Entscheidungsstichwort (Thema)

Änderungskündigung. Tariflicher Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen;. Kündigung;. Tarifrecht. Tarifrecht öffentl. Dienst;. öffentliche Nahverkehrsbetriebe

 

Orientierungssatz

Bei der Verpflichtung, während eines bestimmten Zeitraums keine betriebsbedingten Kündigungen auszusprechen, die ein Arbeitgeber in einer mit der Gewerkschaft abgeschlossenen Anwendungsvereinbarung im Sinne des Tarifvertrags vom 23. August 1995 betreffend die Anwendung der Anlage 1 zum BMT-G auf Arbeiter im Fahrdienst von Nahverkehrsbetrieben übernommen hat, handelt es sich um eine tarifliche Beendigungsnorm, die nach § 4 Abs. 1 TVG unmittelbar und zwingend für die von ihr erfaßten Arbeitnehmer gilt. Ein solcher Kündigungsverzicht bezieht sich im Zweifel auch auf betriebsbedingte Änderungskündigungen.

 

Normenkette

KSchG § 2; BMT-G 2 § 20; Tarifvertrag vom 23. August 1995 betreffend die Anwendung der Anlage 1 zum BMT-G auf Arbeiter im Fahrdienst von Nahverkehrsbetrieben – Vorbemerkung; TVG § 1 Abs. 1, § 4 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LAG Düsseldorf (Urteil vom 13.04.2000; Aktenzeichen 13 Sa 1718/99)

ArbG Düsseldorf (Urteil vom 15.09.1999; Aktenzeichen 4 Ca 2604/98)

 

Tenor

1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 13. April 2000 – 13 Sa 1718/99 – wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer Änderungskündigung der Beklagten vom 9. April 1998.

Die 49-jährige Klägerin, Mitglied der KOMBA-Gewerkschaft, ist seit dem 4. Juli 1983 als Kontrollschaffnerin bei der Beklagten beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis finden gemäß § 2 des Arbeitsvertrags vom 25. November 1992 die Bestimmungen des Bundesmanteltarifvertrags für die Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe (BMT-G) und die zusätzlich abgeschlossenen Tarifverträge in der jeweils geltenden Fassung Anwendung. In § 4, §10 Abs. 3 der „Anwendungsvereinbarung (AWV) zur Anlage 1 BMT-G in Verbindung mit dem TV Nahverkehr-NW/BesR für die Rheinische Bahngesellschaft AG Düsseldorf” (im folgenden: AWV) haben die Rheinische Bahngesellschaft AG Düsseldorf und die KOMBA-Gewerkschaft am 8. Dezember 1995 vereinbart, daß die Regelungen im Vertrag zur Sicherung der Arbeitsverhältnisse der bei der Rheinischen Bahngesellschaft AG beschäftigten Arbeitnehmer/innen vom 24. August 1994, abgeschlossen zwischen dem Betriebsrat der Rheinischen Bahngesellschaft AG und der Gewerkschaft ÖTV einerseits und der Rheinischen Bahngesellschaft AG Düsseldorf andererseits bis zum 31. Dezember 2005 gelten. Danach sind betriebsbedingte Kündigungen bis zum 31. Dezember 2005 ausgeschlossen.

Die Klägerin nahm bis zum 31. Dezember 1997, ebenso wie die anderen Kontrollschaffner der Beklagten, die Arbeit in der Weise auf, daß sie bei Dienstbeginn an der ihrer Wohnung nächstgelegenen Haltestelle in ein Fahrzeug der Beklagten einstieg und dort ihre Kontrolltätigkeit begann. Später traf sie mit Kollegen zusammen, mit denen sie gemeinsam kontrollierte. Entsprechend verfuhr sie bei Dienstende. Diese betriebliche Regelung war der Klägerin und den übrigen Kontrollschaffnern bei der Einstellung mitgeteilt worden. Am 22. Dezember 1997 wies die Beklagte die Klägerin und die übrigen Kontrollschaffner an, die tägliche Arbeit ab dem 5. Januar 1998 am Betriebshof aufzunehmen und zu beenden und von Beginn an in Gruppen zu kontrollieren. Der Betriebshof S., dem die Klägerin zugewiesen ist, liegt von ihrer Wohnung etwa 35 Minuten entfernt. Da die Klägerin im sog. geteilten Dienst arbeitet, führt dies zu einer täglichen Wegezeit von zwei Stunden 20 Minuten. Dagegen wandte sich die Klägerin mit der beim Arbeitsgericht Düsseldorf unter dem Aktenzeichen – 5 Ca 216/98 – geführten Klage. Das Arbeitsgericht Düsseldorf stellte mit Urteil vom 31. März 1998 fest, daß die Anordnung der Beklagten von ihrem Direktionsrecht nicht gedeckt und deshalb unwirksam sei. Diese Entscheidung wurde durch rechtskräftiges Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 5. November 1998 (– 13(14) Sa 853/98 –) bestätigt. Daraufhin sprach die Beklagte gegenüber der Klägerin mit Schreiben vom 9. April 1998 eine Änderungskündigung aus. In diesem Schreiben heißt es:

„…

Mit Wirkung vom 01.01.1998 erfolgte eine Änderung der Organisationsstruktur unseres Unternehmens dahin gehend, daß alle Mitarbeiter/-innen des Kontrolldienstes bestimmten Betriebshöfen zugeordnet wurden. Im Wege des Direktionsrechts wurde festgelegt, daß Dienstbeginn und -ende ab 01.01.1998 im Betriebshof erfolgen. In diesem Zusammenhang verweisen wir auf die Zustimmung des Betriebsrates zu dieser Maßnahme.

Aufgrund der wirtschaftlichen Situation, die Einsparungen in allen Unternehmensbereichen notwendig machte, um den Erfordernissen der bevorstehenden europaweiten Öffnung des Marktes begegnen zu können, sah sich die Rheinische Bahngesellschaft AG auch im Bereich der Kontrollschaffner/-innen zur Effizienzsteigerung gezwungen.

Entsprechend unseren durchgeführten Erhebungen konnte festgestellt werden, daß ca. 20 % der Dienstzeit aufgrund der bisherigen Handhabung nicht gemeinsam kontrolliert wurde. In diesen 20 % der Dienstzeit wurde wiederum nur ca. 1/5 der Kontrollintensität (Eintreffen von Fahrgästen ohne gültigen Fahrausweis) erreicht, als dies für die Kontrollen in der Gruppe festzustellen war. Durch die nunmehr vorgenommene Regelungsänderung entfallen die „unproduktiven” bzw. weniger produktiven Zeiten, so daß nach den durchgeführten Berechnungen mit einer Einnahmesteigerung aus erhöhten Beförderungsentgelten in Höhe von ca. 200 TDM jährlich zu rechnen ist. Mit weiteren Einnahmesteigerungen ist zu rechnen, da die Kontrollintensität sich auf das Verhalten der Fahrgäste auswirken wird.

Aus dem Sicherheitsaspekt heraus stellt die geänderte Regelung für die Beschäftigten im Kontrolldienst ebenfalls eine gravierende Verbesserung dar. …

In einem aus dem genannten Sachverhalt heraus entstandenen Rechtsstreits hat das Arbeitsgericht Düsseldorf nunmehr erstinstanzlich entschieden, daß für die Änderungen hinsichtlich des Dienstbeginn bzw. -ende der Weg der Änderungskündigung zu beschreiten ist. Unabhängig von der Tatsache, daß wir dieser Rechtsauffassung nicht folgen können und die Entscheidung daher durch Berufung überprüfen lassen werden, bieten wir Ihnen im Weg der Änderungskündigung die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses mit Beginn und Ende der Arbeitszeit im Betriebshof, jedoch unter ansonsten unveränderten Bedingungen, an. Wir verweisen insofern auf § 15 BMT-G.

Ein anderer Arbeitsplatz ist nicht vorhanden und kann daher nicht angeboten werden.

Rein vorsorglich möchten wir darauf hinweisen, daß das Arbeitsverhältnis durch fristgemäße Kündigung zum 31.12.1998 endet, sollten Sie das Angebot zur Änderung des Arbeitsvertrages nicht innerhalb einer Frist von 2 Wochen nach Zugang der Kündigung annehmen.

…”

Die Klägerin nahm das Angebot unter dem Vorbehalt, daß die Änderung der Arbeitsbedingungen nicht sozial ungerechtfertigt ist, mit Schreiben vom 15. April 1998 an.

