Entscheidungsstichwort (Thema)
Großbaustellenabschlag. Parallelentscheidung zum BAG Urteil vom 20. Oktober 1993 – 4 AZR 19/93 –
Leitsatz (amtlich)
- Eine Großbaustelle im Sinne des Akkordtarifvertrages für das Fliesen-, Platten- und Mosaikleger-Handwerk in den Regierungsbezirken Düsseldorf und Köln im Lande Nordrhein-Westfalen ist dann gegeben, wenn sie räumlich weit ausgedehnt ist und die im Tarifvertrag genannten Meßzahlen überschritten sind.
- Der Arbeitgeber ist auch dann berechtigt, den sog. Großbaustellenabschlag abzuziehen, wenn die Verlegearbeiten sich auf mehrere Häuser verteilen, die Häuser verschiedene Grundrisse haben, auf verschiedenen Straßenseiten stehen und von verschiedenen Bauträgern gebaut werden, sofern die Auftragsvergabe in zeitlichem Zusammenhang erfolgt.
- Dem Großbaustellenabschlag steht nicht entgegen, wenn die Arbeit aus Urlaubs- und Witterungsgründen kurzfristig unterbrochen wird.
Normenkette
TVG § 1 Tarifverträge: Bau; Akkordtarifvertrag für das Fliesen-, Platten- und Mosaikleger-Handwerk in den Regierungsbezirken Düsseldorf und Köln im Lande Nordrhein-Westfalen (Akkord-TV) § 15
Verfahrensgang
LAG Düsseldorf (Urteil vom 06.11.1992; Aktenzeichen 15 Sa 916/92) |
ArbG Oberhausen (Urteil vom 27.05.1992; Aktenzeichen 4 Ca 717/92) |
Tenor
- Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 6. November 1992 – 15 Sa 916/92 – wird zurückgewiesen.
- Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Vergütung der vom Kläger in der Zeit vom 16. Oktober 1991 bis 15. Januar 1992 erbrachten Akkordarbeiten; insbesondere darüber, ob der Beklagte berechtigt ist, einen Großbaustellenabzug in Höhe von 3 % vorzunehmen.
Zwischen den Parteien besteht ein Arbeitsverhältnis, auf das die Tarifverträge für das Bauhauptgewerbe, der Tarifvertrag für Fliesenleger sowie der Akkordtarifvertrag für das Fliesen-, Platten- und Mosaikleger-Handwerk in den Regierungsbezirken Düsseldorf und Köln im Land Nordrhein-Westfalen anwendbar sind.
Vom 16. Oktober 1991 bis zum 15. Januar 1992 war der Kläger mit zwei Unterbrechungen auf der Baustelle “W… straße” beschäftigt. Er arbeitete dort zusammen mit seinem Bruder im Akkord. Bei dieser Baustelle handelte es sich um mehrere Mehrfamilienhäuser, bei denen vier Hauseingänge mit je ca. 130,35 m(2) (insgesamt 521,40 m(2)) Wand- und Bodenflächen zu verfliesen waren.
Bei der Akkordabrechnung für die Zeit vom 16. Oktober 1991 bis 15. Januar 1992 zog der Beklagte unter Hinweis auf § 15 II Pos.-Nr. 8.1 des Akkordtarifvertrages 4 % = 788,50 DM brutto als “Großbaustellenabzug” ab. Hiervon entfielen auf den Kläger 438,-- DM brutto.
Mit Schreiben vom 11. März 1992 machte der Kläger diesen Betrag gegenüber dem Beklagten erfolglos geltend. Mit der dem Beklagten am 4. April 1992 zugestellten Klage hat er diesen Anspruch weiterverfolgt.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, bei der Baustelle “W… straße” habe es sich nicht um eine Großbaustelle im Sinne des einschlägigen Tarifvertrages gehandelt. Vielmehr habe der Beklagte für die zu erledigenden Fliesenlegerarbeiten jeweils Einzelaufträge erhalten. Die Arbeiten seien in den Mehrfamilienhäusern mit den Hausnummern 49, 51, 67 und 67a sowie in einem Mittelhaus ausgeführt worden. Baubeginn für die den ersten Bauabschnitt bildenden Häuser mit den Hausnummern 49 und 51 sei der 16. Oktober 1991 gewesen, die Arbeiten seien bis zum 12. November 1991 durchgeführt worden. Die Arbeiten des Bauabschnitts 2 in den Häusern mit den Hausnummern 67 und 67a hätten sich nicht unmittelbar angeschlossen. Grund dafür sei zum einen die Terminvorgabe des Auftraggebers gewesen, zum anderen hätten die Arbeiten des zweiten Bauabschnitts nicht in Angriff genommen werden können, weil die Fenster noch nicht eingesetzt und die Estrichböden noch nicht verlegt gewesen seien. Die Häuser mit den Hausnummern 49 und 51 einerseits sowie die Häuser mit den Hausnummern 67 und 67a andererseits seien deshalb unterschiedliche Baustellen und nicht etwa eine einheitliche Großbaustelle gewesen. Das werde noch dadurch belegt, daß er – der Kläger – in der Zeit vom 13. bis zum 17. November 1991 auf einer anderen Baustelle eingesetzt worden sei. Erst danach sei am 18. November 1991 der zweite Bauabschnitt in der “W… straße” begonnen worden. Die Arbeiten seien durchgeführt worden bis zum 5. Dezember 1991 und dann wieder wegen nicht verlegter Estrichböden und nicht eingesetzter Fenster unterbrochen worden. In der Zeit vom 11. Dezember 1991 bis zum 6. Januar 1992 habe er erneut auf einer anderen Baustelle gearbeitet. Das Haus mit der Hausnummer 67a sei schließlich erst in der Zeit vom 6. bis zum 15. Januar 1992 verfliest worden.
