Entscheidungsstichwort (Thema)
Anwesenheitsprämie und krankheitsbedingte Fehlzeiten
Leitsatz (redaktionell)
Die krankheitsbedingten Fehlzeiten, für die der Arbeitnehmer keinen Lohn oder kein Gehalt beanspruchen konnte, weil der Sechs-Wochen-Zeitraum überschritten war, dürfen bei der Bemessung einer jährlichen Sonderzahlung anspruchsmindernd berücksichtigt werden (im Anschluß an BAG Urteil vom 19. Mai 1982 - 5 AZR 466/80 = BAGE 39, 67 = AP Nr 12 zu § 611 BGB Anwesenheitsprämie).
Normenkette
BGB § 611; HGB § 63 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
LAG Düsseldorf (Entscheidung vom 21.10.1981; Aktenzeichen 22 Sa 196/81) |
ArbG Siegburg (Entscheidung vom 05.03.1981; Aktenzeichen 1 Ca 158/81) |
Tatbestand
Die Klägerin fordert von der Beklagten, ihrer Arbeitgeberin, die ungekürzte Auszahlung einer Weihnachtsgratifikation für das Jahr 1980; die Beklagte will diese Gratifikation um krankheitsbedingte Fehlzeiten kürzen.
Die Klägerin war seit dem 1. Oktober 1977 bei der Beklagten in einem Supermarkt in St. A als Kassenaufsicht beschäftigt. Sie verdiente damals 2.200,-- DM brutto monatlich.
Die Beklagte zahlte 1980 an alle Arbeitnehmer dieses Betriebes eine Weihnachtsgratifikation. In einem Aushang vom September 1980 verwies sie auf ein bei der Personalleitung einsehbares Berechnungsschema. Dieses sah für Arbeitnehmer im Kassenbereich ein 13. Monatsgehalt vor, das jedoch um 20,-- DM pro Fehltag gekürzt wurde. Als Fehltage wurden "alle Abwesenheitstage außer Urlaub" berücksichtigt. Bei der Klägerin berücksichtigte die Beklagte 81 krankheitsbedingte Fehltage in der Zeit vom 1. Oktober 1979 bis zum 30. September 1980. Für 52 dieser krankheitsbedingten Fehltage wurde das Gehalt der Klägerin weitergezahlt. Für weitere 29 Tage hatte die Klägerin keinen Anspruch auf Gehaltsfortzahlung, weil sie im Anschluß an eine längere Krankheit eine Kur antreten mußte.
Die Klägerin war mit dieser Kürzung der Weihnachtsgratifikation nicht einverstanden. Sie hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie
1.620,-- DM brutto nebst 4 % Zinsen
seit dem 21. Januar 1981 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, die Weihnachtsgratifikation sei eine freiwillige soziale Leistung, für die sie die Anspruchsvoraussetzungen bestimmen könne. An einer Anwesenheitsprämie habe sie ein erhebliches und berechtigtes Interesse.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht diese Verurteilung nur in Höhe von 1.040,-- DM bestätigt (unberechtigte Kürzung wegen der 52 krankheitsbedingten Fehltage, für die die Klägerin Anspruch auf Gehalt hatte); in Höhe von 580,-- DM (29 x 20,-- DM) hat es die Klage abgewiesen. Gegen dieses Urteil haben beide Parteien Revision eingelegt. Die Klägerin verlangt die Wiederherstellung des erstinstanzlichen, der Klage in vollem Umfange stattgebenden Urteils. Die Beklagte verfolgt ihren Antrag auf vollständige Abweisung der Klage weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revisionen beider Parteien sind nicht begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf die Weihnachtsgratifikation in dem vom Berufungsgericht ausgeurteilten Umfang. Wegen der krankheitsbedingten Fehlzeiten, für die die Beklagte zur Gehaltsfortzahlung nach § 63 Abs. 1 Satz 1 HGB verpflichtet war, durfte sie die Weihnachtsgratifikation nicht anteilig kürzen. Die darüber hinausgehenden Fehlzeiten durften anspruchsmindernd berücksichtigt werden.