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, es sei bereits zweifelhaft, ob die Beklagte überhaupt eine Änderungskündigung erklärt oder eine solche lediglich angekündigt habe. Jedenfalls sei die Änderungskündigung sozial ungerechtfertigt und verstoße zudem gegen das Kündigungsverbot in § 4, §10 Abs. 3 AWV.

Die Klägerin hat beantragt

festzustellen, daß die Änderung der Arbeitsbedingungen im Zusammenhang mit der Änderungskündigung der Beklagten vom 9. April 1998 unwirksam ist.

Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und die Auffassung vertreten, die Arbeitsbedingungen seien bereits durch die auf ihrem Direktionsrecht beruhende Anordnung vom 22. Dezember 1997 wirksam geändert worden. Jedenfalls sei die Änderungskündigung wirksam. Das Unternehmen habe sich auf Grund der wirtschaftlichen Situation zur Effizienzsteigerung in allen Bereichen, so auch bei den Kontrollschaffnern, gezwungen gesehen. Es könne nicht hingenommen werden, daß während der Anfahrt zum bzw. der Abfahrt vom Betriebshof, die etwa 20 % der Dienstzeit ausmachten, nur ca. 1/5 der sonst üblichen Kontrollintensität erreicht werde. Dies führe zu einem Verlust an Beförderungsentgelten von ca. 200.000,00 DM jährlich. Außerdem werde durch ausschließlich vom Betriebshof aus durchgeführte Kontrollen die Sicherheit der Kontrolleure erhöht, weil während der gesamten Dienstzeit in Zweierteams kontrolliert werde. Die Änderungskündigung sei auch aus Gleichbehandlungsgründen erforderlich. Von 80 Kontrollschaffnern hätten nur neun gegen die Anordnung vom 22. Dezember 1997 Klage erhoben. Wegen divergierender Entscheidungen der Kammern des Landesarbeitsgerichts zum Umfang des Direktionsrechts sei man gezwungen, ua. gegenüber der Klägerin eine Änderungskündigung auszusprechen. Dies sei zur Vermeidung organisatorischer Probleme bei der Durchführung der seit dem 5. Januar 1998 praktizierten Kontrollen im Team erforderlich. Die Änderungskündigung verstoße nicht gegen die AWV. Das dort vereinbarte Kündigungsverbot betreffe nur Beendigungskündigungen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter. Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision hat keinen Erfolg. Zu Recht haben die Vorinstanzen der Klage stattgegeben.

I. Die Revision ist zulässig. Zwar hat sie das Landesarbeitsgericht nur in den nicht mitverkündeten Entscheidungsgründen zugelassen. Dies führt jedoch nicht zur Unzulässigkeit der Revision. Der erkennende Senat hat durch Beschluß vom 11. Dezember 1998(– 6 AZB 48/97 – BAGE 90, 273) entschieden, daß die Zulassung der Berufung in den nicht verkündeten Entscheidungsgründen wirksam ist, ohne daß es darauf ankommt, ob die Verkündung nur versehentlich unterblieben ist. Dies gilt auch für die Zulassung der Revision.

II. Die Revision ist jedoch nicht begründet. Das Landesarbeitsgericht hat ohne Rechtsfehler festgestellt, daß die Änderungskündigung unwirksam ist, weil sie gegen das Kündigungsverbot in § 4, §10 Abs. 3 AWV verstößt.

1. Die Klage ist nicht schon deshalb begründet, weil die Beklagte mit dem Schreiben vom 9. April 1998 keine Änderungskündigung erklärt hätte. Entgegen der Auffassung der Klägerin enthält das Schreiben eine Änderungskündigung und nicht nur die Ankündigung einer solchen.

