Entscheidungsstichwort (Thema)
Außerordentliche Kündigung nach Einigungsvertrag
Leitsatz (amtlich)
Der wichtige Grund nach Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 5 Ziff. 2 der Anlage I zum Einigungsvertrag kann durch bloßen Zeitablauf entfallen, wenn der Kündigungsberechtigte die Kündigung trotz Kenntnis des Kündigungsgrundes hinauszögert. Die weitergehenden Voraussetzungen einer Verwirkung müssen nicht erfüllt sein, um die Unwirksakeit der Kündigung annehmen zu können (im Anschluß an die Senatsurteile vom 11. Juni 1992 – 8 AZR 537/91 – und – 8 AZR 474/91 – AP Nr. 1 und 4 zu Einigungsvertrag Anlage I Kap. XIX, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts vorgesehen).
Normenkette
Einigungsvertrag Art. 20 Abs. 1; Einigungsvertrag Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschn. III Nr. 1 Abs. 5 Ziff. 2; BGB § 626; GG Art. 12 Abs. 1; KSchG § 1
Verfahrensgang
LAG Berlin (Urteil vom 26.11.1992; Aktenzeichen 7 Sa 68/92) |
ArbG Berlin (Urteil vom 07.05.1992; Aktenzeichen 59 A Ca 29845/91) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 26. November 1992 – 7 Sa 68/92 – aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung, die die Beklagte unter Berufung auf Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 5 Ziff. 2 der Anlage I zum Einigungsvertrag (künftig: Abs. 5 Ziff. 2 EV) ausgesprochen hat.
Der 1943 geborene Kläger war von September 1964 bis Februar 1990 Angehöriger der Paßkontrolleinheiten (PKE) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der ehemaligen DDR. Er war zuletzt im Stabsbereich als Offizier mit dem Dienstgrad eines Majors für Rechtsfragen und Eingabenbearbeitung zuständig. Nachdem er im März 1990 in die Grenztruppen der ehemaligen DDR übernommen worden war, wurde er mit Wirkung ab 1. Oktober 1990 vom Ministerium des Innern der ehemaligen DDR als Mitarbeiter im Grenzdienst eingestellt.
Mit Inkrafttreten des Einigungsvertrags am 3. Oktober 1990 wurde der Kläger in die Dienste der Beklagten übernommen. Im Oktober 1990 machte er gegenüber der Beklagten Angaben über seine Tätigkeit für das MfS. Eine vom Bundesminister des Innern eingesetzte Kommission empfahl daraufhin nach einer Anhörung des Klägers am 11. Dezember 1990 dessen Übernahme in ein Dienstverhältnis beim Bundesgrenzschutz. Es war vorgesehen, die übernommenen Mitarbeiter für den Fall einer endgültigen Weiterbeschäftigung zu verbeamten. Da der Kläger für eine Weiterbeschäftigung im Grenzschutzdienst gesundheitlich nicht geeignet war, wurde er ab dem 1. Januar 1991 als Bearbeiter I/2 im Bundesgrenzschutz – Grenzschutzdirektion, Außenstelle Berlin – eingesetzt. Die Parteien unterzeichneten am 28. Juni 1991 einen Arbeitsvertrag, in dem sie die Weiterbeschäftigung des Klägers als Bearbeiter (VergGr. VIb BAT-O) auf unbestimmte Zeit vereinbarten. Nach dem unbestrittenen Vortrag der Beklagten erfolgte die Vertragsumstellung ausschließlich wegen der vergütungsrechtlichen Konsequenzen und der Angleichung an den BAT-O.
Mit Schreiben vom 27. November 1991 teilte die Beklagte dem Kläger ihre Absicht mit, das Arbeitsverhältnis außerordentlich ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist zu kündigen, und gab ihm Gelegenheit zur Stellungnahme. Am 11. Dezember 1991 ging dem Kläger das Kündigungsschreiben vom 10. Dezember 1991 zu.
