Entscheidungsstichwort (Thema)
13. Monatsgehalt. Günstigkeitsprinzip. Ordnungsprinzip;. individueller Günstigkeitsvergleich
Orientierungssatz
1. Das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG erfaßt auch vor Inkrafttreten eines Tarifvertrags abgeschlossene arbeitsvertragliche Vereinbarungen.
2. § 4 Abs. 3 TVG wird nicht durch das sog. „Ordnungsprinzip” verdrängt. Dieses ist vielmehr ausdrücklich in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts aufgegeben worden.
Normenkette
BGB § 611; TVG § 4 Abs. 3; Tarifvertrag für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des ESTA-Bildungswerkes e.V. vom 13. Mai 1998 § 38; Tarifvertrag über die Zahlung einer jährlichen Zuwendung vom 13. Mai 1998 § 2
Verfahrensgang
Tenor
1. Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 17. März 2000 – 10 Sa 1483/99 – wird zurückgewiesen.
2. Der Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über ein 13. Monatsgehalt.
Der Beklagte betreibt als eingetragener Verein Bildungsmaßnahmen. Die Klägerin ist seit dem 23. Januar 1990 bei ihm auf Grund eines schriftlichen Arbeitsvertrages vom 25. März 1993 als pädagogische Mitarbeiterin beschäftigt. In Ziffer 9 dieses Vertrages ist folgendes vereinbart:
„9. 13. Gehalt
Der Arbeitnehmer erhält ein 13. Gehalt im Dezember, das 100 % des Dezembergehaltes beträgt, sofern das Arbeitsverhältnis am 31.12. des laufenden Jahres besteht.
Ist das Arbeitsverhältnis erst im Laufe des Jahres begründet worden, so erhält der Arbeitnehmer für jeden Kalendertag der Beschäftigung 1/360 des Dezembergehaltes.
Wird das Arbeitsverhältnis vom Arbeitnehmer insoweit gekündigt, das Arbeitsverhältnis bis zum 31.03. des darauf folgenden Jahres zu beenden, ist das 13. Gehalt in voller Höhe zurückzuzahlen.”
Am 13. Mai 1998 wurde zwischen dem Beklagten und der Gewerkschaft ÖTV ua. ein Tarifvertrag für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des ESTA-Bildungswerkes e.V. (im folgenden: TV-ESTA-BW) und ein Tarifvertrag über die Zahlung einer jährlichen Zuwendung (im folgenden: Zuwendungs-TV) vereinbart. Beide Tarifverträge sind zum 1. Juni 1998 in Kraft getreten und sind auf das Arbeitsverhältnis anwendbar.
§ 38 TV-ESTA-BW lautet:
„§ 38
Überleitungs- und Besitzstandsregelung
(1) Hat ein AN am 31.12.1997 in einem befristeten oder unbefristeten Arbeitsverhältnis mit dem ESTA-Bildungswerk gestanden, und besteht dieses Arbeitsverhältnis am 01.01.1998 fort, so richtet sich die Überleitung dieses Arbeitsverhältnisses nach den am 01.01.1998 geltenden einzelvertraglich vereinbarten Arbeitsbedingungen. …”
Nach § 2 des Zuwendungs-TV beträgt die jährliche Zuwendung 93,78 % des nach der jeweiligen Entgeltordnung dem einzelnen Arbeitnehmer zustehenden, auf der Basis der regelmäßigen Arbeitszeit errechneten Monatstabellenentgeltes. Sie vermindert sich um 1/12 für jeden Kalendermonat, in dem kein Anspruch auf Zahlung von Arbeitsentgelt bestanden hat. Eine Rückzahlungspflicht ist nicht vorgesehen.
Für das Jahr 1998 zahlte der Beklagte an die Klägerin die Zuwendung nach § 2 Zuwendungs-TV.
Die Klägerin verlangt von dem Beklagten die Differenz zu einem vollen 13. Monatsgehalt, berechnet nach Ziffer 9 des Arbeitsvertrages auf der Grundlage von 100 % des Dezembergehaltes in Höhe von unstreitig 777,76 DM brutto.