I. Nach den Bedingungen, die die Beklagte für die Berechnung der Weihnachtsgratifikation 1980 bekanntgegeben hatte, stünde der Klägerin kein Anspruch auf eine höhere Weihnachtsgratifikation zu. Nach diesen Bedingungen durfte die Beklagte die Weihnachtsgratifikation um alle Fehlzeiten - ausgenommen Urlaub - kürzen. Das sollte nicht nur für den Fall gelten, daß der Arbeitnehmer unberechtigt der Arbeit fern blieb, also bummelte. Die Beklagte wollte auch und gerade bei krankheitsbedingten Fehlzeiten die Weihnachtsgratifikation kürzen. Sie hat, wie sie in diesem Rechtsstreit einräumte, mit der Weihnachtsgratifikation die Zwecke verfolgt, die üblicherweise mit einer Anwesenheitsprämie vom Arbeitgeber verfolgt werden.
II. Diese Abrede ist insoweit nichtig, wie die Prämie wegen solcher krankheitsbedingter Fehlzeiten gekürzt werden soll, für die der Arbeitgeber Lohn- oder Gehaltsfortzahlung zu leisten hat. Das hat das Berufungsgericht zutreffend entschieden.
1. Der Senat hat zu der hier dargestellten Rechtsfrage zuletzt im Urteil vom 19. Mai 1982 (BAG 39, 67 = AP Nr. 12 zu § 611 BGB Anwesenheitsprämie) Stellung genommen. Er hat sie mit einer ausführlichen Begründung in dem soeben dargestellten Sinne entschieden. Das Berufungsgericht konnte diese Entscheidung noch nicht berücksichtigen. Es ist aufgrund ähnlicher Überlegungen jedoch zum gleichen Ergebnis gelangt.
2. Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest. Weder die kritischen Stimmen aus der Literatur (vgl. Ortlepp, Anm. zu diesem Urteil in AP Nr. 12 zu § 611 BGB Anwesenheitsprämie, zu II 1 und 2; Meisel, Anm. in SAE 1983, 181; Buchner, Festschrift für Hilger/Stumpf, S. 67, 73) noch die Revision haben neue Argumente, die gegen die Lösung des Senats sprechen könnten, vorgebracht. Während Ortlepp bezweifelt, daß eine Anwesenheitsprämie der hier vorliegenden Art die Entscheidung des Arbeitnehmers beeinflussen kann, trotz festgestellter Krankheitssymptome zu arbeiten oder sein Leiden auszukurieren, stellt Meisel diese Anreizwirkung nicht in Abrede. Er meint jedoch, eine solche Wirkung sei nicht unzulässig, weil das Arbeitsrecht von einem mündigen Arbeitnehmer auszugehen habe (aaO, zu 5 - S. 182). Dabei übersieht Meisel jedoch, daß der Arbeitnehmer als der wirtschaftlich Schwächere und sozial Abhängige in vielfacher Weise durch zwingende Rechtsnormen geschützt wird und geschützt werden muß. Zu diesen Schutzbestimmungen gehören die Regelungen über die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Buchner, der die Unterscheidung zwischen einmal und laufend gezahlten Leistungen für berechtigt hält, begründet dies mit der unterschiedlichen rechtlichen Wirkung von Rückzahlungsklauseln, die laufenden Lohn betreffen - sie seien unzulässig - und Rückzahlungsklauseln bei einmaligen Gratifikationen - diese seien innerhalb gewisser Grenzen im Grundsatz zulässig - (aaO, S. 69 ff.). Auch das überzeugt nicht. Besteht der Arbeitgeber bei Gratifikationen (nicht unmittelbar leistungsbezogenes Arbeitsentgelt) auf einer Rückzahlungsklausel für den Fall der Kündigung, gewährt er für die weitere Betriebstreue seines Arbeitnehmers eine Gegenleistung in Form der Gratifikation. Dem arbeitsrechtlichen Schutzprinzip wird durch entsprechende Anforderungen an die inhaltliche Ausgestaltung dieser Rückzahlungsklauseln Rechnung getragen (vgl. dazu Fenn, Anm. zum Urteil des Senats vom 13. Oktober 1982 - 5 AZR 370/80 - betr. eine Jahressonderleistung, die wegen der Inanspruchnahme von Mutterschutzfristen gekürzt werden sollte, in EzA BGB § 611 Gratifikation, Prämie Nr. 72, zu I 1 a a.E.). Dagegen geht es hier darum, den erkrankten Arbeitnehmer für die im Gesetz bestimmten Zeiträume wirtschaftlich so zu stellen wie den gesunden Arbeitnehmer, der im fraglichen Zeitraum tatsächlich gearbeitet hat. Im übrigen ist das Urteil des Senats vom 19. Mai 1982 von Fenn (Anm. zum weiteren Urteil des Senats vom 13. Oktober 1982 - 5 AZR 370/80 - in EzA BGB § 611 Gratifikation, Prämie) zustimmend besprochen worden; Fenn hat der Begründung des Senats uneingeschränkt zugestimmt.
