Entscheidungsstichwort (Thema)
Mittelbare Frauendiskriminierung
Normenkette
EWGVtr Art. 119, 177; GG Art. 3; LFZG § 1 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 Nr. 2; ZPO §§ 291, 293
Verfahrensgang
LAG Hamm (Urteil vom 27.02.1991; Aktenzeichen 1 Sa 1526/90) |
ArbG Hagen (Westfalen) (Urteil vom 18.10.1990; Aktenzeichen 2 Ca 202/90) |
Tenor
1. Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 27. Februar 1991 – 1 Sa 1526/90 – aufgehoben.
2. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hagen vom 18. Oktober 1990 – 2 Ca 202/90 – wird zurückgewiesen.
3. Die Beklagte hat die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte der Klägerin Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle schuldet.
Die Klägerin ist seit dem 15. September 1988 bei der Beklagten als Gebäudereinigerin teilzeitbeschäftigt. Sie erhält einen Stundenlohn von 9,17 DM netto. Die auf den Lohn zu entrichtenden Steuern trägt die Beklagte. Die tägliche Arbeitszeit der Klägerin beläuft sich auf 1,83 Stunden. Sie erreicht damit in der Fünf-Tage-Woche eine Gesamtarbeitszeit von 9,15 Stunden. Ein weiteres Arbeitsverhältnis hat die Klägerin nicht begründet. Sie ist gegen Krankheit bei ihrem berufstätigen Ehemann im Rahmen der Familienversicherung mitversichert.
Die Beklagte beschäftigt mehr als 1.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Davon sind etwa 800 geringfügig beschäftigt, ihre wöchentliche Arbeitszeit liegt unter 10 Stunden.
Die Klägerin war in der Zeit vom 7 bis zum 12. Februar 1990 arbeitsunfähig krank. Die Beklagte verweigerte die Lohnfortzahlung in Höhe des rechnerisch unstreitigen Betrages von 67,24 DM netto und verwies auf den gesetzlichen Ausnahmetatbestand des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG.
Mit ihrer Klage nimmt die Klägerin die Beklagte auf Zahlung in Anspruch. Sie hat geltend gemacht, ihrem Verlangen stehe § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG nicht entgegen. Der Ausschluß geringfügig beschäftigter Arbeiter von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle sei nämlich mit Art. 119 Abs. 1 EWG-Vertrag nicht vereinbar, da von der gesetzlichen Ausnahmeregelung ganz überwiegend Frauen betroffen würden. Das stelle jedoch eine mittelbare Diskriminierung allein wegen des Geschlechts dar mit der Rechtsfolge, daß § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG nicht angewandt werden dürfe.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 67,24 DM netto nebst 4 % Zinsen seit dem 26. April 1990 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Ansicht vertreten, Art. 119 EWG-Vertrag könne nicht dahin verstanden werden, daß die Regelung des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG unanwendbar sei. Die Entstehungsgeschichte der Lohnfortzahlung dürfe bei der Prüfung der Anwendbarkeit dieser Vorschrift ebensowenig außer Betracht bleiben, wie die Herausnahme der geringfügig Beschäftigten aus der Krankenversicherungspflicht. Würde man einem geringfügig Beschäftigten den Lohnfortzahlungsanspruch zubilligen, dann würde der so begünstigte Arbeitnehmer nach Ablauf des Lohnfortzahlungszeitraums ohne jede Zahlung bei fortdauernder Krankheit dastehen, weil die Krankenversicherung nicht eintrete. Bereits aus dieser Rechtsfolge werde deutlich, daß die Regelung des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG in voller Kenntnis ihrer Konsequenzen und unter Beachtung des geltenden Art. 119 EWG-Vertrag geschaffen worden sei.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht die Klage abgewiesen. Dagegen richtet sich die Revision, mit der die Klägerin die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils verfolgt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Der Klägerin steht die verlangte Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 LFZG zu. Ihr Anspruch wird durch § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG nicht ausgeschlossen.
I. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist der Lohnfortzahlungsanspruch der Klägerin trotz deren Beschäftigungsumfang von wöchentlich nur 9,15 Stunden nicht durch § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG ausgeschlossen. Diese Bestimmung bedeutet eine mittelbare Diskriminierung von Frauen und darf infolgedessen wegen Verstoßes gegen das Lohngleichheitsgebot des Art. 119 Abs. 1 EWG-Vertrag vorliegend nicht angewandt werden. Im einzelnen gilt folgendes, wie der Senat bereits in dem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 9. Oktober 1991 – 5 AZR 598/90 – (DB 1992, 330) näher ausgeführt hat:
II. 1. Eine Vorlage der hier entscheidenden Rechtsfrage an den Europäischen Gerichtshof ist nicht erforderlich. Allerdings haben gemäß Art. 177 Abs. 2 EWG-Vertrag die nicht letztinstanzlichen Gerichte der Mitgliedstaaten das Recht und gemäß Art. 177 Abs. 3 EWG-Vertrag die letztinstanzlichen Gerichte die Pflicht, den Europäischen Gerichtshof anzurufen, wenn eine entscheidungserhebliche Norm des Gemeinschaftsrechts auslegungsbedürftig ist. Eine Pflicht zur Vorlage entfällt aber dann, wenn die gleiche Rechtsfrage bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war (EuGH Urteil vom 6. Oktober 1982 – Rs 283/81 – AP Nr. 11 zu Art. 177 EWG-Vertrag; vgl. auch Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EWG-Vertrag, 1985, S. 104). Eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs hat unmittelbare Bindungswirkung zwar nur für das Ausgangsverfahren, in welchem sie durch Vorlagebeschluß des damit befaßten nationalen Gerichts ergangen ist. Wenn das erkennende Gericht bei seiner Entscheidung jedoch eine vom Europäischen Gerichtshof bereits geklärte Interpretation zugrunde legen will, ist dem Gebot der einheitlichen Anwendung von Gemeinschaftsrecht auch ohne erneute Vorlage Rechnung getragen (vgl. Grabitz, EWG-Vertrag, Stand Juni 1990, Art. 177 Rz 71). Die Entscheidung darüber, ob eine Vorschrift des Gemeinschaftsrechts auslegungsbedürftig ist, trifft allein das innerstaatliche Gericht. Dieses ist daher auch befugt, eine vom Europäischen Gerichtshof bereits entschiedene Rechtsfrage als geklärt und damit nicht mehr vorlagebedürftig anzusehen.
Die Frage der Vereinbarkeit des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG mit Art. 119 Abs. 1 EWG-Vertrag war bereits Gegenstand einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, so daß es einer erneuten Vorlage nicht mehr bedarf. Der Europäische Gerichtshof hat mit Urteil vom 13. Juli 1989 (– Rs 171/88 – EuGHE 1989, 2757 = AP Nr. 16 zu Art. 119 EWG-Vertrag) entschieden, Art. 119 EWG-Vertrag sei dahin auszulegen, daß er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es den Arbeitgebern gestattet, von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle diejenigen Arbeitnehmer auszunehmen, deren regelmäßige Arbeitszeit wöchentlich zehn Stunden oder monatlich 45 Stunden nicht übersteigt, wenn diese Maßnahme wesentlich mehr Frauen als Männer trifft, es sei denn, der Mitgliedstaat legte dar, daß die betreffende Regelung durch objektive Faktoren, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben, gerechtfertigt sei.