Sie meint, der Anspruch nach Ziffer 9 des Arbeitsvertrags sei gemäß § 4 Abs. 3 TVG nicht durch den nachfolgenden ungünstigeren Zuwendungs-TV verdrängt worden. § 4 Abs. 3 TVG enthalte keine zeitliche Einschränkung und erfasse nach seinem Zweck auch Abmachungen, die vor Inkrafttreten eines nachfolgenden Tarifvertrags vereinbart worden seien. Das Prinzip des Vorrangs günstigerer vertraglicher Regelungen werde nicht durch das „Ordnungsprinzip” begrenzt. Das Bundesarbeitsgericht habe seine diesbezügliche Rechtsprechung zu Recht wieder aufgegeben, da dadurch der Schutz des einzelnen Arbeitnehmers vernachlässigt werde. Es müsse ein individueller Günstigkeitsvergleich angestellt werden. Es handele es sich bei der vertraglichen Anspruchsgrundlage nicht um eine vertragliche Einheitsregelung mit kollektiven Voraussetzungen und einem Verteilungsplan.
Die Klägerin hat zuletzt beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an sie 777,76 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich hieraus ergebenden Nettobetrag ab dem 23. Februar 1999 zu zahlen.
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Er steht auf dem Standpunkt, daß auf Grund der Tarifbindung der Parteien allein der Zuwendungs-TV als höherrangige Norm zur Anwendung komme. § 4 Abs. 3 TVG erfasse die vor Inkrafttreten des Tarifvertrags vereinbarte Vertragsregelung nicht. Jedenfalls sei das Günstigkeitsprinzip durch das Ordnungsprinzip verdrängt. Nur dieses könne den betrieblichen Bedürfnissen gerecht werden. Die vertragliche Zuwendungsregelung sei in Form von Standardverträgen in der EDV des Beklagten erfaßt und stelle eine Einheitsregelung für eine größere Gruppe von Einzelarbeitsverhältnissen unabhängig von individuellen Sondervereinbarungen dar. Von der geringfügigen Reduzierung des 13. Monatsgehalts seien nur wenige Mitarbeiter betroffen. Die Mehrheit werde durch die Einführung der tariflichen Regelungen begünstigt. Nur so sei ein finanzierbares, einheitliches und ausgeglichenes Gefüge zu schaffen gewesen. Selbst bei Geltung des Günstigkeitsprinzips müsse ein kollektiver, kein individueller Vergleich angestellt werden.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Beklagte seinen Klageabweisungsantrag weiter, während die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Der Klägerin steht der geltend gemachte Anspruch gemäß § 611 BGB in Verbindung mit Ziffer 9 des Arbeitsvertrags zu.
I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, Ziffer 9 des Arbeitsvertrages sei weder durch § 38 TV-ESTA-BW noch durch den Zuwendungs-TV abgelöst worden. Die vertragliche Regelung sei für die Klägerin günstiger und habe nach § 4 Abs. 3 TVG Vorrang. Diese Vorschrift enthalte keine zeitliche Einschränkung. Eine günstigere Vereinbarung müsse daher nicht nach dem Inkrafttreten des Tarifvertrags abgeschlossen worden sein. Es sei lediglich ein individueller und kein kollektiver Günstigkeitsvergleich vorzunehmen. § 4 Abs. 3 TVG sei auch nicht durch das sog. Ordnungsprinzip beschränkt. Die hierzu ergangene Rechtsprechung sei vom Bundesarbeitsgericht zu Recht wieder aufgegeben worden.
II. Der Senat folgt dem Landesarbeitsgericht im Ergebnis und in der Begründung.
1. Die Klägerin hat einen Anspruch auf den der Höhe nach unstreitigen Differenzbetrag zwischen der gezahlten Zuwendung nach dem Zuwendungs-TV und dem vertraglich vereinbarten 13. Gehalt in Höhe eines vollen Dezembergehalts. Die Voraussetzungen des vertraglichen Anspruchs hat die Klägerin unstreitig erfüllt.