Eine Änderungskündigung liegt vor, wenn der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis kündigt und dem Arbeitnehmer im Zusammenhang mit der Kündigung die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu geänderten Bedingungen anbietet. Die Änderungskündigung besteht daher aus zwei Elementen: der Kündigung des Arbeitsvertrags und dem Angebot, das Arbeitsverhältnis zu geänderten Arbeitsbedingungen fortzusetzen. Die Kündigung und das Änderungsangebot können auf verschiedene Weise miteinander verknüpft werden. Der Arbeitgeber kann eine unbedingte Kündigung erklären und daneben die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu geänderten Bedingungen anbieten. Er kann auch eine bedingte Kündigung aussprechen, wobei die Bedingung in der Ablehnung des Änderungsangebots durch den Arbeitnehmer liegt(vgl. etwa KR-Rost 5. Aufl. § 2 KSchG Rn. 13 mwN; HK-KSchG/Weller/Hauck, 3. Aufl. § 2 Rn. 9 mwN). Der Zulässigkeit einer solchen bedingten Kündigung steht nicht entgegen, daß die Kündigung als einseitiges Rechtsgeschäft grundsätzlich bedingungsfeindlich ist. Eine Kündigung kann ausnahmsweise unter einer Bedingung ausgesprochen werden, wenn der Eintritt der Bedingung ausschließlich vom Willen des Kündigungsempfängers abhängt (sog. Potestativbedingung). In einem solchen Fall hat es der Kündigungsempfänger in der Hand, die Bedingung anzunehmen oder abzulehnen und so für sich selbst alle Zweifel darüber zu beseitigen, ob das Arbeitsverhältnis endet oder nicht(vgl. KR-Rost aaO Rn. 15). So verhält es sich hier.

Die Beklagte hat der Klägerin mit Schreiben vom 9. April 1998 angeboten, das Arbeitsverhältnis zu den Bedingungen der Anordnung vom 22. Dezember 1997 fortzusetzen und erklärt, daß das Arbeitsverhältnis bei Ablehnung dieses Angebots durch die Klägerin mit Ablauf der Kündigungsfrist am 31. Dezember 1998 endet. Damit hat sie unmißverständlich und eindeutig ihren Willen, das Arbeitsverhältnis zu beenden, zum Ausdruck gebracht. Anhaltspunkte dafür, daß es dazu weiterer Erklärungen bedarf, sind dem Schreiben nicht zu entnehmen. Vielmehr mußte die Klägerin davon ausgehen, daß der Fortbestand des Arbeitsverhältnisses über den 31. Dezember 1998 hinaus ausschließlich von der Annahme des Änderungsangebots abhing.

2. Die Änderungskündigung ist, wie das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen hat, unwirksam, weil sie gegen § 4, §10 Abs. 3 AWV verstößt (§ 13 Abs. 3 KSchG iVm. § 4 TVG, § 134 BGB).

In § 4, §10 Abs. 3 AWV ist vereinbart, daß die Regelungen im Vertrag zur Sicherung der Arbeitsverhältnisse der bei der Rheinischen Bahngesellschaft AG Düsseldorf beschäftigten Arbeitnehmer/innen vom 24. August 1994 bis zum 31. Dezember 2005 gelten. In diesem Vertrag ist bestimmt, daß die Beklagte bestehende Beschäftigungsverhältnisse nicht aus betriebsbedingten Gründen kündigen wird. Von diesem Kündigungsverbot wird auch die gegenüber der Klägerin ausgesprochene Änderungskündigung erfaßt.

a) Die Änderungskündigung wurde aus betriebsbedingten Gründen erklärt, denn die Beklagte will dadurch erreichen, daß die geänderte betriebliche Regelung über die Aufnahme und Beendigung der täglichen Arbeit für Kontrollschaffner auch für das Arbeitsverhältnis der Klägerin gilt. Daß es sich bei der Änderungskündigung um eine solche aus betriebsbedingten Gründen handelt, hat die Beklagte auch nicht bestritten.

b) Entgegen der Auffassung der Beklagten erfaßt das Kündigungsverbot in § 4, §10 Abs. 3 AWV in Verbindung mit dem Vertrag zur Sicherung der Arbeitsverhältnisse der bei der Rheinischen Bahngesellschaft AG beschäftigten Arbeitnehmer/innen vom 24. August 1994 nicht nur Beendigungskündigungen, sondern auch Änderungskündigungen. Denn eine Änderungskündigung, die nicht unter dem Vorbehalt des § 2 KSchG angenommen wird, ist eine Beendigungskündigung. Deshalb erfaßt der tarifliche Ausschluß einer Kündigung im Zweifel auch die Änderungskündigung(vgl. ErfK/Ascheid 2. Aufl. § 2 KSchG Rn. 1 mwN). Für den vorliegenden Fall gilt nichts anderes. Nach § 1 Nr. 1 des Vertrags vom 24. August 1994 „wird” die Beklagte „bestehende Beschäftigungsverhältnisse nicht aus betriebsbedingten Gründen kündigen”. Anhaltspunkte dafür, daß Änderungskündigungen von diesem Kündigungsverzicht nicht erfaßt werden sollten, ergeben sich aus der Regelung nicht. Zwar ist in § 1 Nr. 2 des Vertrags vom 24. August 1994 vereinbart, daß „bei notwendigen Umsetzungen und Versetzungen … die Qualifikationen und die persönlichen Lebensumstände der Beschäftigten berücksichtigt” werden. Da Umsetzungen und Versetzungen jedoch nicht immer eine Änderungskündigung erfordern, sondern auch einvernehmlich oder ggf. im Wege des Direktionsrechts erfolgen können, läßt sich aus dieser Vertragsbestimmung nicht herleiten, Änderungskündigungen seien vom Kündigungsausschluß nach § 1 Nr. 1 des Vertrags ausgenommen.