2. Diese Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof ist der Entscheidung des Streitfalles zugrunde zu legen. Das führt zu folgenden Überlegungen:
a) Art. 119 Abs. 1 EWG-Vertrag verpflichtet die Mitgliedstaaten, den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit anzuwenden und zu gewährleisten. Dieser Grundsatz wird in der Richtlinie 75/117/EWG vom 10. Februar 1975 (Abl EG Nr. L 45, 19) noch weiter konkretisiert. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs entfaltet dieser Grundsatz der Lohngleichheit unmittelbare Wirkung in den Mitgliedstaaten, wenn allein anhand der in der Vorschrift des Art. 119 Abs. 1 EWG-Vertrag verwendeten Merkmale „gleiche Arbeit” und „gleiches Entgelt” festgestellt werden kann, daß eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts vorliegt, ohne daß gemeinschaftliche oder nationale Maßnahmen zur Bestimmung dieser Kriterien erforderlich sind. Insoweit kann sich der betroffene Arbeitnehmer vor den nationalen Gerichten unmittelbar auf Art. 119 Abs. 1 EWG-Vertrag berufen (vgl. EuGHE 1976, 455 = NJW 1976, 2068; EuGHE 1980, 1275 = NJW 1980, 2014; EuGH Urteil vom 11. März 1981 – Rs 69/80 – NJW 1981, 2637; EuGH Urteil vom 31. März 1981 – Rs 96/80 – AP Nr. 2 zu Art. 119 EWG-Vertrag; vgl. auch BAG Urteil vom 14. Oktober 1986, BAGE 53, 161 = AP Nr. 11 zu Art. 119 EWG-Vertrag; BAGE 59, 306 = AP Nr. 24 zu § 23 a BAT; BAG Urteil vom 23. Januar 1990 – 3 AZR 58/88 – AP Nr. 7 zu § 1 BetrAVG Gleichberechtigung, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen; vgl. auch Dauses, a.a.O., S. 9; Schaub, NZA 1984, 73, 74).
b) Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle ist Entgelt im Sinne des Art. 119 Abs. 1 EWG-Vertrag. Unter Entgelt sind nach der Legaldefinition des Art. 119 EWG-Vertrag alle Vergütungen zu verstehen, die der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer aufgrund des Dienstverhältnisses unmittelbar oder mittelbar in bar oder in Sachleistungen zahlt. Der Europäische Gerichtshof hat deshalb im Urteil vom 13. Juli 1989 (– Rs 171/88 – AP Nr. 16 zu Art. 119 EWG-Vertrag) ausdrücklich den im Krankheitsfalle weiterzuzahlenden Lohn diesem Entgeltbegriff zugeordnet (zu 7 der Gründe).
c) Das Lohngleichheitsgebot des Art. 119 Abs. 1 EWG-Vertrag verbietet nicht nur solche Diskriminierungen, die sich unmittelbar aus der ausdrücklich nach dem Geschlecht differenzierenden jeweiligen Regelung ergeben. Das Diskriminierungsverbot erstreckt sich vielmehr auch auf solche Regelungen, die zwar geschlechtsneutral formuliert und deshalb auf Frauen und Männer gleichermaßen anzuwenden sind, tatsächlich jedoch aus Gründen, die auf dem Geschlecht oder der Geschlechtsrolle beruhen, wesentlich mehr Frauen als Männer nachteilig betreffen (vgl. EuGH Urteil vom 13. Mai 1986 – Rs 170/84 – AP Nr. 10 zu Art. 119 EWG-Vertrag; EuGH Urteil vom 31. März 1981 – Rs 96/80 – AP Nr. 2 zu Art. 119 EWG-Vertrag; BAG Urteil vom 14. Oktober 1986, BAGE 53, 161 = AP, a.a.O., mit zustimmender Anm. von Pfarr). Derartige mittelbare Diskriminierungen (vgl. allgemein zu diesem Begriff: Pfarr, NZA 1986, 585) werden ebenfalls von Art. 119 EWG-Vertrag verboten. Eine unterschiedliche Behandlung von Männern und Frauen bedeutet nur dann keine Verletzung des Art. 119 Abs. 1 EWG-Vertrag, wenn hierfür objektiv rechtfertigende Gründe bestehen, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben (EuGH Urteil vom 13. Mai 1986 – Rs 170/84 – AP Nr. 10 zu Art. 119 EWG-Vertrag).
3. Vorliegend ist der objektive Tatbestand einer mittelbaren Diskriminierung als erfüllt anzusehen.
a) Durch die gesetzliche Regelung des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG wird die Gruppe der danach geringfügig beschäftigten Arbeiter von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle ausgeschlossen. Diese Vorschrift ist zwar geschlechtsneutral formuliert und deshalb unterschiedslos auf Männer und Frauen anzuwenden, in Wirklichkeit aber betrifft der Ausschluß von der Lohnfortzahlung wesentlich mehr Frauen als Männer.
