Entscheidungsstichwort (Thema)
Auflösungsantrag. wahrheitswidriger Prozessvortrag
Leitsatz (amtlich)
Der Arbeitgeber kann sich zur Begründung eines Auflösungsantrags nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG auf Gründe berufen, auf die er zuvor – erfolglos – die Kündigung gestützt hat. Allerdings muss er im Einzelnen vortragen, weshalb die unzureichenden Kündigungsgründe einer den Betriebszwecken dienlichen weiteren Zusammenarbeit entgegenstehen sollen.
Orientierungssatz
1. Der Arbeitgeber kann sich zur Begründung eines Auflösungsantrags nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG auf Gründe berufen, die er zuvor – erfolglos – zur Rechtfertigung der Kündigung herangezogen hat. Sein darauf bezogenes Vorbringen muss aber so beschaffen sein, dass sich das Gericht, wollte es die Auflösung des Arbeitsverhältnisses hierauf stützen, nicht in Widerspruch zu seiner Beurteilung des Kündigungsgrundes als unzureichend setzen müsste (Rn. 19).
2. Ein solcher Widerspruch liegt nicht vor, wenn das Gericht einerseits die Kündigung für nicht gerechtfertigt erachtet, weil nach den bei Zugang der Kündigung erkennbaren Umständen nicht ausgeschlossen gewesen sei, dass eine Abmahnung ein Verhaltensänderung herbeiführen werde, und es andererseits seine Entscheidung, das Arbeitsverhältnis aufzulösen, damit begründet, es verbleibe bei Schluss der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz die durch objektive Tatsachen begründete Gefahr, der Arbeitnehmer könne ein pflichtwidriges Verhalten trotz Abmahnung wiederholen (Rn. 21).
3. Bewusst wahrheitswidrige Erklärungen des Arbeitnehmers in einem Rechtsstreit mit seinem Arbeitgeber können die Auflösung des Arbeitsverhältnisses nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG rechtfertigen. Das gilt auch dann, wenn der unzutreffende Prozessvortrag letztlich für das Gericht nicht entscheidungserheblich ist (Rn. 25 f.).
4. Bei der Bemessung einer Abfindung gemäß § 9 Abs. 1 Satz 2, § 10 KSchG ist zu berücksichtigen, ob der Arbeitnehmer den Auflösungsgrund schuldhaft – zB durch bewusst wahrheitswidrige Behauptungen im Kündigungsschutzprozess – gesetzt hat (Rn. 38).
Normenkette
KSchG § 9 Abs. 1 S. 2, § 10; GG Art. 5 Abs. 1, Art. 103 Abs. 1; AGG § 12 Abs. 3; ZPO § 286 Abs. 1
Verfahrensgang
LAG Hamm (Urteil vom 18.01.2017; Aktenzeichen 2 Sa 879/16) |
ArbG Hagen (Westfalen) (Urteil vom 14.06.2016; Aktenzeichen 5 Ca 2341/15) |
Tenor
1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 18. Januar 2017 – 2 Sa 879/16 – aufgehoben, soweit es den Auflösungsantrag der Beklagten abgewiesen hat.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Revisionsverfahrens – an eine andere Kammer des Landesarbeitsgerichts zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Parteien streiten noch über die gerichtliche Auflösung ihres Arbeitsverhältnisses.
Der Kläger war bei der Beklagten, die Industriebatterien herstellt, zuletzt in der Batterieformation eingesetzt. Dort werden Batteriezellen mit konzentrierter heißer Schwefelsäure befüllt und mit Gleichstrom von bis zu 350 A aufgeladen. Dabei bestehen erhebliche Brand- und Explosionsgefahren. Die Ladevorgänge werden lückenlos am PC überwacht und die aufzuladenden Module ständig auf Leckagen kontrolliert. Nach dem – streitigen – Vortrag der Beklagten sind die Mitarbeiter, die jeweils zu zweit in der Nachtschicht tätig sind, angewiesen, Pausen ausschließlich versetzt zu nehmen. In der gesamten Produktion gilt ein absolutes Rauchverbot.