c) Das Kündigungsverbot in § 4, §10 Abs. 3 AWV gilt auch für das Arbeitsverhältnis der Klägerin. Es beruht nicht nur auf einer schuldrechtlichen Vereinbarung der Tarifvertragsparteien, die nur zwischen diesen rechtliche Wirkungen entfaltet, sondern auf einer tarifvertraglichen Regelung, die gemäß § 4 Abs. 1 TVG unmittelbar und zwingend auf das Arbeitsverhältnis Anwendung findet.

aa) Die AWV wurde abgeschlossen zwischen der Beklagten und dem KAV NW einerseits und der KOMBA-Gewerkschaft andererseits. Allein aus dem Umstand, daß es sich bei sämtlichen vertragsschließenden Beteiligten um tariffähige Koalitionen handelt, kann allerdings nicht geschlossen werden, daß die Vereinbarung ein Tarifvertrag ist. Auch tariffähige Koalitionen können nichttarifliche Vereinbarungen treffen(vgl. BAG 5. November 1997 – 4 AZR 872/95 – BAGE 87, 45, zu II 1.2 der Gründe mwN). Zwar ist im Zweifel davon auszugehen, daß die Tarifvertragsparteien sich in bezug auf die in Art. 9 Abs. 3 GG bezeichneten Regelungsgegenstände dieser Gestaltungsmöglichkeit nicht bedienen wollen, da sie auf Grund der ihnen zustehenden Tarifautonomie die Möglichkeit zu unmittelbarer Rechtssetzung nach dem TVG besitzen(BAG 5. November 1997 – 4 AZR 872/95 – aaO; 26. Januar 1983 – 4 AZR 224/80 – BAGE 41, 307). Es kann jedoch unterschiedliche Gründe dafür geben, warum tariffähige Koalitionen den Inhalt von Verständigungen nicht in Form eines Tarifvertrags, sondern in sonstigen Übereinkünften festhalten wollen, zB weil es ihnen für den in Aussicht genommenen Inhalt der Abrede möglicherweise oder zum Teil an der Tarifmacht fehlt, weil sie sich auf Grund satzungsrechtlicher Bindungen an dem Abschluß eines Tarifvertrags gehindert sehen oder weil sie in ihrer Übereinkunft keine normativ wirkenden Regelungen treffen und die daran anknüpfenden Rechtswirkungen, wie etwa die zwingende Wirkung oder die Nachwirkung (§ 4 TVG), nicht herbeiführen oder von vornherein ausschließen wollen(vgl. dazu etwa Plander FS Kehrmann S 297, 300, 301; Däubler Tarifvertragsrecht 3. Aufl. Rn. 1616 ff.). Ob eine zwischen tariffähigen Koalitionen abgeschlossene Vereinbarung ein Tarifvertrag ist, ist im Wege der Auslegung zu ermitteln. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Übereinkunft ausdrücklich als Tarifvertrag bezeichnet ist. Auch ein anders, etwa als „Vereinbarung”, bezeichneter Vertrag kann als Tarifvertrag zu bewerten sein, wenn er der Sache nach als solcher anzusehen ist(BAG 5. November 1997 – 4 AZR 872/95 – aaO, zu II 1.1 der Gründe; 7. November 2000 – 1 AZR 175/00 – EzA TVG § 1 Nr. 43, zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen; Plander aaO S 303).