Der Kläger hält die Kündigung für unwirksam. Er hat vorgetragen, ein Festhalten am Arbeitsverhältnis erscheine deshalb nicht unzumutbar, weil ihm ein persönliches Unrecht nicht vorzuwerfen sei. Das Kündigungsrecht sei jedenfalls verwirkt. Die Beklagte habe spätestens im Herbst 1990 die Stellung der PKE innerhalb des MfS und seine eigene Position gekannt. Durch Auskünfte der Gauck-Behörde im Juli 1991 habe die Beklagte keine neuen Tatsachen erfahren. Im übrigen hätte es der Beklagten oblegen, auf die vorhandene Literatur zurückzugreifen oder aber die eigenen Dienststellen an der Grenze zu befragen. Da die Beklagte trotz Kenntnis aller ihrer Meinung nach zur Kündigung berechtigenden Tatsachen die Kündigung nicht ausgesprochen habe, habe er darauf vertrauen können, die Beklagte werde von ihrem vermeintlichen Kündigungsrecht keinen Gebrauch mehr machen. Im Hinblick auf die Empfehlung der Anhörungskommission im Dezember 1990 habe er davon abgesehen, aus dem Dienst auszuscheiden und eine Umschulung zum Steuerassistenten zu beginnen. Er hätte dann für die Dauer der Umschulung ein wesentlich höheres Arbeitslosengeld erhalten, als er es nach der Kündigung vom 10. Dezember 1991 tatsächlich erhalten habe. Sämtliche früheren Bekannten aus den Reihen der PKE, die eine Fortbildung begonnen und abgeschlossen hätten, seien zwischenzeitlich feste Arbeitsverhältnisse eingegangen, die ihnen ein angemessenes Auskommen sicherten. Da sich die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt inzwischen geändert hätten, werde es ihm schwerfallen, nach einer Fortbildung einen Berufseinstieg zu finden. Die Beklagte habe ihn und die weiteren übernommenen Mitarbeiter der PKE dringend für einen ordnungsgemäßen Grenzschutz im Beitrittsgebiet benötigt. Sie habe die fristlosen Kündigungen nicht aus eigenem Antrieb, sondern wider besseres Wissen und aufgrund des Drucks einer gewissen Öffentlichkeit ausgesprochen.
Der Kläger hat beantragt
festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die fristlose Kündigung der Beklagten vom 10. Dezember 1991 nicht aufgelöst worden sei.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat geltend gemacht, die Weiterbeschäftigung ehemaliger Mitarbeiter der PKE habe auf der irrigen Annahme beruht, diese seien nur formell dem MfS unterstellt gewesen. Daran seien erst Zweifel aufgekommen, als sich ab April 1991 die öffentliche Kritik an der Übernahme ehemaliger Mitarbeiter der PKE in den Bundesgrenzschutz gemehrt habe. Gewißheit über die konspirative Arbeitsweise der PKE-Angehörigen auch im Bereich der Grenzkontrolle und ihre tatsächliche Funktion im Repressionssystem der DDR sei erst Anfang Juli 1991 entstanden. Aus von der Gauck-Behörde zur Verfügung gestellten Dokumenten hätten sich erstmals die politisch-operativen Tätigkeiten und Funktionen der PKE ergeben: Weitergabe von Informationen wie bei Spitzeln, Wegnahme von Ausweisen und anderen Dokumenten zur Verwendung für Spitzel, verdeckte Ermittlungen in den Interzonenzügen, z.B. Ablauschen von Gesprächen, Anwerbung informeller Mitarbeiter unter den Reisenden und Druckausübung, sobald sich eine Unregelmäßigkeit ergeben habe. Wie sich herausgestellt habe, sei die bloße Paßkontrolle von PKE-Angehörigen in untergeordneten Funktionen, vorrangig von Fähnrichen, wahrgenommen worden; bei Besonderheiten seien stets Offiziere der PKE eingeschritten, die als besonders regimetreu einzustufen gewesen seien und sich gegenüber der Bevölkerung besonders schikanös benommen hätten. Aufgrund der neuen Erkenntnisse sei nochmals eine Einzelfallprüfung angeordnet worden. Unter diesen Umständen habe der Kläger nicht darauf vertrauen dürfen, sein Arbeitsverhältnis werde ungekündigt weiterbestehen.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit ihrer Revision verfolgt die Beklagte das Ziel der Klagabweisung weiter, während der Kläger Zurückweisung der Revision beantragt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Landesarbeitsgericht.