Der Kläger und ein Kollege sollen sich nach den Beobachtungen des externen Wachdienstes während mehrerer Nachtschichten im Oktober 2015 gleichzeitig schlafen gelegt haben. Am 28. Oktober 2015 verständigten die Mitarbeiter des Wachdienstes den Produktionsleiter der Beklagten. Als dieser das Überwachungsbüro betrat, war dort das Licht ausgeschaltet. Der Kläger saß vor einem Bildschirm, der zur Visualisierung des Formationsprozesses dient. Er trug Kopfhörer (Beklagte) bzw. Ohrstöpsel (Kläger), über die er Musik hörte, und gab an, „ein Problem” zu lösen. Vom Produktionsleiter darauf angesprochen, dass es auffällig nach Zigarettenrauch rieche, erklärte der Kläger, ein etwaig schlechter Geruch stamme vom Klimagerät.
Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis der Parteien unter Berufung auf Verletzungen der Überwachungspflicht und einen Verstoß gegen das betriebliche Rauchverbot mit Schreiben vom 6. November 2015 außerordentlich fristlos sowie mit Schreiben vom 13. November 2015 hilfsweise ordentlich zum 30. Juni 2016.
Das Landesarbeitsgericht hat den dagegen gerichteten Kündigungsschutzanträgen rechtskräftig entsprochen. Nach seiner Ansicht war die ordentliche Kündigung weder als Tatnoch als Verdachtskündigung sozial gerechtfertigt. Die punktuellen Beobachtungen des Wachdienstes ließen nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit darauf schließen, der Kläger habe gleichzeitig mit seinem Kollegen in erheblichem Umfang außerhalb der in ihrer Lage nicht feststehenden Pausen geschlafen. Vielmehr könne ihm und seinem Kollegen nur angelastet werden, die Pausen nicht versetzt genommen und während eines möglichen Pausenschlafs die Produktion sich selbst überlassen zu haben. Auch habe der Kläger allenfalls einmal gegen das Rauchverbot verstoßen, ohne dass eine konkrete Brand- oder Explosionsgefahr bestanden habe. Da er nicht mit Vorsatz hinsichtlich möglicher Folgen eines Pflichtverstoßes gehandelt habe, sei insgesamt eine Abmahnung ausreichend gewesen.
Die Beklagte hat erstmals im Berufungsverfahren einen Auflösungsantrag angekündigt. Zu dessen Begründung hat sie zum einen angeführt, ausweislich der gleichzeitigen Pausennahmen gehe vom Kläger eine nicht hinnehmbare Gefahr für das Betriebsgebäude und die Menschen in dessen Umgebung aus. Zum anderen habe der Kläger versucht, durch bewusst falschen Tatsachenvortrag den Ausgang des Kündigungsrechtsstreits zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Nachdem er am 28. Oktober 2015 gegenüber dem Produktionsleiter lediglich unbestimmt bekundet habe, „ein Problem” zu lösen, habe er diese „Schutzbehauptung” im Kammertermin erster Instanz dahin konkretisiert, einen Alarm bezüglich einer Säurekonzentration abgestellt zu haben. Auf den Vorhalt, dass der Wachschutz keinen Alarm wahrgenommen habe, sei er auf die Behauptung ausgewichen, diesen ca. eine halbe Stunde zuvor ausgeschaltet zu haben. Dabei sei er auch zweitinstanzlich geblieben, habe nun aber angegeben, es habe sich um einen „Voralarm” gehandelt. Dieser Prozessvortrag sei nachweislich unwahr. Der Kläger könne einen Alarm nicht schon eine halbe Stunde vor Eintreffen des Wachdienstes ausgestellt haben, weil er die von ihm bestückten Module erst weniger als 30 Minuten vorher eingeschaltet habe. Einen „Voralarm” gebe es nicht. Im Übrigen habe der Produktionsleiter noch in der Nacht festgestellt, dass im System keine Alarmmeldung hinterlegt gewesen sei. Während der Kläger seinerzeit bestätigt habe, dass „die Zigaretten”, die vor ihm auf dem Schreibtisch gelegen hätten, „seine seien”, habe er – insoweit unstreitig – im Rechtsstreit eine blaue, mit Sternen versehene Plastikdose in Form einer Zigarettenschachtel präsentiert und behauptet, allein diese, von seiner Ehefrau ausschließlich mit Tabletten und Bonbons bestückte Dose, habe er am 28. Oktober 2015 dabei gehabt. Auch diese Einlassung sei gelogen.