bb) Die AWV vom 8. Dezember 1995 wurde „aufgrund § 1 Abs. 3 a und 3 b des Tarifvertrag vom 12. Mai 1995 über besondere Regelungen für Arbeiter/innen im Fahrdienst von Nahverkehrsbetrieben in NW – TV Nahverkehr-NW/BesR – und des Tarifvertrages vom 23. August 1995 betreffend die Anwendung der Anlage 1 zum BMT-G auf die Arbeitsbedingungen für Arbeiter/innen im Fahrdienst von Nahverkehrsbetrieben” abgeschlossen. Der TV Nahverkehr-NW/BesR enthält besondere, von der Anlage 1 zum BMT-G II abweichende Regelungen für Arbeiter im Fahrdienst von Nahverkehrsbetrieben in Nordrhein-Westfalen, die nach dem 30. Juni 1995 eingestellt wurden von Arbeitgebern, die eine Anwendungsvereinbarung abgeschlossen haben. Nach § 2 Abs. 1 TV Nahverkehr-NW/BesR ist diese Anwendungsvereinbarung zugleich die Anwendungsvereinbarung im Sinne der Anlage 1 zum BMT-G II.

Nach der Vorbemerkung Abschn. I Abs. 1 des Tarifvertrags vom 23. August 1995 betreffend die Anwendung der Anl. 1 zum BMT-G II auf Arbeiter im Fahrdienst von Nahverkehrsbetrieben (im folgenden: TV vom 23. August 1995) kann die Anl. 1 zum BMT-G II, die gemäß § 2 Abs. 1 Buchst. a BMT-G II Sonderregelungen für die Arbeiter in Nahverkehrsbetrieben enthält, in Verbindung mit besonderen betrieblichen Regelungen mit bestimmten, im Tarifvertrag vom 23. August 1995 festgestellten Maßgaben auf Arbeiter der Betriebe, die eine Anwendungsvereinbarung abgeschlossen haben, während deren Laufzeit angewandt werden. Voraussetzung dafür ist nach der Vorbemerkung Abschn. I Abs. 1 TV vom 23. August 1995 der Abschluß einer Anwendungsvereinbarung. In der Anwendungsvereinbarung sind nach der Vorbemerkung Abschn. I Abs. 3 TV vom 23. August 1995 der Anteil der Fremdvergabe von Leistungen und die Verpflichtung des Arbeitgebers festzulegen, daß während der Laufzeit keine Neu-, Um- und Ausgründungen usw. mit dem Ziel der Anwendung eines anderen Tarifrechts auf die Arbeitnehmer vorgenommen werden. Nach der Vorbemerkung Abschn. I Abs. 4 TV vom 23. August 1995 ist die Anwendungsvereinbarung zwischen dem Arbeitgeber und dem zuständigen KAV einerseits sowie der zuständigen Bezirksverwaltung der Gewerkschaft ÖTV bzw. der GGVöD oder der von ihr ermächtigten unmittelbaren oder mittelbaren Mitgliedsorganisation auf der für den Bezirk zuständigen Organisationsebene andererseits abzuschließen.

Die Anwendungsvereinbarung schafft daher zum einen unmittelbares Tarifrecht gemäß den Bestimmungen im TV vom 23. August 1995 und löst insoweit für bestimmte Arbeiter und einen bestimmten Zeitraum die Regelungen der Anl. 1 zum BMT-G II ab. Zum anderen soll sie sicherstellen, daß die Nahverkehrsunternehmen dieses Tarifrecht weiterhin anwenden und nicht durch Fremdvergabe von Leistungen oder Teilbetriebsveräußerungen andere Tarifverträge zur Anwendung gelangen(vgl. Scheuring/Lang/Hoffmann BMT-G II Bd. II Stand 1. Juli 2001 Anl. 1-Nahverkehrsbetriebe Erl. 2 zum Tarifvertrag vom 23. August 1995). Eine solche Anwendungsvereinbarung hat daher doppelten Rechtscharakter. Soweit sie den Anteil der Fremdvergabe von Leistungen und die Verpflichtung des Arbeitgebers, während der Laufzeit keine Neu-, Um- und Ausgründungen mit dem Ziel der Anwendung eines anderen Tarifrechts vorzunehmen, festlegt, hat sie keinen Tarifnormcharakter(vgl. Scheuring/Lang/Hoffmann aaO). Vielmehr handelt es sich insoweit um eine schuldrechtliche Koalitionsvereinbarung, die nur zwischen den Tarifvertragsparteien wirkt, weil sie eine Materie regelt, der keine normative Wirkung im Sinne von § 1 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG zukommen kann. Tarifliche Rechtsnormen können sich nach § 1 Abs. 1 TVG nur auf Inhalt, Abschluß und Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie auf betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen beziehen. Dazu gehören die vom Arbeitgeber nach der Vorbemerkung Abschn. I Abs. 3 TV vom 23. August 1995 zu übernehmenden Verpflichtungen nicht. Diese können deshalb nur Gegenstand schuldrechtlicher Vereinbarungen sein.

