaft gehört zu den Trägern der Sozialversicherung (§ 114 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII iVm. § 29 Abs. 1 und § 1 Abs. 1 SGB IV).
2. Die Unfallrente fällt nicht unter die Ausnahmevorschrift des § 5 Satz 2 TV SozSich. Sie ist weder eine „Leistung eines Sozialleistungsträgers” noch eine „sonstige Leistung aus öffentlichen Mitteln”. Dies ergibt eine Auslegung der Tarifbestimmung.
a) Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages erfolgt nach den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Dabei ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen. Zu ermitteln ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Über den reinen Wortlaut hinaus ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Ferner ist auf den tariflichen Gesamtzusammenhang abzustellen, der mit berücksichtigt werden muß, weil nur daraus und nicht aus der einzelnen Tarifnorm auf den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien geschlossen und deshalb nur bei Mitberücksichtigung des tariflichen Gesamtzusammenhangs der Sinn und Zweck der Tarifnormen zutreffend ermittelt werden kann (ständige Rechtsprechung, vgl. BAG 12. September 1984 - 4 AZR 336/82 - BAGE 46, 308; 20. März 1996 - 4 AZR 906/94 - AP BAT § 23 a Nr. 36, zu II 2.1 der Gründe; 30. Januar 1997 - 6 AZR 784/95 - AP TVG § 4 Rationalisierungsschutz Nr. 22 = EzA TVG § 4 Personalabbau Nr. 8, zu II 2 der Gründe; 12. November 1997 - 10 AZR 206/97 - AP TVG § 1 Tarifverträge: Deutsche Bahn Nr. 1, zu II 2 der Gründe; 28. Mai 1998 - 6 AZR 349/96 - AP BGB § 611 Bühnenengagementsvertrag Nr. 52 = EzA TVG § 4 Bühnen Nr. 5, zu II 2 a der Gründe; 16. Juli 1998 - 6 AZR 672/96 - AP TVG § 4 Rationalisierungsschutz Nr. 27, zu II 2 a der Gründe).
b) § 5 Satz 1 Buchst. b TV SozSich unterscheidet zwischen einem Anspruch gegen einen „Sozialversicherungsträger” und einem Anspruch gegen einen „Sozialleistungsträger”. Es kann somit nicht davon ausgegangen werden, daß in § 5 Satz 2 TV SozSich mit dem Begriff „Sozialleistungsträger” auch der Sozialversicherungsträger erfaßt werden soll. Ebensowenig ist unter einer anderen Leistung „aus sonstigen öffentlichen Mitteln” iSv. § 5 Satz 1 Buchst c TV SozSich eine Leistung zu verstehen, die ein Sozialversicherungsträger iSv. § 5 Satz 1 Buchst. b TV SozSich zu erbringen hat. Auch insoweit ist die im Tarifwortlaut zum Ausdruck kommende Unterscheidung dieser Begriffe eindeutig.
Das gilt, obwohl der TV SozSich am 15. April 1971 und somit lange vor dem SGB IV in Kraft getreten ist. In der Tradition des Sozialversicherungsrechts wurde bereits vor Inkrafttreten des SGB IV (1. Juli 1977) zwischen Sozialversicherung, (Sozial) Versorgung und Sozialhilfe/Fürsorge unterschieden. Für die Sozialversicherung ist nach dieser Einteilung die Verbindung von versicherungsmäßiger, dh. beitragsfinanzierter Selbsthilfe durch Zusammenschluß und Beitragsleistung gleichartig Bedrohter und sozialem Ausgleich innerhalb der – sich selbst verwaltenden – Versichertengemeinschaft sowie zwischen ihr und dem Staat charakteristisch. Bei der Versorgung, die in der Allgemeinversorgung oder der Sonderversorgung bestehen kann, fehlt ein versicherungsmäßiges Gegenseitigkeitsverhältnis. Sie wird nicht aus Beiträgen, sondern aus staatlichen Steuermitteln finanziert und von staatlichen Verwaltungsbehörden durchgeführt. Während die Allgemeinversorgung, entsprechend dem Finalprinzip, bei Vorliegen bestimmter Tatbestände rein sozialstaatlich motivierte vorleistungsunabhängige Leistungen erbringt (zB Kindergeld), ist die Sonderversorgung eine dem Kausalprinzip folgende, auch haftungsrechtlich motivierte Entschädigung für ein der Allgemeinheit erbrachtes oder von ihr verursachtes besonderes Opfer (zB Kriegsopferversorgung). Die Sozialhilfe schließlich ist gekennzeichnet durch die Subsidiarität der Hilfegewährung (Nachrang gegenüber Selbsthilfe und Hilfe von anderer Seite) und die Individualisierung der Hilfeleistung bei Finanzierung aus Steuermitteln und organisatorischer Durchführung durch – insbesondere kommunale – Leistungsträger. Die Sozialhilfe stellt also auf die Bedürftigkeit ab, Sozialversicherung und Sozialversorgung nicht (Bley Sozialrecht 7. Aufl. Rn. 11 bis 13 unter Berufung ua. auf Bogs in Sozialenquête 1966 Nr. 131 bis 138).