Die Beklagte hat – soweit noch von Interesse – beantragt,
das Arbeitsverhältnis der Parteien gegen Zahlung einer Abfindung, die 30.000,00 Euro nicht überschreiten sollte, zum 30. Juni 2016 aufzulösen.
Der Kläger hat beantragt, den Auflösungsantrag abzuweisen.
Er hat behauptet, es sei nicht untersagt und könne vielmehr sogar sinnvoll sein, gemeinsam Pause zu machen. Während der Arbeitsunterbrechungen habe er nicht geschlafen, sondern es sich lediglich gemütlich gemacht.
Das Landesarbeitsgericht hat den Auflösungsantrag abgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte diesen Antrag weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat Erfolg. Mit der gegebenen Begründung durfte das Landesarbeitsgericht den Auflösungsantrag nicht abweisen. Ob der Antrag begründet ist, steht noch nicht fest. Dies führt zur Aufhebung des Berufungsurteils (§ 562 Abs. 1 ZPO) und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht (§ 563 Abs. 1 ZPO).
I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, es lägen keine Gründe vor, die eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG zu rechtfertigen vermöchten. Zwar könne ein Auflösungsantrag auf eine bewusst wahrheitswidrige Tatsachenbehauptung gestützt werden. Doch sei zu berücksichtigen, ob diese den Kündigungssachverhalt betreffe oder sich auf die Person des Arbeitgebers, eines Vorgesetzten oder eines Kollegen beziehe und den Tatbestand der üblen Nachrede erfülle. Bei der Behauptung des Klägers, auf dem Schreibtisch habe eine allein mit Tabletten und Bonbons gefüllte Plastikdose in Form einer Zigarettenschachtel gelegen, handele es sich um Entlastungsvorbringen bezogen auf den Kündigungsvorwurf, er habe gegen das Rauchverbot verstoßen. Dieser Vorwurf habe die ordentliche Kündigung nicht gerechtfertigt. Deshalb könne der Auflösungsantrag „darauf” nur bei Vorliegen zusätzlicher Umstände gestützt werden. Solche habe die Beklagte nicht dargelegt. Auch bei der Behauptung des Klägers, er habe am 28. Oktober 2015 eine Störung kontrolliert, als der Produktionsleiter eingetroffen sei, handele es sich um Entlastungsvorbringen in Bezug auf einen Kündigungsvorwurf. Es komme hinzu, dass der Kläger diese Behauptung schon am „Tattag” aufgestellt habe und sie, selbst wenn sie unwahr sein sollte, angesichts der seinerzeitigen Überraschung des Klägers jedenfalls „nicht völlig unverständlich, fernliegend und so außergewöhnlich” gewesen sei, dass ihre „Unhaltbarkeit und Unwahrheit offensichtlich auf der Hand” gelegen habe. Es sei nicht ersichtlich, weshalb ein Vorbringen, das sich im Wesentlichen darauf beschränkt habe, die behauptete Pflichtverletzung unter Berufung auf ein mögliches und jedenfalls nicht ungewöhnliches Verhalten des am Bildschirm sitzenden Klägers zu bestreiten, eine weitere gedeihliche Zusammenarbeit der Parteien nicht erwarten lasse. Der Auflösungsantrag könne schließlich nicht mit Erfolg darauf gestützt werden, der Beklagten sei eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses wegen der mit einer gleichzeitigen Pausennahme verbundenen Gefahren unzumutbar. Da auch dieser Sachverhalt nicht als Kündigungsgrund ausgereicht habe, könne er die gerichtliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses ebenfalls nicht ohne zusätzliche Umstände rechtfertigen.
II. Diese Ausführungen halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.
1. Bei der Beurteilung des in § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG normierten Auflösungsgrundes geht es um die Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs. Die Wertung, ob es im Einzelfall gerechtfertigt ist, das Arbeitsverhältnis auf Antrag des Arbeitgebers aufzulösen, obliegt in erster Linie dem Tatsachengericht. Das Revisionsgericht kann nur nachprüfen, ob das Berufungsgericht die Voraussetzungen für den Auflösungsantrag verkannt und bei der Prüfung der vorgetragenen Auflösungsgründe alle wesentlichen Umstände vollständig und widerspruchsfrei berücksichtigt hat (vgl. BAG 2. Juni 2005 – 2 AZR 234/04 – Rn. 21).