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an ihn weitere 328,50 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich hieraus ergebenden Nettobetrag seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage insoweit abzuweisen.
Er hat vorgetragen, die Arbeiten bei der Baustelle “W… straße” seien aufgrund eines einheitlichen Auftrages ausgeführt worden. Kurzfristige Unterbrechungen der Arbeit auf der Großbaustelle ständen der Berechtigung des Abzugs nicht entgegen. In der Zeit vom 13. bis zum 15. November 1991 sei es zur Unterbrechung wegen dringender Reparaturarbeiten auf einer anderen Baustelle gekommen. Die Unterbrechung vom 6. bis zum 19. Dezember 1991 habe auf ungünstigen Witterungsverhältnissen beruht. Für die Zeit vom 6. bis zum 10. Dezember 1991 sei Schlechtwettergeld gezahlt worden. Ab 11. Dezember 1991 habe Frost geherrscht, die Baustelle “W… straße” sei angesichts der Kälte für die Fliesenlegerarbeiten wenig geeignet gewesen, die Arbeitnehmer seien deshalb auf einer beheizten Baustelle eingesetzt worden. Wegen falscher Vorarbeiten (Fenster, Estrichböden) habe die Arbeit nie unterbrochen werden müssen. Alle tatsächlich vorgekommenen Unterbrechungen ständen dem streitigen Abzug nicht entgegen, weil sie nicht zum Verlust des Großbaustellenvorteils geführt hätten. Es sei keine Neueinrichtung der Baustelle erforderlich geworden und die Vorteile der Einarbeitung seien durch die Unterbrechungen nicht verloren gegangen. Das gleiche gelte für die Unterbrechung ab 20. Dezember 1991 bis einschließlich 3. Januar 1992 wegen vom Kläger gewünschten Urlaubs und wegen des tariflichen Lohnausgleichszeitraums.
Das Arbeitsgericht hat die Klage insoweit abgewiesen, als der Beklagte einen Großbaustellenabzug von 3 % vorgenommen hat, und im übrigen der Klageforderung entsprochen. Die Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Mit der Revision verfolgt der Kläger seinen Anspruch weiter. Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Der Beklagte war berechtigt, einen Großbaustellenabzug in Höhe von 3 % nach dem Akkordtarifvertrag für die Baustelle “W… straße” vorzunehmen.
I.1. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts findet auf das Arbeitsverhältnis der Parteien u.a. der Akkordtarifvertrag für das Fliesen-, Platten- und Mosaikleger-Handwerk in den Regierungsbezirken Düsseldorf und Köln im Land Nordrhein-Westfalen (Akkord-TV) Anwendung. Dieser hat – soweit es hier interessiert – folgenden Wortlaut:
Ҥ 15
Leistungsumfang und Vorgabewerte
I. …
II. Vorgabewerte
2.a) Die Tarifvertragsparteien haben im Tarifvertrag nicht im einzelnen erläutert, unter welchen Voraussetzungen sie von einer Großbaustelle im Sinne dieser Vorschrift ausgehen. Sie müssen deshalb durch Auslegung der Tarifvorschrift festgestellt werden.
Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien ist über den reinen Wortlaut hinaus mitzuberücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann (ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, vgl. BAGE 42, 86, 89 = AP Nr. 128 zu § 1 TVG Auslegung; BAGE 46, 308, 313 = AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung; BAGE 60, 219, 223 f. = AP Nr. 127 zu § 611 BGB Gratifikation; Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 7. Aufl., § 198 III 2b, S. 1488 f.).
b) Legt man diese Auslegungsgrundsätze zu Grunde, hat das Landesarbeitsgericht zutreffend eine Großbaustelle angenommen.
aa) Nach dem Tarifwortlaut (§ 15 II Pos.-Nr. 8.1 Abs. 1 Ziff. a Akkord-TV) liegt eine Großbaustelle vor, wenn sie räumlich ausgedehnt ist bzw. ein beträchtliches Ausmaß aufweist. Die Tarifvertragsparteien haben darüber hinaus durch die Angabe von Flächenmaßen zusätzlich klargestellt, wann von einer Großbaustelle auszugehen ist. Sie kann jedenfalls nicht vorliegen, wenn diese Maße nicht erreicht werden.