2. § 2 Zuwendungs-TV ersetzt bzw. verdrängt diesen vertraglichen Anspruch nicht. Gem. § 4 Abs. 3 TVG bleibt Ziffer 9 des Arbeitsvertrages als günstigere Regelung unberührt.
a) Die tarifvertragliche Regelung ist kraft der beiderseitigen Tarifbindung auf das Arbeitsverhältnis anwendbar. Trotz der gem. § 4 Abs. 1 TVG unmittelbaren und zwingenden Wirkung der Tarifnorm bleibt die arbeitsvertragliche Regelung erhalten, da sie nach einem individuellen Günstigkeitsvergleich die Klägerin besser stellt als die tarifvertragliche Regelung (§ 4 Abs. 3 TVG).
aa) Die beiden Vorschriften kollidieren, da sie trotz ihrer unterschiedlichen Bezeichnung entsprechend ihrer Zweckrichtung denselben Gegenstand regeln, nämlich eine jährliche, im Dezember des laufenden Jahres fällige und von vorangegangenen Arbeitsleistungen abhängige Sondervergütung.
bb) § 4 Abs. 3 TVG ist anwendbar, obwohl Ziffer 9 des Arbeitsvertrages vor Inkrafttreten des Zuwendungs-TV vereinbart wurde.
(1) Dies gilt zum einen deshalb, weil die Tarifvertragsparteien in § 38 Abs. 1 TV-ESTA-BW ausdrücklich geregelt haben, daß die Arbeitsverhältnisse so übergehen, wie die Arbeitsbedingungen am 1. Januar 1998 gemäß den geltenden einzelvertraglich vereinbarten Regelungen bestanden. Damit haben die Tarifvertragsparteien die Fortgeltung einzelvertraglicher Vereinbarungen zum selben Zeitpunkt in ihren Willen aufgenommen, zu dem sie den Zuwendungs-TV abgeschlossen haben.
(2) Zum anderen enthält § 4 Abs. 3 TVG keine zeitliche Einschränkung danach, daß „abweichende Abmachungen” erst nach Inkrafttreten des Tarifvertrags getroffen werden dürften, um die Wirkung des § 4 Abs. 1 TVG zu beseitigen. Ob eine Änderung der tarifvertraglichen Regelung zugunsten des Arbeitnehmers auf Grund einer abweichenden Abmachung besteht, ist allein durch den Vergleich der beiden Regelungen festzustellen und bestimmt sich nicht danach, wann die Abmachung getroffen wurde. Soweit aus dem Wortlaut geschlossen wird, der Gesetzgeber habe lediglich nach Tarifgeltung abgeschlossene abweichende Abmachungen erfassen wollen, wird dies nach allgemeiner Auffassung in Rechtsprechung und Lehre als zu eng angesehen. Nach dem arbeitsrechtlichen Schutzprinzip legen Tarifverträge nur Mindestarbeitsbedingungen als einseitig zwingendes Recht fest und schließen Verbesserungen nicht aus, gleichgültig, ob diese vor oder nach Inkrafttreten des Tarifvertrags vereinbart worden sind. Dies trägt auch der grundrechtlich gewährleisteten Vertragsfreiheit (Art. 2 GG) Rechnung.(BAG 16. September 1986 – GS 1/82 – BAGE 53, 42, 59; 3. März 1993 – 10 AZR 42/92 – AP BGB § 611 Gratifikation Nr. 151 = EzA BGB § 611 Gratifikation, Prämie Nr. 101; 4. April 2001 – 10 AZR 181/00 – nv.; Wiedemann/Wank TVG 6. Aufl. § 4 Rn. 421; Löwisch/Rieble Münchner Handbuch zum Arbeitsrecht Band 3 2. Aufl. § 272 Rn. 11).