2. Diesem eingeschränkten Prüfungsmaßstab genügt das Urteil des Landesarbeitsgerichts nicht.
a) Als Auflösungsgründe für den Arbeitgeber iSv. § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG kommen Umstände in Betracht, die das persönliche Verhältnis zum Arbeitnehmer, eine Wertung seiner Persönlichkeit, Leistung oder Eignung für die ihm übertragenen Aufgaben und sein Verhältnis zu den übrigen Mitarbeitern betreffen. Die Gründe, die eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zwischen den Vertragspartnern nicht erwarten lassen, müssen nicht im Verhalten, insbesondere nicht im schuldhaften Verhalten des Arbeitnehmers liegen. Entscheidend ist, ob die objektive Lage bei Schluss der mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz die Besorgnis rechtfertigt, eine weitere gedeihliche Zusammenarbeit sei gefährdet (BAG 19. November 2015 – 2 AZR 217/15 – Rn. 60).
b) Als Auflösungsgrund geeignet sind Beleidigungen, sonstige ehrverletzende Äußerungen oder persönliche Angriffe des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber, Vorgesetzte oder Kollegen. Überdies können bewusst wahrheitswidrig aufgestellte Tatsachenbehauptungen – insbesondere wenn sie den Tatbestand der üblen Nachrede erfüllen – die Rechte eines Arbeitgebers in gravierender Weise verletzen und eine gedeihliche künftige Zusammenarbeit infrage stellen. Der Arbeitnehmer kann sich dafür nicht auf sein Recht zur freien Meinungsäußerung (Art. 5 Abs. 1 GG) berufen. Falsche Tatsachenbehauptungen sind nicht vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG umfasst (BAG 29. August 2013 – 2 AZR 419/12 – Rn. 35).
c) Auch das Verhalten des Arbeitnehmers im Kündigungsschutzprozess kann die Auflösung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Parteien zur Verteidigung ihrer Rechte schon im Hinblick auf das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) alles vortragen dürfen, was als rechts-, einwendungs- oder einredebegründender Umstand prozesserheblich sein kann. Anerkannt ist insbesondere, dass ein Verfahrensbeteiligter starke, eindringliche Ausdrücke und sinnfällige Schlagworte benutzen darf, um seine Rechtsposition zu unterstreichen, selbst wenn er seinen Standpunkt vorsichtiger hätte formulieren können. Das gilt freilich nur in den Grenzen der Wahrheitspflicht. Zudem dürfen die Parteien nicht leichtfertig Tatsachenbehauptungen aufstellen, deren Unhaltbarkeit ohne Weiteres auf der Hand liegt (BAG 24. März 2011 – 2 AZR 674/09 – Rn. 22; 23. Februar 2010 – 2 AZR 554/08 – Rn. 32).
d) Der Geeignetheit als Auflösungsgrund steht es nicht von vornherein entgegen, dass das Verhalten des Arbeitnehmers die Kündigung selbst nicht rechtfertigen konnte. Der Arbeitgeber kann sich zur Begründung seines Auflösungsantrags auch auf Gründe berufen, auf die er zuvor – erfolglos – die ausgesprochene Kündigung gestützt hat. In diesen Fällen muss er indes im Einzelnen vortragen, weshalb die unzureichenden Kündigungsgründe einer den Betriebszwecken dienlichen weiteren Zusammenarbeit entgegenstehen sollen (BAG 19. November 2015 – 2 AZR 217/15 – Rn. 60; 2. Juni 2005 – 2 AZR 234/04 – zu II 3 b der Gründe; APS/Biebl 5. Aufl. KSchG § 9 Rn. 52; ErfK/Kiel 18. Aufl. § 9 KSchG Rn. 23). Der Vortrag des Arbeitgebers muss so beschaffen sein, dass sich das Gericht, wollte es die Auflösung des Arbeitsverhältnisses auf dieses Vorbringen stützen, nicht in Widerspruch zu seiner Beurteilung des Kündigungsgrundes als unzureichend setzen müsste (BVerfG 15. Dezember 2008 – 1 BvR 347/08 – Rn. 14, BVerfGK 14, 507; 22. Oktober 2004 – 1 BvR 1944/01 – zu II 3 b cc der Gründe).