bb) Daraus folgt, daß die Tarifvertragsparteien selbst nicht davon ausgegangen sind, daß die in § 15 II Pos.-Nr. 8.1 Abs. 1 Ziff. a – c Akkord-TV genannten Flächen von 300/600/900 m(2) in einer einheitlichen Fläche zu verlegen sind, um von einer Großbaustelle zu sprechen. Vielmehr genügen bei Siedlungsbauten auch schon 6 Teilflächen von je 50 m(2), um eine Großbaustelle anzunehmen, und es genügen schon 100 m(2) für einen Fliesenleger, wenn nur insgesamt mindestens 300 m(2) zu verlegen sind. Gleichzeitig ergibt sich daraus, daß die Fliesen in mehreren Häusern verlegt werden können und daß es unerheblich ist, ob alle Häuser einen gleichen Grundriß haben und die gleiche Struktur aufweisen. Schließlich kann auch nicht darauf abgestellt werden, daß die Häuser auf verschiedenen Seiten der sie erschließenden Straße stehen. Dadurch wird der Charakter einer Baustelle als “Großbaustelle” gerade unterstrichen. Ebensowenig ändert sich an dem Charakter einer Baustelle als “Großbaustelle” etwas dadurch, daß verschiedene Bauträger für die einzelnen Häuser vorhanden sind. Weder der Wortlaut noch der Gesamtzusammenbang des Akkord-TV geben einen Anhaltspunkt dafür, daß die Tarifvertragsparteien nicht nur auf die Rechtsverhältnisse zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, sondern darüber hinaus auch auf die zwischen Arbeitgeber und Auftraggeber Bezug genommen haben.
cc) Im Gegensatz zur Auffassung der Revision ist nicht von einer Tariflücke – unbewußt oder bewußt – auszugehen. Vielmehr haben die Tarifvertragsparteien durch die Grundsatzregelung in § 15 II Pos.-Nr. 8.1 Abs. 1 und die Ausnahmeregelungen in den Abs. 2 und 3 Akkord-TV zu erkennen gegeben, daß es für die Annahme einer Großbaustelle nur auf die insgesamt zu verlegenden Flächen auf einer Baustelle, die auch aus mehreren Bauten bestehen kann, ankommen soll.
c) Der Kläger hatte auf der Großbaustelle unstreitig insgesamt 521,4 m(2) Wand- und Bodenflächen zu verlegen, also über 300 m(2), ebenso wurde die Mindestfläche von 50 m(2) je Hauseingang überschritten. Der Beklagte war mithin berechtigt, einen Großbaustellenabzug von 3 % vorzunehmen.
3. An diesem Ergebnis ändert sich, entgegen der Auffassung der Revision, nichts dadurch, daß die Arbeiten auf der Baustelle “W… straße” zweimal kurzfristig unterbrochen waren, zumal jeweils die Kontinuität der Baustelle fortbestand.
a) Nach dem Tarifwortlaut kommt es für die Annahme einer Großbaustelle allein auf die insgesamt zu verlegende Fläche an. Durch die Ausnahmeregelungen in § 15 II Pos.-Nr. 8.1 Abs. 2 und 3 Akkord-TV zeigt sich darüber hinaus, daß den Tarifvertragsparteien durchaus Baustellen vor Augen standen, bei denen zwar die erforderlichen Flächen insgesamt gegeben, diese aber ihrerseits in Teilflächen aufgeteilt waren. Wenn sie dann Ausnahmeregelungen nur in diesen beiden Ausnahmefällen getroffen haben, zeigt sich, daß es im übrigen bei dem Grundsatz des Abs. 1 verbleiben, also allein die insgesamt zu verlegende Fläche maßgeblich sein sollte. Darüber hinaus ergeben sich die Vorteile für die Fliesenleger bei größeren zu verlegenden Flächen, wie das Landesarbeitsgericht zutreffend ausgeführt hat, auch bei Unterbrechungen, zumal diese nicht einmal mit einem “Umzug” von Hauseingang zu Hauseingang verbunden zu sein brauchten.
b) Die hiergegen vorgebrachten Bedenken der Revision überzeugen nicht. Gerade wenn die Tarifvertragsparteien bestimmte Ausnahmefälle besonders geregelt haben, kann nicht durch Auslegung ohne Anhalt im Wortlaut ein weiterer Ausnahmefall konstruiert werden. Dies um so mehr, als gerade auf Großbaustellen kürzere oder auch längere Unterbrechungen bei Ausbauarbeiten – z.B. durch Schlechtwetter- oder Frostperioden – regelmäßig vorkommen.
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Schaub, Dr. Wißmann, Schneider, Müller-Tessmann, Wehner
Fundstellen
Haufe-Index 845953 |
BB 1994, 292 |
NZA 1994, 951 |