3. Das Berufungsgericht hat die Beklagte daher mit Recht verurteilt, an die Klägerin weitere 1.040,-- DM brutto Weihnachtsgratifikation 1980 zu zahlen. Der Betrag ist nach § 291 Satz 1 BGB zu verzinsen.
Die Revision der Beklagten ist daher unbegründet.
III. Die Abrede der Parteien über die Weihnachtsgratifikation 1980 ist dagegen insoweit wirksam, wie die Beklagte sich die Kürzung der Gratifikationen wegen solcher krankheitsbedingter Fehlzeiten vorbehalten hatte, für die kein Anspruch auf Gehaltsfortzahlung bestand. Das waren in dem hier maßgebenden Zeitraum vom 1. Oktober 1979 bis 30. September 1980 29 Arbeitstage. Um 580,-- DM durfte die Beklagte daher die Weihnachtsgratifikation kürzen.
1. Der Senat hat in dem bereits mehrfach erwähnten Urteil vom 19. Mai 1982 (BAG 39, 67, 75 = AP Nr. 12 zu § 611 BGB Anwesenheitsprämie, zu II 4 e der Gründe) diese Frage ausdrücklich offengelassen. Sie muß jetzt in dem dargestellten Sinne entschieden werden.
a) Der Senat hat in erster Linie bei der Beurteilung krankheitsbedingter Fehlzeiten auf den Zweck der gesetzlichen Regelungen über die Lohn- und Gehaltsfortzahlung im Krankheitsfalle abgestellt (aaO, zu II 4 a der Gründe). Zweck der gesetzlichen Regelungen ist es, den erkrankten Arbeitnehmer für die Dauer von sechs Wochen wirtschaftlich so zu stellen wie den gesunden Arbeitnehmer, der im fraglichen Zeitraum tatsächlich gearbeitet hat. Die gesetzliche Regelung läßt mithin deutlich erkennen, in welchem zeitlichen Umfang der Arbeitgeber zur wirtschaftlichen Sicherung seines Arbeitnehmers im Krankheitsfalle beitragen muß. Seine Verpflichtung ist zeitlich begrenzt. Zwingend ist diese wirtschaftliche Sicherung nur für die Dauer von sechs Wochen je Verhinderungsfall vorgeschrieben (wobei noch Sonderregelungen in Fällen der Fortsetzungs- oder Wiederholungserkrankungen eingreifen). Braucht der Arbeitgeber daher bei einer längeren krankheitsbedingten Verhinderung des Arbeitnehmers keinen Lohn mehr zu zahlen, kann er auch nicht zur Berücksichtigung dieser Zeiten bei der Berechnung der Anwesenheitsprämie (hier Weihnachtsgratifikation in der Form einer Anwesenheitsprämie) verpflichtet werden. Soweit daher der Arbeitnehmer für die Zeit der Abwesenheit keinen Anspruch auf Lohn oder Gehalt hat oder soweit dieser Lohnanspruch wirksam abbedungen werden kann, können einschlägige Fehlzeiten bei einmaligen Sonderleistungen anspruchsmindernd berücksichtigt werden (so auch Fenn, Anm. zu BAG Urteil vom 13. Oktober 1982 - 5 AZR 370/80 - EzA BGB § 611 Gratifikation, Prämie, zu 2; Buchner, Festschrift für Hilger/Stumpf, S. 67, 73 und 75).
b) Der Senat hat weiter darauf abgestellt, daß von Anwesenheitsprämien der hier vorliegenden Art ein unzulässiger Anreiz ausgehe (aaO, zu II 4 b der Gründe). Dem wirklich kranken Arbeitnehmer wird dadurch, daß ihm eine Anwesenheitsprämie in Aussicht gestellt wird, nahegelegt, auf seine Krankheit keine Rücksicht zu nehmen, sondern zu arbeiten, um finanzielle Einbußen zu vermeiden.