I. Das Landesarbeitsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung, teilweise unter Bezugnahme auf das Urteil des Arbeitsgerichts, im wesentlichen ausgeführt:
Zwar würden die Umstände des ehemaligen Beschäftigungsverhältnisses des Klägers beim MfS eine fristlose Kündigung nach Abs. 5 Ziff. 2 EV grundsätzlich rechtfertigen. Das folge aus der Dauer seiner Tätigkeit, seinem Dienstgrad beim Ausscheiden, dem ehemals und derzeit hoheitlichen Charakter seiner Aufgaben und der Stellung des Bundesgrenzschutzes in der öffentlichen Verwaltung.
Die Unwirksamkeit der Kündigung ergebe sich jedoch aus dem Gesichtspunkt der Verwirkung. Die Beklagte habe die für die Verwirkung erforderliche längere Zeit mit dem Ausspruch der Kündigung gewartet, obwohl ihr die Kündigung möglich und zumutbar gewesen sei. Die Tätigkeit des Klägers für das frühere MfS sei ihr spätestens seit Dezember 1990 vollständig einschließlich aller tatsächlichen Umstände bekannt gewesen. Die Nachforschungen von April bis Juli 1991 hätten nicht zu neuen Kenntnissen, sondern nur zu einer anderen Bewertung des bekannten Sachverhalts geführt. Auch sei bereits am 3. Oktober 1990 im wesentlichen bekannt gewesen, in welcher Art und Weise die Angehörigen des MfS am Unterdrückungssystem der ehemaligen DDR beteiligt gewesen seien. Es sei dem Kläger wegen des Zeitablaufs und des sonstigen bei ihm Vertrauen schaffenden Verhaltens der Beklagten nicht mehr zumutbar gewesen, die Ausübung des Kündigungsrechts durch die Beklagte hinnehmen zu müssen. Der Kläger habe wegen des Ausbleibens einer Kündigung im Jahre 1990 davon abgesehen, eine Umschulung zum Steuerassistenten zu beginnen, die inzwischen zur Eingehung eines festen Arbeitsverhältnisses geführt hätte; dagegen hätte der Beginn einer Umschulung nach der Kündigung vom 10. Dezember 1991 nur schwer zu einem anderen Berufseinstieg geführt.
Die Unwirksamkeit der Kündigung ergebe sich ferner aus einem Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Beklagte habe nicht das mildere Mittel der ordentlichen Kündigung gewählt, obwohl ihr das möglich und zumutbar gewesen wäre. Angesichts der kurzen Kündigungsfrist von nur 2 Wochen und im Hinblick auf das lange Zuwarten der Beklagten mit dem Ausspruch der Kündigung hätte das Arbeitsverhältnis trotz Vorliegens des in Abs. 5 Ziff. 2 EV genannten wichtigen Grundes fristgemäß gekündigt werden können. Im übrigen sei auch eine ordentliche Kündigung wegen fehlender Eignung des Klägers gem. Abs. 4 Ziff. 1 EV möglich gewesen. Jede ordentliche Kündigung wäre für den Kläger schon im Hinblick auf etwaige Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit weniger einschneidend gewesen.