Nach der – allgemein zugänglichen und daher gemäß § 291 ZPO verwertbaren – Eurostat-Erhebung 1987 (zitiert nach Wißmann, DB 1989, 1922) sind in der Bundesrepublik 89 % der gewerblichen Arbeitnehmer mit bis zu zehn Wochenstunden Frauen. In der Studie des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung, veröffentlicht im März 1989, heißt es, der Anteil der Frauen an der Gesamtzahl der sozialversicherungsfrei Beschäftigten betrage ca. 55 %, der Anteil der Männer ca. 45 % (vgl. S. II Nr. 6 des Forschungsberichtes Nr. 181). Allerdings kann die Anzahl der sozialversicherungsfrei Beschäftigten nicht mit der Zahl der geringfügig Beschäftigten im Sinne des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG gleichgesetzt werden. Eine sozialversicherungsfreie Beschäftigung liegt nämlich bereits dann vor, wenn die Beschäftigung weniger als 15 Stunden in der Woche ausgeübt wird (vgl. § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV), während die Beschäftigungsgrenze im Sinne des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG bei zehn Wochenstunden liegt. Die zitierten Werte des Forschungsberichtes beziehen sich erkennbar nur auf sozialversicherungsfreie Beschäftigungsverhältnisse. Im Hinblick auf die Zahl der Erwerbstätigen mit einer wöchentlichen Arbeitszeit unter zehn Stunden geht dagegen auch der Forschungsbericht des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung davon aus, daß es sich hierbei nahezu ausschließlich um Frauen handelt (vgl. S. 204, 205 des Forschungsberichtes).
Dieses Verhältnis ist außerdem aus weiteren statistischen Erkenntnisquellen zu entnehmen. Nach der – ebenfalls allgemein zugänglichen und daher gemäß § 291 ZPO verwertbaren – Mikrozensus-Erhebung von April 1988 waren von 193.000 mit bis zu neun Wochenstunden abhängig Beschäftigten 159.000, d.h. also 82,4 %, Frauen (Quelle: Hauptergebnisse der Arbeits- und Sozialstatistik 1989, S. 24). Nach dem Mikrozensus vom 21. bis zum 27. April 1986 kamen auf eine Gesamtzahl von 176.000 Beschäftigten 158.000, mithin 89,8 %, Frauen (Quelle: Hauptergebnisse der Arbeits- und Sozialstatistik 1988, S. 24). Dafür, daß insoweit zwischen der Geschlechterverteilung bei den Arbeitern und bei den in den statistischen Werten ebenfalls enthaltenen Angestellten und Beamten wesentliche Unterschiede bestehen, sind keine Anhaltspunkte ersichtlich. Es ist daher davon auszugehen, daß der Ausschluß geringfügig Beschäftigter von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle weitaus mehr Frauen als Männer betrifft.
Entgegen der Ansicht der Beklagten können die einschlägigen Statistiken der neuen Bundesländer in diesem Zusammenhang nicht verwertet werden, weil die §§ 1 bis 7 und 9 LFZG im Gebiet der ehemaligen DDR nicht anzuwenden sind (vgl. Einigungsvertrag vom 31. August 1990, BGBl II S. 889/1020). Nicht aussagefähig sind für den Streitfall ferner die von der Beklagten zitierten statistischen Angaben des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger vom 5. Februar 1992, Diese Angaben beziehen sich auf den Kreis der geringfügig Beschäftigten im Sinne des § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV (regelmäßig weniger als 15 Stunden in der Woche), während § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG nur solche Arbeiter (Arbeiterinnen) betrifft, deren regelmäßige Arbeitszeit wöchentlich zehn Stunden oder monatlich 45 Stunden nicht übersteigt. Die zeitliche Differenz von fünf Stunden wöchentlich muß sich statistisch in erheblichem Umfang auswirken.