Einen solchen Anreiz können auch Anwesenheitsprämien ausüben, die nur die Fehlzeiten berücksichtigen, für die der Arbeitnehmer keinen Anspruch auf Lohn- oder Gehaltsfortzahlung hat. Denn auch am Ende einer längeren Erkrankung kann der Arbeitnehmer vor der Frage stehen, ob er seine Krankheit noch weiter ausheilen lassen will oder ob er, um finanzielle Einbußen zu vermeiden, vorzeitig seine Arbeit wieder aufnehmen soll. Doch dürften diese Fallgestaltungen wesentlich seltener sein als die Situationen, in denen der jeweils nur kurzfristig erkrankte Arbeitnehmer steht. Weiter darf der Senat darauf vertrauen, daß gerade die langfristig und damit schwer erkrankten Arbeitnehmer besonders verantwortungsbewußt handeln, wenn es um ihre Gesundheit geht. Schließlich - und das ist für die Entscheidung in diesem Rechtsstreit ausschlaggebend - kann sich der Senat nicht über die gesetzliche Regelung hinwegsetzen. Zwingend wird dem Arbeitgeber nur die wirtschaftliche Sicherung des Arbeitnehmers für die Dauer von sechs Wochen vorgeschrieben.
c) Es kommt hinzu, daß solche krankheitsbedingten Fehlzeiten, für die kein Anspruch auf Lohn- oder Gehaltsfortzahlung besteht, auch nach tariflichen Regelungen anspruchsmindernd berücksichtigt werden dürfen (vgl. etwa den Tarifvertrag, der dem Urteil des Senats vom 13. Oktober 1982 - 5 AZR 370/80 - AP Nr. 114 zu § 611 BGB Gratifikation, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts bestimmt, zugrunde lag). Nach Auffassung der beteiligten Berufskreise sind solche Abreden unbedenklich.
d) Das Berufungsgericht hat deshalb mit Recht darauf abgestellt, daß § 63 Abs. 1 Satz 1 HGB keine über sechs Wochen hinausgehende Sicherung im Krankheitsfalle vorschreibt.
2. Was die Revision der Klägerin gegen diesen Teil der Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils vorbringt, überzeugt nicht.
a) Die Bedingungen, unter denen die Klägerin einen Anspruch auf Weihnachtsgratifikation erwerben konnte, waren entgegen der Auffassung der Klägerin klar. Die Klägerin hätte das Berechnungsschema jederzeit bei der Personalleitung einsehen können. Damit wären auch etwaige Zweifel darüber, welches Berechnungsschema in ihrem Fall anwendbar war, behoben worden.
b) Gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz hat die Beklagte nicht verstoßen. Sie hat, was krankheitsbedingte Fehltage betrifft, alle an der Kasse beschäftigten Arbeitnehmer gleichbehandelt. In den hier dargestellten rechtlichen Grenzen durfte die Beklagte bei der Bemessung der Weihnachtsgratifikation darauf abstellen, in welchem Umfang Arbeitnehmer tatsächlich zum Betriebserfolg beigetragen haben. Im übrigen unterscheidet die Klägerin bei ihrer Argumentation nicht zwischen solchen Fehlzeiten, für die kraft zwingenden Rechts ein Anspruch auf Lohn- oder Gehaltsfortzahlung bestand und solchen Zeiträumen, für die sie keinen solchen Anspruch hatte.
3. Gegen die Höhe des Abzuges - hier 20,-- DM je Fehltag - bestehen keine Bedenken.
Damit ist auch die Revision der Klägerin unbegründet.
Dr. Thomas Dr. Heither Schneider
Schumacher Dr. Koffka
Fundstellen
BB 1984, 2132-2133 (Leitsatz 1 und Gründe) |
DB 1984, 2410-2411 (Leitsatz 1 und Gründe) |
AuB 1985, 362-362 (Gründe) |
ARST 1985, 2-3 (Leitsatz 1 und Gründe) |
BlStSozArbR 1985, 22-22 (Gründe) |
NZA 1985, 89-90 (Leitsatz 1 und Gründe) |
ZIP 1984, 1522 |
ZIP 1984, 1522-1523 (Leitsatz 1 und Gründe) |
AP § 611 BGB, Nr 14 |
AP BGB § 611, Nr. 14 Anwesenheitsprämie Meisel |
AR-Blattei, Anwesenheitsprämie Entsch 3 (Leitsatz 1 und Gründe) |
AR-Blattei, ES 90 Nr 3 (Leitsatz 1 und Gründe) |
EzA § 611 BGB, Gratifikation, Prämie Nr 75 (Leitsatz 1 und Gründe) |
ZfA 1985, 590-590 (Gründe) |