e) Diese Grundsätze hat das Landesarbeitsgericht nicht genügend beachtet. Überdies hat es verkannt, auf welche Gründe die Beklagte ihren Auflösungsantrag stützt.
aa) Die Beklagte hat den Antrag nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG auf einen Sachverhalt gestützt, der die ordentliche Kündigung nicht zu rechtfertigen vermochte, soweit sie angeführt hat, der Kläger habe mehrfach gleichzeitig mit seinem Kollegen Pause gemacht. Davon ist das Landesarbeitsgericht ebenso zutreffend ausgegangen wie davon, dass die Beklagte sich darauf beruft, von dem Kläger gehe ausweislich der gemeinsamen Pausennahmen eine Gefahr aus, die es ihr unzumutbar mache, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen. Die weiteren Ausführungen des Berufungsgerichts lassen indes nicht erkennen, weshalb es dieses Vorbringen der Beklagten für unzureichend erachtet hat. Grundsätzlich kann die in einer zur Begründung der unwirksamen Kündigung herangezogenen Pflichtverletzung zutage getretene „Gefährlichkeit” des Arbeitnehmers (zusammen mit dem darin liegenden Schadenspotenzial) einer gedeihlichen Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses entgegenstehen. Das bedeutet keinen Widerspruch zur Beurteilung des Kündigungsgrundes als unzureichend, wenn das Tatsachengericht gemeint hat, eine Abmahnung sei nicht entbehrlich gewesen. Nach der ständigen, vom Landesarbeitsgericht der angefochtenen Entscheidung zugrunde gelegten Senatsrechtsprechung stellt sich eine verhaltensbedingte Kündigung, die auf eine Pflichtverletzung gestützt wird, die das Gericht nicht als besonders schwerwiegend erachtet, und die nicht am Maßstab von § 12 Abs. 3 AGG zu messen ist, bereits dann als unverhältnismäßig dar, wenn nach den bei ihrem Zugang erkennbaren Umständen nicht ausgeschlossen werden kann, eine Abmahnung werde eine Verhaltensänderung herbeiführen (vgl. BAG 29. Juni 2017 – 2 AZR 302/16 – Rn. 28 f., BAGE 159, 267). Demgegenüber kommt es für die Beurteilung, ob ein Auflösungsgrund vorliegt, auf die Lage am Schluss der mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz an, und kann es genügen, wenn dann eine durch objektive Tatsachen begründete Gefahr feststellbar ist, der Arbeitnehmer könne ein pflichtwidriges Verhalten (mit erheblichem Schadenspotenzial) trotz Abmahnung wiederholen. Damit unterscheiden sich sowohl der Beurteilungszeitpunkt als auch der Beurteilungsmaßstab. Der angefochtenen Entscheidung lässt sich nicht entnehmen, das Landesarbeitsgericht habe – zumal bezogen auf den Schluss der mündlichen Verhandlung im ersten Berufungsverfahren – angenommen, der Erfolg einer Abmahnung sei nicht nur möglich, sondern sicher gewesen, oder es bestünden zumindest keine objektiven Anhaltspunkte dafür, der Kläger könne seine Überwachungspflichten erneut verletzen. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung auch nicht darauf gestützt, es sei der Beklagten zuzumuten, den Kläger abzumahnen und im gleichwohl eintretenden Wiederholungsfall erneut zu kündigen.
bb) Die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts zu den weiteren von der Beklagten geltend gemachten Auflösungsgründen sind in mehrfacher Hinsicht rechtsfehlerhaft.