II. Die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.
1. Nach Art. 20 Abs. 1 EV gelten für die Arbeitsverhältnisse der Angehörigen des öffentlichen Dienstes zum Zeitpunkt des Beitritts die in der Anlage I zum EV vereinbarten Kündigungsregelungen. Unstreitig hat das am 1. Oktober 1990 mit dem Ministerium des Innern begründete Arbeitsverhältnis des Klägers beim Zugang der Kündigungserklärung mit der Beklagten fortbestanden. Das Landesarbeitsgericht ist daher zu Recht davon ausgegangen, daß Art. 20 EV Anwendung findet (vgl. Senatsurteil vom 20. Januar 1994 – 8 AZR 274/93 – zur Veröffentlichung vorgesehen, zu B 2 der Gründe; Senatsurteil vom 20. Januar 1994 – 8 AZR 502/93 – zur Veröffentlichung vorgesehen, zu II 1, 2 der Gründe).
2. Die Rechtsunwirksamkeit der Kündigung vom 10. Dezember 1991 folgt nicht schon daraus, daß die Beklagte bereits mehr als 2 Wochen vor der Kündigung von den maßgebenden Kündigungstatsachen Kenntnis erlangt hat. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend angenommen, daß Abs. 5 Ziff. 2 EV auch insofern eine eigenständige Regelung darstellt, als Fristen, innerhalb derer die Kündigung auszusprechen sei, keine Anwendung finden. Das gilt für § 626 Abs. 2 BGB ebenso wie für § 54 Abs. 2 BAT-O, sofern es sich hierbei überhaupt um eine gegenüber § 626 Abs. 2 BGB eigenständige Regelung handelt (Senatsurteile vom 11. Juni 1992 – 8 AZR 537/91 – und – 8 AZR 474/91 – AP Nr. 1 und 4 zu Einigungsvertrag Anlage I Kap. XIX, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts bestimmt, zu A II 1b bzw. B II 1b der Gründe; Senatsurteile vom 22. April 1993 – 8 AZR 655/92 – und – 8 AZR 656/92 – jeweils n.v., zu II 4 der Gründe). Der Gesetzgeber hat abschließend festgelegt, was unzumutbar ist. Die Tarifvertragsparteien haben keine Möglichkeit, “günstigere” Regelungen in den Fällen zu treffen, in denen der Gesetzgeber die Frage der Unzumutbarkeit geregelt hat.
3. Ob die Voraussetzungen für eine außerordentliche Kündigung nach Abs. 5 Ziff. 2 EV vorliegen, kann noch nicht abschließend beurteilt werden.
a) Nach Abs. 5 Ziff. 2 EV ist ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung insbesondere dann gegeben, wenn der Arbeitnehmer für das frühere Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit tätig war und deshalb ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint.
aa) Der Senat hat in den Urteilen vom 11. Juni 1992 (aaO, zu A II 1 bzw. B II 1 der Gründe) begründet, unter welchen Voraussetzungen dieser Kündigungstatbestand erfüllt ist:
Danach regelt Abs. 5 Ziff. 2 EV eigenständig und abschließend, unbeschadet von § 626 BGB, die Möglichkeit einer außerordentlichen Kündigung im öffentlichen Dienst. Einer Ergänzung durch eine teilweise oder vollständige Anwendung des § 626 BGB bedarf es nicht. Nur eine bewußte Tätigkeit für das MfS kann die Kündigung rechtfertigen. Bei einer hauptberuflichen Mitarbeit im MfS ist diese Voraussetzung in der Regel erfüllt.
Da Abs. 5 Ziff. 2 EV die Unzumutbarkeit allein aus der früheren Tätigkeit herleitet, ist in jedem Einzelfall zu prüfen, ob die frühere Tätigkeit ein Festhalten am (jetzigen) Arbeitsverhältnis noch zu rechtfertigen vermag. Das individuelle Maß der Verstrickung bestimmt hierbei über die außerordentliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses. Der Grad der Belastung wird bei einem hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit durch seine Stellung sowie die Dauer seiner Tätigkeit bestimmt. Berücksichtigungsfähig sind weiterhin Zeitpunkt und Grund der Aufnahme und der Beendigung dieser Tätigkeit für die Staatssicherheit. Ebensowenig wie besondere Einzelakte oder Auswüchse der Tätigkeit des Beschäftigten von Abs. 5 Ziff. 2 EV als Kündigungsgrund vorausgesetzt werden, besteht Grund zu der Annahme, etwaige Begünstigungen einzelner Verfolgter der Staatssicherheit fielen besonders ins Gewicht.