Im Hinblick auf dieses bei Abschluß des Tarifvertrags bereits geläufige System des Sozialrechts ist davon auszugehen, daß die Tarifvertragsparteien bewußt den Begriff des Sozialversicherungsträgers verwendet haben und damit die Träger der traditionellen gesetzlichen Kranken-, Renten- und Unfallversicherung gemeint haben.
c) Sinn und Zweck der tariflichen Regelung stehen diesem Auslegungsergebnis nicht entgegen. Dem aus § 3 Ziff. 1 TV SozSich deutlich werdenden Bestreben, die Leistungsdauer der Überbrückungsbeihilfe der aus ihrer Bezeichnung ersichtlichen Zwecksetzung gemäß möglichst zu verkürzen und den Arbeitnehmer in den Arbeitsprozeß wieder einzugliedern, entsprechen die Regelungen über die Begrenzung der Höhe dieser Leistung auf den zur Überbrückung des Leistungszeitraums erforderlichen Leistungsbedarf in § 4 TV SozSich. Demnach soll die finanzielle Absicherung darin bestehen, dem entlassenen Arbeitnehmer nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses insgesamt Einkünfte in der Höhe zu gewährleisten, die er im fortbestehenden Arbeitsverhältnis bei den Stationierungsstreitkräften als tarifliche Grundvergütung bezogen hätte, nach Ablauf eines Jahres geringfügig vermindert. Auch die Anrechnungsregelungen in § 5 TV SozSich tragen diesem Leistungszweck Rechnung. Durch sie soll verhindert werden, daß der Arbeitnehmer aufgrund der Überbrückungsbeihilfe nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses bei den Stationierungsstreitkräften infolge von Leistungen, die der bisherige Arbeitgeber, der neue Arbeitgeber oder öffentliche Leistungsträger zu erbringen haben, höhere Einkünfte erzielt als die zuletzt im Arbeitsverhältnis bezogene tarifliche Grundvergütung. Die Einkommenseinbuße soll durch die Überbrückungsbeihilfe nur insoweit ausgeglichen werden, als der Betroffene nicht bereits Anspruch auf Leistungen hat, die dem gleichen Zweck dienen wie die Überbrückungsbeihilfe (BAG 16. Juli 1998 - 6 AZR 672/96 - aaO, zu II 2 b der Gründe).
Zu den letztgenannten Leistungen gehört auch eine Unfallrente, durch die nicht der konkrete Erwerbsschaden ersetzt wird, sondern der durch den Versicherungsfall bedingte Verlust an Erwerbsmöglichkeiten (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII), und die durch das ihr immanente Prinzip der abstrakten Schadensbemessung (einheitliche Rentenleistung, die sowohl den Schaden im Erwerbsleben als Verlust an Einsetzbarkeit auf dem gesamten Arbeitsmarkt als auch den immateriellen Schaden, Schmerzen, Mehraufwand, Erschwerungen bei den Verrichtungen des täglichen Lebens ausgleicht) es den Versicherten ermöglicht, unbegrenzt Arbeitsentgelt hinzuzuverdienen, ohne eine Kürzung oder Entziehung der Rentenleistung befürchten zu müssen, was die Bereitschaft des Versicherten stärkt, sich nach Kräften um eine erfolgreiche Eingliederung ins Erwerbsleben zu bemühen.
d) Daß die Unfallrente dem Kläger bereits während des Arbeitsverhältnisses bei den US-Streitkräften gewährt wurde, rechtfertigt keine andere Beurteilung. § 5 TV SozSich beschränkt die Anrechnung nicht auf Leistungen, die der Arbeitnehmer erst nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses beanspruchen kann (BAG 16. Juli 1998 - 6 AZR 672/96 - aaO, zu II 2 b der Gründe, mwN).
II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Rechtsmittelbelehrung
Gegen diese Entscheidung ist ein Rechtsmittel nicht gegeben.
Unterschriften
Dr. Peifer, Dr. Armbrüster, Gräfl, W. Zuchold, Matiaske
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 18.03.1999 durch Schneider, Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 436119 |
FA 1999, 413 |
NZA 1999, 1286 |
ZTR 2000, 31 |
AP, 0 |
PersR 1999, 466 |
RiA 2000, 64 |