(1) Es nimmt zunächst rechtsirrig an, auch insofern bestehe eine Identität zwischen den – unzureichenden – Kündigungsgründen und den Auflösungsgründen. Die Beklagte hatte dem Kläger mit der Kündigung vorgeworfen, seine Überwachungspflichten verletzt und gegen das Rauchverbot verstoßen zu haben. Den Auflösungsantrag stützt sie auf die Behauptung, der Kläger habe im vorliegenden Rechtsstreit bewusst unwahr zu diesen Kündigungssachverhalten vorgetragen. Das betrifft einen anderen Pflichtenkreis des Klägers und andere Rechtsgüter der Beklagten. Würden die Auflösungsgründe herangezogen, um eine weitere Kündigung zu begründen, ginge es nicht um die Verletzung von Überwachungspflichten oder den Verstoß gegen ein Rauchverbot, sondern – ausschließlich – um den Vorwurf des vorsätzlich falschen Prozessvortrags.
(2) Das Landesarbeitsgericht ist bei der Beurteilung, ob wahrheitswidriger Prozessvortrag die Auflösung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigen kann, von unzutreffenden Rechtssätzen ausgegangen.
(a) Entgegen seiner Auffassung ist bewusst falscher Tatsachenvortrag in Bezug auf die vom Arbeitgeber angeführten Kündigungsgründe nicht ungeeignet, einen Auflösungsgrund zu bilden, oder doch stets milder zu beurteilen als vorsätzlich unwahre Tatsachenbehauptungen in Bezug auf die Person des Arbeitgebers, eines Vorgesetzten oder eines Arbeitskollegen, die den Tatbestand der üblen Nachrede erfüllen. Bewusst wahrheitswidriger Prozessvortrag eines Arbeitnehmers in einem Kündigungsrechtsstreit, den dieser hält, weil er befürchtet, mit wahrheitsgemäßen Angaben den Prozess zu verlieren, sind gleichermaßen geeignet, eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses zu rechtfertigen. Dabei kommt es nicht entscheidend auf die strafrechtliche Einordnung an; ein Arbeitnehmer, der bewusst falsch vorträgt, um sich einen Vorteil im Rechtsstreit mit seinem Arbeitgeber zu verschaffen, verletzt – ungeachtet der strafrechtlichen Relevanz seines Handelns – in erheblicher Weise seine nach § 241 Abs. 2 BGB auch im gekündigten Arbeitsverhältnis bestehende Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen des Arbeitgebers (zu einer außerordentlichen Kündigung BAG 23. Oktober 2014 – 2 AZR 644/13 – Rn. 16, BAGE 149, 367).
(b) Dabei spielt es keine Rolle, ob der wahrheitswidrige Vortrag letztlich für das Gericht entscheidungserheblich ist. Ausreichend ist, dass er es hätte sein können. Selbst der „untaugliche Versuch” eines „Prozessbetrugs” kann das Vertrauen des Arbeitgebers in die Redlichkeit des Arbeitnehmers irreparabel zerstören. Keinesfalls mindert es den Unrechtsgehalt von bewusst falschem Vorbringen zu einem Kündigungsgrund, wenn seine Unhaltbarkeit für den Arbeitgeber und das Gericht nicht offensichtlich ist. Die entsprechende Annahme des Landesarbeitsgerichts mutet regelrecht absurd an. Damit würde – worauf die Revision zu Recht hinweist – eine gute Lüge, deren Unwahrheit sich dem/den Belogenen nicht unmittelbar erschließt, privilegiert. Dafür, ob die Unrichtigkeit des Tatsachenvortrags erkennbar ist, kommt es zunächst auf den „Lügenden” an. Dieser verdient keine Privilegierung, wenn er um die Unwahrheit einer Behauptung weiß, die dazu geeignet und bestimmt ist, seine Chancen in einem Kündigungsschutzprozess zu verbessern.
(c) Bewusst wahrheitswidriger Prozessvortrag in Bezug auf einen Kündigungssachverhalt kann auch dann einen Auflösungsgrund bilden, wenn der Arbeitnehmer mit diesem eine Schutzbehauptung aufrechterhält, die er schon vor Ausspruch der Kündigung aufgestellt hat. Es bedarf keiner Entscheidung, wie eine spontane Lüge zu bewerten ist, mit der ein Arbeitnehmer versucht, die drohende Kündigung abzuwenden. Jedenfalls entbindet ihn ein solcher Versuch, nachdem er fehlgeschlagen ist, nicht von der ihn im Kündigungsrechtsstreit gemäß § 241 Abs. 2 BGB, § 138 Abs. 1 ZPO obliegenden Pflicht, wahrheitsgemäß vorzutragen.
III. Der Senat kann nicht selbst in der Sache entscheiden. Es steht noch nicht fest, ob der Auflösungsantrag der Beklagten Erfolg hat. Deshalb ist die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
1. Das Landesarbeitsgericht wird im fortgesetzten Berufungsverfahren dem – schwerwiegenden – Vorwurf des bewusst wahrheitswidrigen Tatsachenvortrags nachzugehen haben.
a) Zunächst wird es – ggf. durch eine Beweisaufnahme – feststellen müssen, ob der Kläger sich im Rechtsstreit wahrheitswidrig dahin eingelassen hat, er habe beim Eintreffen des Produktionsleiters am 28. Oktober 2015 aufgrund eines „Voralarms” eine konkrete Säurekonzentration kontrolliert, und ob seine Behauptung unrichtig war, vor ihm habe keine Zigarettenschachtel, sondern eine Plastikdose in Form einer solchen gelegen. Die Beweislast sowohl für die Unwahrheit dieser Behauptungen als ggf. auch für das entsprechende Bewusstsein beim Kläger träfe die Beklagte. Indes hätte das Landesarbeitsgericht sich nach § 286 Abs. 1 ZPO mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit zu begnügen, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig ausschließen zu müssen (BAG 16. Juli 2015 – 2 AZR 85/15 – Rn. 73). Wäre davon auszugehen, der Kläger habe wahrheitswidrig vorgetragen, spräche zudem nichts dafür, die Unwahrheit seines Vorbringens sei ihm nicht bewusst gewesen.
b) Sollte es davon überzeugt sein, der Kläger habe in einem oder beiden Punkten bewusst wahrheitswidrig vorgetragen, wird das Landesarbeitsgericht in einem zweiten Schritt beurteilen müssen, ob angesichts dessen noch eine den Betriebszwecken dienliche Zusammenarbeit möglich ist (BAG 7. März 2002 – 2 AZR 158/01 – zu B II 2 c der Gründe). Das dürfte zu verneinen sein.
aa) Es könnte den Kläger nicht entlasten, dass seine möglicherweise falschen Behauptungen für die Entscheidungen beider Vorinstanzen über die Kündigungsschutzanträge nicht erheblich waren. Sie wären – ungeachtet der Frage, ob die „Untauglichkeit” eines Versuchs mildernd wirken könnte – doch geeignet und ggf. dazu bestimmt gewesen, den Ausgang des Kündigungsrechtsstreits zu seinen Gunsten zu beeinflussen.
bb) Sollte der Kläger bewusst wahrheitswidrig vorgetragen haben, könnte er sich – was das Landesarbeitsgericht im angefochtenen Urteil offengelassen hat – nicht darauf berufen, sein Vorgehen sei unter dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung berechtigter Interessen gerechtfertigt (vgl. BAG 24. März 2011 – 2 AZR 674/09 – Rn. 30).
cc) Zwar hatte der Kläger schon beim Eintreffen des Produktionsleiters am 28. Oktober 2015 pauschal behauptet, er habe „ein Problem” zu beheben. Auch hält die Beklagte ihm selbst zugute, dabei habe es sich um eine spontane Äußerung in einer „Überrumpelungssituation” gehandelt. Jedoch vermöchte dies nicht den Falschvortrag im Prozess zu rechtfertigen. Das gilt umso mehr, als der Kläger die Schutzbehauptung im Rechtsstreit nicht „bloß” aufrechterhalten, sondern sie erheblich ausgeschmückt und an die Vorhalte der Beklagten angepasst hätte.
dd) Die Behauptung, am 28. Oktober 2015 habe vor ihm auf dem Schreibtisch im Überwachungsbüro nicht eine Zigarettenschachtel, sondern eine Plastikdose in Form einer solchen gelegen, hat der Kläger – soweit ersichtlich – erstmals im Rechtsstreit aufgestellt. Auch insofern hätte er – die Unwahrheit der Angabe unterstellt – mit beträchtlicher „krimineller Energie” eine ganze Lügengeschichte präsentiert.