b) Diese nachteiligen Auswirkungen des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG beruhen auf dem Geschlecht bzw. der geschlechtsspezifischen Rolle der Frau. Geringfügige Teilzeitarbeit ist nach wie vor Frauenarbeit, wie die genannten statistischen Erhebungen belegen. Die traditionelle Verteilung der Geschlechtsrollen weist auch heute noch in aller Regel den Frauen die Aufgabenbereiche Erziehung und Haushalt zu. Diese gesellschaftlichen Verhältnisse machen es insbesondere verheirateten Frauen schwer, eine vollberufliche Erwerbstätigkeit mit ihren familiären Belastungen zu vereinbaren. Als Ausweg verbleibt hier häufig nur eine Teilzeitbeschäftigung mit geringer Stundenzahl, da sich wegen der geringen täglichen Arbeitszeit und deren flexibler Lage Erwerbstätigkeit und familiäre Pflichten miteinander in Einklang bringen lassen (vgl. BAG Urteil vom 14. Oktober 1986, BAGE 53, 161, 169 f. = AP, a.a.O., zu II 3 a (3) der Gründe, mit zustimmender Anm. von Pfarr). Die Beweggründe für die Eingehung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse werden weiter auch dadurch deutlich, daß diese Beschäftigungsform ganz überwiegend von verheirateten Frauen genutzt wird. Damit steht aber der hohe Anteil von Frauen an der Gesamtzahl geringfügig beschäftigter Arbeitnehmer in unmittelbarem Zusammenhang mit der traditionellen Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern. Die bloße Möglichkeit einer umgekehrten Rollenverteilung durch entsprechende Lebensgestaltung der Ehepartner ändert daran nichts. Mag diese Möglichkeit auch nicht mehr unbedingt als nur theoretisch zu bezeichnen sein, so könnte sie doch erst dann berücksichtigt werden, wenn sie sich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit auf den Anteil der Frauen an der Gesamtzahl der geringfügig beschäftigten Arbeitnehmer auswirkte. Das ist jedoch gegenwärtig nicht der Fall.
4. Ist damit von einer mittelbaren Frauendiskriminierung durch § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG auszugehen, so läge nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 13. Juli 1989 (– Rs 171/88 – AP, a.a.O.) nur dann kein Verstoß gegen Art. 119 EWG-Vertrag vor, wenn der Mitgliedstaat darlegt, daß die betreffende Regelung durch objektive Faktoren, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben, gerechtfertigt ist (insoweit läge ein Rechtfertigungsgrund vor: vgl. BAG Urteil vom 14. Oktober 1986, BAGE 53, 161 = AP, a.a.O.; Pfarr, NZA 1986, 585, 587).
An einer solchen Darlegung fehlt es.
a) Aus den Gesetzgebungsmaterialien zum Lohnfortzahlungsgesetz ergibt sich keine Begründung für die mit der Ausnahmevorschrift des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG verfolgten Ziele des Gesetzgebers. Weder die entsprechenden Entwürfe der Fraktionen von SPD (BT-Drucks. V/3983) und CDU/CSU (BT-Drucks. V/3985) noch der anschließende Bericht des Ausschusses für Arbeit vom 4. Juni 1969 (BT-Drucks. V/4285) enthalten Begründungen für die gewählte Arbeitszeitgrenze. Sachliche Gründe, die die mit dem Ausschluß der Lohnfortzahlungspflicht geringfügig beschäftigter Arbeitnehmer verbundene mittelbare Diskriminierung rechtfertigen könnten, lassen sich hieraus nicht entnehmen.
b) Eine Rechtfertigung für den Ausschluß geringfügig beschäftigter Arbeiter von der Lohnfortzahlung läßt sich auch nicht damit begründen, daß dieser Arbeitnehmerkreis nicht in einem anderen Arbeitnehmern vergleichbaren Maße in den Betrieb eingegliedert und diesem verbunden sei und ihm gegenüber daher die zur Lohnfortzahlung erforderliche Fürsorgepflicht des Arbeitgebers fehle (vgl. Stellungnahme der Bundesregierung vom 9. Januar 1989 in dem Verfahren vor dem EuGH – Rs 171/88 –, EuGHE 1989, 2743, 2747). Beide Arbeitnehmergruppen unterscheiden sich lediglich durch den Umfang ihrer Arbeitszeit. Im übrigen unterliegen die geringfügig beschäftigten Arbeitnehmer in gleicher Weise dem Direktionsrecht des Arbeitgebers und bedürfen ebenso dessen Fürsorge. Eine Abhängigkeit der Fürsorgepflicht vom Umfang der Arbeitszeit besteht nicht. So hat auch der Europäische Gerichtshof Erwägungen in dieser Richtung nicht gelten lassen und ausgeführt, hieraus ließen sich keine objektiven Kriterien entnehmen, die außerhalb einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts lägen (Urteil vom 13. Juli 1989 – Rs 171/88 – AP, a.a.O., zu 14 der Gründe). Der Bundesregierung ist die Auffassung des Europäischen Gerichtshofs bekannt. Sie hat sich dazu nicht mehr geäußert. Es bedurfte daher seitens des Senats auch nicht der Einholung einer Stellungnahme durch die Bundesregierung, wobei dahinstehen kann, in welcher verfahrensrechtlichen Form dies überhaupt möglich sein könnte.
c) Der Ausschluß geringfügig beschäftigter Frauen von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle ist weiter nicht mit einer geringeren Schutzbedürftigkeit dieser Gruppe zu rechtfertigen. Wenn auch das Einkommen des geringfügig Beschäftigten oftmals nur einen Zusatzverdienst darstellt und für sich genommen die Existenz einer Familie nicht allein sichern kann, so besteht dennoch ein Bedürfnis für eine Absicherung im Krankheitsfalle. Die gegenteilige Argumentation verkennt die tatsächlichen Gegebenheiten des Arbeitsmarktes. Vielen Arbeitnehmern bleibt als einzige Möglichkeit der Erwerbstätigkeit nur ein Teilzeitarbeitsverhältnis. Solche Arbeitnehmer sind auf diese Art der Beschäftigung zur Sicherung ihrer Existenz angewiesen und deshalb in gleicher Weise schutzbedürftig wie Vollzeitbeschäftigte. Aber auch bei geringfügig beschäftigten Arbeitnehmern, die anderweitig finanziell abgesichert sind – z.B. durch das Einkommen des Ehepartners oder den Bezug einer Rente –, kann nicht von einer geringeren Schutzbedürftigkeit ausgegangen werden. Allerdings wird in diesen Fällen die mit der geringfügigen Beschäftigung erzielte Vergütung im Regelfall nur einen Zusatzverdienst darstellen. Dennoch ist dieser Zusatzerwerb häufig für das Auskommen der Familie notwendig oder gar unverzichtbar.
Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle nicht vom Grad der Schutzbedürftigkeit des jeweiligen Arbeitnehmers abhängig ist. Das Lohnfortzahlungsgesetz stellt nicht auf die soziale Lage des Arbeitnehmers ab, vielmehr will es dem Arbeitnehmer im Krankheitsfalle für die ersten sechs Wochen der Arbeitsunfähigkeit dessen bisheriges Einkommen sichern und den Eintritt wirtschaftlicher Nachteile durch die Krankheit verhindern (BAGE 23, 444, 447 = AP Nr. 6 zu § 1 LohnFG).
d) Auch aus der besonderen sozialversicherungsrechtlichen Lage der geringfügig beschäftigten Frauen ergibt sich keine objektive Rechtfertigung ihres Ausschlusses von der Lohnfortzahlung.