cc) Die Anwendung des in § 4 Abs. 3 TVG gesetzlich vorgesehenen Günstigkeitsvergleichs wird entgegen der Ansicht des Beklagten nicht durch das sog. „Ordnungsprinzip” ausgeschlossen. Soweit das Bundesarbeitsgericht in einer Entscheidung vom 4. Februar 1960(– 5 AZR 72/58 – AP TVG § 4 Günstigkeitsprinzip Nr. 7) angenommen hatte, daß vertragliche Einheitsregelungen durch Tarifverträge verdrängt werden könnten, ist diese Rechtsprechung ausdrücklich wieder aufgegeben worden(BAG 30. Januar 1970 – 3 AZR 44/68 – BAGE 22, 252; 16. September 1986 – GS 1/82 – aaO). Es besteht keine Rechtsgrundlage, die die Ablösung arbeitsvertraglicher Ansprüche durch eine ungünstigere tarifliche Regelung entgegen der gesetzlichen Vorschrift des § 4 Abs. 3 TVG rechtfertigen könnte. Die Änderung arbeitsvertraglicher Vereinbarungen kann auch in diesem Falle – entgegen der Auffassung des Beklagten – nur durch Maßnahmen auf arbeitsvertraglicher Ebene, nicht aber durch normative tarifliche Bestimmungen erreicht werden. Daran fehlt es hier.
b) Der gem. § 4 Abs. 3 TVG anzustellende individuelle Günstigkeitsvergleich ergibt, daß die arbeitsvertragliche Regelung für die Klägerin gegenüber den Vorschriften des Zuwendungs-TV günstiger ist.
Die zu vergleichenden Gegenstände müssen sich dabei thematisch berühren und in einem sachlichen Zusammenhang zueinander stehen(BAG 20. April 1999 – 1 ABR 72/98 – BAGE 91, 210 ff.). Dies ist, wie oben dargelegt, der Fall, da derselbe Regelungsgegenstand betroffen ist.
Bei Anwendung des Arbeitsvertrages hat die Klägerin einen Anspruch in Höhe von 100 % des vollen Dezembergehalts, während sie nach der tarifvertraglichen Regelung lediglich 93,78 % des niedrigeren Monatstabellenentgelts beanspruchen könnte. Weiterhin enthält die vertragliche Regelung keine Minderung der Zuwendung für Kalendermonate, in denen kein Anspruch auf Zahlung von Arbeitsentgelt bestanden hat, wie dies § 2 Zuwendungs-TV vorsieht. Ziffer 9 des Arbeitsvertrags enthält zudem die Möglichkeit einer anteiligen Zuwendung für eintretende Arbeitnehmer. Nach dem Tarifvertrag ist dies nicht möglich. Demgegenüber tritt die arbeitsvertragliche Rückzahlungsregelung im Fall einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses bis zum 31. März des Folgejahres im Gesamtvergleich zurück.
c) Entgegen der Ansicht des Beklagten ist kein kollektiver Günstigkeitsvergleich anzustellen, bei dem die Vorteile der tariflichen Gesamtregelung für alle Arbeitnehmer mit den Nachteilen bei der Gewährung der Sondervergütung für einige wenige Arbeitnehmer abzuwägen wären. Unabhängig davon, in welchen Fällen ein solcher kollektiver Günstigkeitsvergleich überhaupt in Betracht kommt, ist dieser vorliegend schon durch die tariflichen Bestimmungen selbst ausgeschlossen worden. In § 38 Abs. 1 TV-ESTA-BW ist nämlich ausdrücklich vorgesehen, daß die am 1. Januar 1998 geltenden einzelvertraglich vereinbarten Arbeitsbedingungen fortgelten sollen. Dies schließt eine, wie auch immer geartete Ablösung durch eine bezogen auf einzelne Arbeitsbedingungen ungünstigere tarifliche Regelung aus.
Soweit der Beklagte in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat, § 38 TV-ESTA-BW habe sich nur auf Eingruppierungsregelungen beziehen wollen, hat dies im Wortlaut der Tarifnorm keinen Ausdruck gefunden. Dies belegt auch die Überschrift, die § 38 TV-ESTA-BW als allgemein übliche „Überleitungs- und Besitzstandsregelung” ausweist.
III. Die Kosten der erfolglosen Revision hat der Beklagte zu tragen (§ 91 Abs. 1 ZPO).
Unterschriften
Dr. Freitag zugleich für den wegen Urlaubs an der Unterschrift verhinderten Richter Dr. Fischermeier, Marquardt, Kay Ohl, Thiel
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 25.07.2001 durch Brüne, Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 682495 |
NZA 2002, 56 |
SAE 2002, 159 |
EzA |
NJOZ 2002, 146 |