2. Das Berufungsgericht wird ggf. prüfen müssen, ob eine weitere gedeihliche Zusammenarbeit der Parteien aufgrund einer vom Kläger ausgehenden Gefahr unmöglich erscheint. Bloße Mutmaßungen der Beklagten oder Dritter genügten insofern nicht. Vielmehr müsste die Beklagte zunächst objektive Tatsachen dafür vortragen, der Kläger könne trotz einschlägiger Abmahnung erneut seine Überwachungspflichten verletzen. Entsprechende Anhaltspunkte können sich aus dem Prozessverhalten des Arbeitnehmers ergeben. Allerdings muss dieses dazu den Schluss erlauben, der Arbeitnehmer sei mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage oder gewillt, sich gemäß den Weisungen des Arbeitgebers zu verhalten. Das Landesarbeitsgericht wird zu würdigen haben, ob solches allein daraus gefolgert werden kann, dass der Kläger bis zuletzt Existenz und Sinnhaftigkeit der Weisung in Abrede gestellt hat, Pausen während der Nachtschicht ausschließlich versetzt zu nehmen. Überdies wird es zu beachten haben, dass auch diejenigen Mitarbeiter „sensibilisiert” sein könnten, die künftig mit dem Kläger in der Nachtschicht eingesetzt würden. Das macht es wenig(er) wahrscheinlich, dass er erneut einen „Mittäter” fände oder sich doch traute, „hinter dem Rücken” des betreffenden Kollegen zeitgleich Pause zu nehmen. Wäre eine objektiv begründete Gefahr anzunehmen, müsste in einem zweiten Schritt beurteilt werden, ob die Beklagte auf die Möglichkeit zu verweisen ist, im Wiederholungsfall eine weitere Kündigung auszusprechen. Dagegen könnte das Potenzial an Personen- und Sachschäden sprechen, das Verletzungen der Pflicht innewohnt, den Formationsprozess lückenlos zu überwachen.
3. Sollte das Landesarbeitsgericht – ggf. in einer Gesamtschau mehrerer für eine Auflösung geeigneter Sachverhalte – annehmen, das Arbeitsverhältnis der Parteien sei aufzulösen, wird es prüfen müssen, ob die ordentliche Kündigung allein aufgrund ihrer Sozialwidrigkeit unwirksam war (zu dieser Anforderung BAG 22. September 2016 – 2 AZR 700/15 – Rn. 34). Dabei ist von der Unwirksamkeit einer Kündigung wegen fehlerhafter Anhörung des Betriebsrats der Fall zu unterscheiden, dass „nur” bestimmte Kündigungsgründe mangels diesbezüglicher Beteiligung des Gremiums im Rechtsstreit nicht berücksichtigt werden können. Überdies betrifft diese Beschränkung des „Nachschiebens” von Kündigungsgründen nicht den Vortrag von Auflösungsgründen im Prozess (BAG 10. Oktober 2002 – 2 AZR 240/01 – zu B III 1 der Gründe, BAGE 103, 100).
4. Bei der Bemessung einer etwaig nach den Vorgaben von § 10 KSchG festzusetzenden Abfindung wird das Landesarbeitsgericht ua. zu berücksichtigen haben, dass die ordentliche Kündigung nach seiner Rechtsauffassung jedenfalls nicht grob sozialwidrig war und den Kläger, sollte die Kammer zu der Überzeugung gelangen, er habe im Rechtsstreit bewusst wahrheitswidrig vorgetragen, ein ganz erhebliches „Auflösungsverschulden” träfe. Dieses wäre ggf. abfindungsmindernd zu berücksichtigen (vgl. BAG 25. November 1982 – 2 AZR 21/81 – zu B I 3 der Gründe; 15. Februar 1973 – 2 AZR 16/72 – zu II 3 der Gründe, BAGE 25, 43).
IV. Der Senat hat von der Möglichkeit des § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gebrauch gemacht.
Unterschriften
Koch, Rachor, Niemann, Krüger, Alex
Fundstellen
Haufe-Index 11905071 |
BAGE 2019, 36 |
BB 2018, 1971 |
DB 2018, 2249 |