Geringfügig Beschäftigte sind gemäß § 7 SGB V nicht krankenversicherungspflichtig. Eine geringfügige Beschäftigung liegt gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV dann vor, wenn sie regelmäßig weniger als 15 Stunden in der Woche ausgeübt wird und das Arbeitsentgelt regelmäßig im Monat 1/7 der monatlichen Bezugsgröße im Sinne des § 18 SGB IV (1991: 480,– DM) nicht übersteigt. Darüber hinaus sind geringfügig Beschäftigte auch von der Rentenversicherungspflicht befreit (§ 1228 RVO) und zahlen keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung (§ 169 a Abs. 2 AFG). Sie unterliegen schließlich in steuerrechtlicher Hinsicht der Sonderregelung des § 40 a EStG, wonach der Arbeitgeber eine Pauschallohnsteuer in Höhe von 15 % des Arbeitslohns abführen kann.
Angesichts dieser besonderen Umstände darf aber nicht außer acht gelassen werden, daß dem Vorteil der Sozialversicherungsfreiheit auch ganz erhebliche sozialversicherungsrechtliche Nachteile gegenüberstehen. Der geringfügig beschäftigte Arbeitnehmer, der keine Sozialversicherungsbeiträge zahlen muß, trägt auf der anderen Seite den Nachteil, daß er die entsprechenden Versicherungsleistungen nicht in Anspruch nehmen kann und demzufolge im Krankheitsfalle keine Leistungen von der Krankenkasse erhält, ganz abgesehen davon, daß er auch keinen Rentenanspruch erwirbt. In Wirklichkeit erweist sich der Ausschluß von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle daher als eine weitere, zusätzliche Benachteiligung geringfügig beschäftigter Arbeitnehmer
e) Auch unter Berücksichtigung der historischen Entwicklung des Lohnfortzahlungsrechts läßt sich der Ausschluß geringfügig beschäftigter Arbeitnehmer von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle nicht rechtfertigen.
Die Gehaltsfortzahlungspflicht des Arbeitgebers im Krankheitsfalle besteht für die Angestellten seit den Notverordnungen des Reichspräsidenten vom 1. Dezember 1930 (RGBl I S. 517, 521) und vom 5. Juni 1931 (RGBl I S. 279, 281). Diese Regelung sollte die damals notleidenden Krankenkassen während der ersten sechs Wochen einer Krankheit von der Zahlung des Krankengeldes befreien und verlagerte deshalb die Last der Gehaltsfortzahlung auf den Arbeitgeber. Für die Arbeiter wurde die nachhaltige Entlastung der Krankenkassen in den ersten sechs Krankheitswochen erst später – zuletzt durch das Lohnfortzahlungsgesetz vom 27. Juli 1969 – eingeführt. Die Überbürdung der Lohnfortzahlung auf die Arbeitgeber stellte daher ein Mittel der Sozialpolitik dar, das der Gesetzgeber zur Entlastung der Krankenkassen ergriffen hat. Hieraus läßt sich indessen nicht der Schluß ziehen, wenn die Krankenversicherung nicht zur Leistung verpflichtet sei, müsse auch eine Befreiung des Arbeitgebers von der Lohnfortzahlung eingreifen, so daß § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG diesem inneren Zusammenhang beider Regelungsbereiche Rechnung trage. Für die Annahme. § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG regele bei geringfügiger Beschäftigung den Ausschluß der Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers korrespondierend zur Leistungsfreiheit der Sozialversicherungsträger, ergeben sich weder aus dem Wortlaut noch aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift Anhaltspunkte. Vielmehr spricht sogar gegen einen derartigen Zusammenhang, daß die jeweiligen Regelungen unterschiedliche Bemessungsgrößen voraussetzen. Während in § 8 SGB IV für die Sozialversicherungsfreiheit an eine Arbeitszeitgrenze von 15 Wochenstunden angeknüpft wird, greift der Ausschluß von der Lohnfortzahlung gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG bei einer Grenze von zehn Wochenstunden ein. Eine Abhängigkeit der Lohnfortzahlungsvorschriften von der versicherungsrechtlichen Ausgestaltung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse kann deshalb nicht angenommen werden. Beide Regelungsbereiche sind vielmehr voneinander getrennt.
f) Die fehlende Eignung und Erforderlichkeit der Regelung des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG zur Erreichung eines notwendigen sozialpolitischen Ziels wird deutlich, wenn man einen Vergleich anstellt mit den entsprechenden Regelungen für geringfügig beschäftigte Angestellte. Die für Angestellte geltenden Vorschriften der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle (§ 616 BGB, § 63 HGB und § 133 c GewO) enthalten keine dem § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG vergleichbare Einschränkung. Geringfügig beschäftigte Angestellte erhalten in vollem Umfang Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle. Demgegenüber heben die dargestellten sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften nicht auf eine Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten ab, sondern lediglich auf den Tatbestand der geringfügigen Beschäftigung. Sie sind deshalb für geringfügig beschäftigte Angestellte in gleichem Maße anwendbar wie für geringfügig beschäftigte Arbeiter. Obwohl also weder im Hinblick auf die soziale Schutzbedürftigkeit noch wegen der sozialversicherungsrechtlichen Behandlung oder des Umfangs von Betriebsbindung und Fürsorgepflicht eine Differenzierung zwischen Angestellten und Arbeitern getroffen werden kann, hat der Gesetzgeber hinsichtlich der Entgeltfortzahlung bei Angestellten eine dem § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG entsprechende Regelung nicht eingeführt. Auch aus diesem Grund kann der Ausschluß der Lohnfortzahlung für geringfügig beschäftigte Frauen gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG keine zur Erreichung eines sozialpolitischen Ziels erforderliche Regelung sein (vgl. Wißmann, DB 1989, 1922; Plagemann, EWiR 1990, 181, 182).
g) Auch aus dem Gesichtspunkt der Erstattung von Lohnfortzahlungskosten durch die Krankenkassen gemäß §§ 10 ff. LFZG kann sich keine objektive Rechtfertigung der Regelung des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG ergeben. Denn der Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen gemäß § 10 LFZG knüpft an die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfalle an und stellt damit nur eine Rechtsfolge der Lohnfortzahlung dar. Sie kann aus diesem Grunde nicht zur Rechtfertigung einer die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle gerade ausschließenden Regelung herangezogen werden.
5. Der Verstoß des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG gegen Art. 119 EWG-Vertrag hat zur Folge, daß diese Vorschrift im Streitfall nicht angewandt werden darf. Aufgrund der unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten führt der Vorrang des Gemeinschaftsrechts dazu, daß die nationalen Gerichte im Rahmen der bei ihnen anhängigen Verfahren entgegenstehendes innerstaatliches Recht aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet zu lassen haben, ohne daß sie dessen Aufhebung durch den Gesetzgeber oder durch ein Verfassungsgericht abwarten müssen (vgl. EuGHE 1978, 629, 630; EuGH Urteil vom 7. Februar 1991 – Rs C 184/89 – NJW 1991, 2207 = NVwZ 1991, 461; vgl. auch Arbeitsgericht Oldenburg, Vorlagebeschluß vom 5. Mai 1988 – 3 Ca 50/88 – NZA 1988, 697, 698; Wißmann, DB 1989, 1922, 1924).
Dem steht nicht entgegen, daß nach Art. 100 GG die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes nur vom Bundesverfassungsgericht festgestellt werden kann. Vorliegend geht es um die Frage der Vereinbarkeit einer nationalen Bestimmung mit unmittelbar anzuwendendem europäischen Gemeinschaftsrecht. In derartigen Fällen können die Gerichte über die Vereinbarkeit nationalen Rechts mit Art. 119 EWG-Vertrag gemäß der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs selbst entscheiden.
6. Offenbleiben kann, ob § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG deshalb mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist, weil nur für geringfügig beschäftigte Arbeiter der Lohnfortzahlungsanspruch ausgeschlossen wird, nicht aber für entsprechende Angestellte (vgl. Vorlagebeschluß des Senats vom 5. August 1987, BAGE 54, 374 = AP Nr. 72 zu § 1 LohnFG). Einer Vorlage an das Bundesverfassungsgericht bedarf es nicht, weil der Rechtsstreit im Hinblick auf den Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht bereits entscheidungsreif ist.
Unterschriften
Dr. Thomas, Dr. Gehring, Dr. Olderog, Meier, Dr. Müller
Fundstellen