Die Anwendungsvereinbarung ist jedoch Tarifvertrag, soweit sie die Anwendung der Maßgaben zur Anlage 1 zum BMT-G II gemäß Tarifvertrag vom 23. August 1995 auf die Arbeitsverhältnisse bewirkt(vgl. Scheuring/Lang/Hoffmann aaO). Diese Wirkung kann nur durch eine Vereinbarung mit Tarifnormcharakter herbeigeführt werden. Denn eine lediglich schuldrechtliche Vereinbarung zwischen den Tarifvertragsparteien würde grundsätzlich nur im Verhältnis der Tarifvertragsparteien untereinander wirken. Eine unmittelbare Geltung für die Arbeitsverhältnisse der betroffenen Arbeitnehmer käme nur in Betracht, wenn sie als Vertrag zugunsten Dritter (§ 328 BGB) ausgelegt werden könnten. Dies scheidet jedoch hier aus, weil die Maßgaben im Tarifvertrag vom 23. August 1995 für die Arbeitnehmer ungünstiger sind als die Regelungen in der Anlage 1 zum BMT-G II. Da davon auszugehen ist, daß die Tarifvertragsparteien wirksame und praktisch brauchbare Regelungen treffen wollen, ist diesem Teil einer Anwendungsvereinbarung – hier: § 2 der AWV vom 8. Dezember 1995 – Tarifnormcharakter beizumessen. Daß die AWV vom 8. Dezember 1995 – soweit rechtlich möglich – als Tarifvertrag anzusehen ist, ergibt sich auch aus der Geltungsbereichsregelung in § 1. Danach gilt die AWV für Arbeiter und Arbeiterinnen im Fahrdienst, die bei der Beklagten beschäftigt und Mitglieder der KOMBA-Gewerkschaft sind. Die AWV richtet sich daher unmittelbar an diese Arbeitnehmer. Dies spricht dagegen, die gesamte AWV als schuldrechtliche Vereinbarung der Tarifvertragsparteien zu werten. Im übrigen ist gemäß der vorstehend bereits erwähnten Vermutung davon auszugehen, daß die tariffähigen Vertragspartner der AWV von ihrer Normsetzungsbefugnis Gebrauch machen und nicht lediglich schuldrechtliche Abreden treffen wollten. Auch deshalb ist die AWV, soweit sie Sachverhalte regelt, auf die sich die Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien bezieht, als Tarifvertrag zu qualifizieren. Dies gilt auch für den Kündigungsverzicht in § 4, §10 Abs. 3 AWV. Zwar ist diese Bestimmung nicht von der Unterschrift des KAV NW gedeckt. Dies steht jedoch ihrer Bewertung als Tarifnorm nicht entgegen. Sie betrifft einen durch Tarifvertrag regelbaren Sachverhalt und stellt sich als eine Beendigungsnorm im Sinne von § 1 Abs. 1 TVG dar, die von tariffähigen Parteien (Arbeitgeber und Gewerkschaft) vereinbart wurde. § 4, §10 Abs. 3 AWV ist daher eine Tarifnorm. Insoweit ist die AWV Firmentarifvertrag und gilt deshalb unmittelbar für das Arbeitsverhältnis der Klägerin.

3. Da die Änderungskündigung bereits nach § 4, §10 Abs. 3 AWV, § 4 TVG, § 134 BGB unwirksam ist, ist nach § 13 Abs. 3 KSchG nicht zu prüfen, ob sie auch sozial ungerechtfertigt wäre.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

 

Unterschriften

Dr. Peifer, Dr. Armbrüster, Gräfl, D. Knauß, G. Schäferkord

 

Veröffentlichung

Veröffentlicht am 27.09.2001 durch Schneider, Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

 

Fundstellen

Haufe-Index 657432

FA 2002, 62

NZA 2002, 407

ZTR 2002, 120

AuA 2002, 281

EzA

PersR 2002, 137

NJOZ 2002, 852

Dieser Inhalt ist unter anderem im TVöD Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge