Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegung eines Sozialplans
Normenkette
BetrVG § 112
Verfahrensgang
Tenor
1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 14. August 1997 – 16 Sa 68/97 – wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten in der Revisionsinstanz noch über einen Abfindungsanspruch aus einem Sozialplan.
Die Klägerin war als Datentypistin im Betrieb der Beklagten in der F… straße in Berlin-Charlottenburg beschäftigt. Ab Juli 1996 wurde der Betrieb nach Kremmen in Brandenburg verlegt. Zum 30. Juni 1996 kündigte die Beklagte deshalb sämtlichen Arbeitnehmern und bot ihnen zugleich die Weiterbeschäftigung am neuen Standort zu ansonsten unveränderten Bedingungen an. Die Klägerin nahm das Angebot nicht an.
In einem wegen der Betriebsverlegung zwischen dem Betriebsrat und der Beklagten abgeschlossenen Sozialplan heißt es u.a.:
“I. Arbeitnehmer, denen es unzumutbar ist, in Kremmen zu arbeiten, erhalten eine Abfindung, wenn sie wegen des Umzuges aus dem Betrieb ausscheiden.
Unzumutbar ist eine Tätigkeit in Kremmen, wenn
a) der tägliche Zeitaufwand, der benötigt wird, um den Arbeitsplatz und die Wohnung zu erreichen, insgesamt 2,5 Stunden (einschließlich Fußweges zum Erreichen des Verkehrsmittels) übersteigt. Dabei ist eine Anfahrt mit dem Pkw und/oder öffentlichen Verkehrsmitteln möglich; der Arbeitnehmer entscheidet grundsätzlich selbstverantwortlich, welches/welche Mittel er benutzt. Es ist die jeweils kürzeste Verbindung zugrunde zu legen….
Die Abfindungen sind mit Ausscheiden fällig, ab diesem Termin sind sie mit 6 % zu verzinsen.
…”
Die Klägerin wohnt in Berlin-Charlottenburg in der Nähe des U…-Bahnhofs Deutsche Oper. Zum früheren Betriebsort fuhr sie regelmäßig mit dem Pkw. Für eine Strecke benötigte sie 5 – 8 Minuten. Am neuen Standort ist der Betrieb etwa 53 Straßen-Kilometer von der Wohnung entfernt. Der tägliche Zeitaufwand für die Fahrt dorthin würde mit dem Pkw weniger als 2 ½ Stunden dauern.
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, sie habe nach dem Sozialplan Anspruch auf eine Abfindung in – rechnerisch unstreitiger – Höhe von 25.973,18 DM nebst 6 % Zinsen seit dem 1. Juli 1996. Der tägliche Zeitaufwand für die Fahrt zu und von der Arbeit sei ihr nicht zumutbar, denn er liege deutlich über 2 ½ Stunden. Dabei sei von einer Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln auszugehen. Mit dem Pkw würde sie nämlich nicht fahren, und zwar wegen der dadurch verursachten Mehrkosten und wegen der Anstrengungen, die mit einer täglichen Lenkzeit von über 1 ½ Stunden im Berliner Berufsverkehr verbunden wären. Der Sozialplan mache den Abfindungsanspruch nicht von der Benutzung des jeweils schnellsten Verkehrsmittels abhängig. Ihre Wegezeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln hat die Klägerin einschließlich des mindestens 4-minütigen Fußwegs von der Wohnung zur U…-Bahnstation auf insgesamt mindestens 63 Minuten bis zum S…-Bahnhof Birkenwerder berechnet. Von dort werden die Arbeitnehmer mit einem Kleinbus der Beklagten abgeholt, der nach Angaben der Klägerin mindestens 30 Minuten bis zum Betrieb benötigt.
Die Klägerin hat, soweit für die Revision von Interesse, beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 25.973,18 DM als Abfindung gemäß dem Sozialplan vom 8. Dezember 1995 nebst 6 % Zinsen aus dem sich daraus ergebenden Nettobetrag seit dem 1. Juli 1996 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Nach ihrer Meinung hat die Klägerin keinen Anspruch auf die begehrte Abfindung. Der mit der Fahrt nach Kremmen verbundene Zeitaufwand sei der Klägerin zuzumuten. Sie könne ihren Pkw benutzen. Der Sozialplan sei nach Abschnitt I Buchstabe a Satz 3 so zu verstehen, daß die für den Abfindungsanspruch maßgebende Wegezeit anhand des jeweils schnellsten Verkehrsmittels zu errechnen sei. Zumindest sei es rechtsmißbräuchlich, daß sich die Klägerin auf den Zeitaufwand bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel berufe. Da sie zum früheren Betriebsort immer mit dem Pkw gefahren sei, komme es auf die Dauer der Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht an. Im übrigen ergebe sich auch insoweit für einen Weg eine Fahrzeit von lediglich 74 Minuten: Die Fahrt mit U…- und S…-Bahn dauere 54 Minuten, der anschließende Transfer zum Betrieb mit dem Kleinbus 20 Minuten.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter. Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Zutreffend haben die Vorinstanzen erkannt, daß die Klägerin Anspruch auf die streitige Abfindung hat, nachdem sie wegen des Umzugs aus dem Betrieb ausgeschieden ist. Eine Tätigkeit am neuen Standort ist der Klägerin nach dem Sozialplan nicht zumutbar, da die einfache Fahrt von ihrer Wohnung nach Kremmen bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel länger als 75 Minuten dauert.
I. Dem Landesarbeitsgericht ist darin zu folgen, daß der Abfindungsanspruch nicht von dem Zeitaufwand abhängt, der sich bei Benutzung des jeweils schnellsten verfügbaren Verkehrsmittels ergibt. Maßgeblich ist vielmehr die Zeit, die der Arbeitnehmer mit dem von ihm gewählten Verkehrsmittel aufwenden müßte. Dies ergibt sich aus dem Sozialplan, dessen Auslegung nach ständiger Rechtsprechung den für Tarifverträge geltenden Grundsätzen folgt (BAG Urteil vom 5. Februar 1997 – 10 AZR 553/96 – AP Nr. 112 zu § 112 BetrVG 1972, zu II 1 der Gründe). Maßgeblich ist dabei auf den im Wortlaut des Sozialplans zum Ausdruck kommenden Willen der Betriebsparteien abzustellen und auf den mit dem Sozialplan verfolgten Zweck, soweit dieser in den Bestimmungen seinen Ausdruck gefunden hat. Dabei ist auch der Gesamtzusammenhang der Regelung zu berücksichtigen.
1. Nach Ziffer I Buchstabe a Satz 2 des Sozialplans ist bei der Frage, auf welches Verkehrsmittel abzustellen ist, von der Entscheidung des Arbeitnehmers auszugehen. Eine Einschränkung wird insoweit nur durch das Adverb “grundsätzlich” gemacht. Dieser Hinweis darauf, daß der Arbeitnehmer bei seiner “selbstverantwortlichen” Auswahl nicht völlig frei ist, hat allerdings nicht nur, wie die Klägerin meint, die Bedeutung, daß rechtsmißbräuchliche Entscheidungen außer Betracht bleiben sollen. Da Rechtsmißbrauch immer verboten ist, hätte es eines derartigen und noch dazu recht undeutlichen Hinweises im Sozialplan nicht bedurft.
Mit dem einschränkenden Tatbestandsmerkmal wird vielmehr berücksichtigt, daß Gegenstand der Regelung ein hypothetisches Verhalten des Arbeitnehmers ist. Die Zumutbarkeitsprüfung ist nur für Personen anzustellen, die wegen der Betriebsverlegung ausgeschieden sind und daher gar nicht nach Kremmen fahren. Grundlage für die Bewertung ist daher zunächst nur eine Behauptung des Arbeitnehmers darüber, wie er sich verhalten hätte, wenn er im Betrieb verblieben wäre. Es ist indessen nicht anzunehmen, daß die Betriebsparteien Abfindungsansprüche von einer willkürlichen Behauptung abhängig machen wollten, deren Inhalt im Belieben des Arbeitnehmers steht. Vielmehr ergibt sich insoweit eine Einschränkung daraus, daß die Bestimmung Teil einer Zumutbarkeitsregelung ist. Es soll anerkannt werden, daß die Arbeitnehmer zu hohe Belastungen durch die Fahrt zum und vom Betrieb nicht auf sich nehmen müssen. Eine solche Regelung ist das Ergebnis einer Abwägung zwischen den Interessen des Arbeitgebers und denjenigen der betroffenen Arbeitnehmer und kann daher ihren Zweck nur erfüllen, wenn sie so weit wie möglich an tatsächliche Gegebenheiten anknüpft. Daraus folgt für die Auslegung des Tatbestandsmerkmals “grundsätzlich” in Satz 2, daß eine vom Arbeitnehmer “ins Blaue hinein” aufgestellte Behauptung, er hätte sich für das langsamere Verkehrsmittel entschieden, nicht maßgeblich sein kann. Vielmehr muß die vom Arbeitnehmer behauptete Entscheidung nach allen Umständen des jeweiligen Falles sachlich nachvollziehbar sein.
2. Dem Verständnis von Ziffer I Buchstabe a Satz 2 des Sozialplans, wonach der Zumutbarkeitsprüfung – mit der dargestellten Einschränkung – das vom Arbeitnehmer gewählte Verkehrsmittel zugrunde zu legen ist, steht nicht etwa, wie die Revision meint, Satz 3 der Bestimmung entgegen. Vielmehr besagt diese Regelung nur, daß im Rahmen der vom Arbeitnehmer plausibel behaupteten Entscheidung von der jeweils kürzesten Variante auszugehen ist. Daß Satz 3 nicht wie Satz 2 die Auswahlentscheidung des Arbeitnehmers zum Gegenstand hat, ergibt sich schon aus dem Wortlaut. In Satz 3 ist anders als in Satz 2 nicht vom “Verkehrsmittel” die Rede, sondern von der “Verbindung”. Es heißt auch nicht “günstigste” oder “schnellste”, sondern “kürzeste”. Entscheidend kommt hinzu, daß die in Satz 2 enthaltene Regelung sinnlos wäre, wenn Satz 3 tatsächlich die von der Beklagten angenommene Bedeutung hätte. Dann wäre nämlich immer das schnellste verfügbare Verkehrsmittel maßgeblich, auf die vom Arbeitnehmer getroffene Wahl käme es nie an.
Zu Unrecht macht die Beklagte hiergegen geltend, in der dargestellten Auslegung sei die Regelung widersprüchlich, denn danach fehle Satz 3 jegliche praktische Bedeutung. Die Bestimmung bleibt vielmehr durchaus sinnvoll. Sie beruht auf der praxisnahen Annahme, daß es angesichts der Länge der Wegstrecke zum neuen Betriebsort bei Benutzung des vom Arbeitnehmer gewählten Verkehrsmittels häufig mehrere mögliche Wegevarianten geben wird. Insoweit soll im Rahmen der Zumutbarkeitsprüfung die jeweils kürzeste maßgeblich sein unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer eine andere bevorzugen würde, z.B. weil diese bequemer ist.
II. Die von der Klägerin für den Fall der Fahrt nach Kremmen gewählten Verkehrsmittel sind vorliegend U…- und S…-Bahn sowie der von der Beklagten gestellte Zubringerbus. Diese Auswahlentscheidung ist nach Ziffer I Buchstabe a Satz 2 des Sozialplans maßgeblich. Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, die Klägerin habe diese Wahl hinreichend plausibel gemacht, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Die Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs, wie er vorliegend mit dem Tatbestandsmerkmal “grundsätzlich” in Rede steht, wird vom Revisionsgericht nur daraufhin überprüft, ob das Tatsachengericht von den richtigen Wertungsmaßstäben ausgegangen ist, nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen und alle erheblichen Tatsachen berücksichtigt hat (z.B. Senatsurteil vom 2. April 1996 – 1 AZR 743/95 – AP Nr. 34 zu § 95 BetrVG 1972, zu I 2b aa der Gründe). Dieser Prüfung hält das angefochtene Urteil stand. Die von der Klägerin angeführten Gründe, sie hätte den durch eine umfangreiche Nutzung des Pkw verursachten finanziellen Mehraufwand und insbesondere auch die mit einer so erheblichen Autofahrt im Berufsverkehr verbundenen Anstrengungen vermeiden wollen, sind gut nachvollziehbar. Die frühere Gewohnheit der Klägerin, mit dem eigenem Pkw zum Betrieb in Charlottenburg zu fahren, nimmt dieser Begründung nicht die Plausibilität, denn dabei ging es nur um eine vergleichsweise unbedeutende Strecke.
III. Die Klägerin würde mit den von ihr gewählten Verkehrsmitteln für den Weg von der Wohnung zum Betrieb und zurück jeweils mehr als 75 Minuten benötigen. Davon ist das Landesarbeitsgericht zutreffend ausgegangen. Die insoweit mit der Revision erhobene Verfahrensrüge greift nicht durch.
Es erscheint schon zweifelhaft, ob diese Rüge überhaupt beachtlich ist. Die Beklagte hat nicht konkret dargetan, welches von den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts abweichende Ergebnis die von ihr vermißte Beweisaufnahme hätte haben sollen. Das kann indessen dahinstehen. Jedenfalls ist die Rüge unbegründet.
Nach dem Vortrag in der Berufungsbegründung, mit dem die Beklagte den Behauptungen der Klägerin und den Annahmen des Arbeitsgerichts über die Wegezeiten bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel entgegengetreten ist, beläuft sich bereits der Zeitaufwand von der Abfahrt der U…-Bahn bis zur Ankunft des Kleinbusses am Betrieb auf 74 Minuten. Diese Rechnung läßt indessen den Fußweg von der Wohnung der Klägerin zur U…-Bahn außer Betracht, obwohl dessen Berücksichtigung in Ziffer I Buchstabe a Satz 1 des Sozialplans ausdrücklich vorgeschrieben ist. Dieser Weg beträgt selbst nach Angaben der Beklagten zwei Minuten. Schon damit ist die Zumutbarkeitsgrenze einer arbeitstäglichen Wegezeit von 2 ½ Stunden überschritten. Wenn das Landesarbeitsgericht vor der Abfahrt der U…-Bahn noch eine Minute Wartezeit als “Sicherheitspuffer” dazurechnet, ist dies lebensnah und nicht zu beanstanden. Ergaben sich aber schon nach den von der Beklagten zugestandenen Daten Wegezeiten, die länger sind als vom Sozialplan für einen Abfindungsanspruch gefordert, so war für eine Beweisaufnahme über die tatsächliche Dauer der Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln kein Raum mehr.
IV. Der Anspruch auf Zinsen in Höhe von 6 % ergibt sich aus dem Sozialplan.
Unterschriften
Dieterich, Rost, Wißmann, H. Blanke, von Platen
Fundstellen