Besondere Bedeutung kommt dem Merkmal “erscheint” zu. Damit hebt die Norm auf die vordergründige Erscheinung der Verwaltung mit diesem Mitarbeiter ab. Die Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes sollen nicht darin behindert werden, dauerhaftes Vertrauen der Bürger in die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zu schaffen. Folglich korrespondiert die Notwendigkeit einer außerordentlichen Kündigung mit der Bedeutung der früheren Tätigkeit und der Stellung des Beschäftigten beim MfS. Je höher die Stellung oder je größer das Maß der Verstrickung, desto unwahrscheinlicher ist im Regelfall die Annahme, dieser Beschäftigte sei als Angehöriger des öffentlichen Dienstes der Bevölkerung noch zumutbar.
bb) Der Frage, ob die frühere Tätigkeit ein Festhalten am jetzigen Arbeitsverhältnis noch zu rechtfertigen vermag, wohnt auch ein zeitliches Element inne. Zwar ist – wie ausgeführt – § 626 Abs. 2 BGB nicht anwendbar. Das bedeutet aber nicht, daß der Arbeitgeber die Kündigung zeitlich unbegrenzt aussprechen kann. § 626 Abs. 2 BGB stellt eine Konkretisierung des Gedankens dar, daß die Fortsetzung des Dienst- oder Arbeitsverhältnisses aufgrund von Zeitablauf zumutbar werden kann. Bereits im Regierungsentwurf zu § 626 Abs. 2 BGB wird in diesem Sinne ausgeführt, daß “bei einer längeren Hinauszögerung der Kündigung nach der Kenntniserlangung von dem Kündigungsgrund die für die sofortige Lösung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Unzumutbarkeit seiner Fortsetzung kaum angenommen werden kann” (BT-Drucks. V/3913, S. 11; in demselben Sinne BAGE 24, 341, 343 f. = AP Nr. 3 zu § 626 BGB Ausschlußfrist, unter I 2 der Gründe; BAGE 24, 383, 393f. = AP Nr. 4 aaO, zu II 2a der Gründe; Staudinger/Neumann, BGB, 12. Aufl., § 626 Rz 70, 81; MünchKomm – Schwerdtner, BGB, 2. Aufl., § 626 Rz 163 f., 167; Erman/Hanau, BGB, 9. Aufl., § 626 Rz 85; Palandt/Putzo, BGB, 53. Aufl., § 626 Rz 30 f.). Die sofortige Lösung des Arbeitsverhältnisses nach längerer Zeit verbietet sich auch unter dem Gesichtspunkt des widersprüchlichen Verhaltens. Der Kündigungsberechtigte darf einen Kündigungsgrund unabhängig von § 626 Abs. 2 BGB nicht beliebig lange zurückhalten, um davon bei ihm gut dünkender Gelegenheit Gebrauch zu machen. Diese Auslegung folgt aus Art. 12 Abs. 1 GG, nach dem der Staat einen Mindestkündigungsschutz zur Verfügung stellen muß (BVerfG Beschluß vom 21. April 1994 – 1 BvR 14/93 – demnächst EzA Art. 20 Einigungsvertrag Nr. 32; BVerfGE 84, 133, 147 = AP Nr. 70 zu Art. 12 GG, zu C III 1 der Gründe). Auch außerhalb des Anwendungsbereichs von § 626 Abs. 2 BGB kann daher der wichtige Grund nach Abs. 5 Ziff. 2 EV durch bloßen Zeitablauf entfallen, ohne daß die weitergehenden Voraussetzungen der allgemeinen Verwirkung, wie das Vorliegen eines Umstandsmoments, erfüllt sein müßten.
Eine feste Zeitgrenze, ab wann keine Unzumutbarkeit des Festhaltens am Arbeitsverhältnis mehr gegeben ist, besteht nicht. Die Zweiwochenfrist des § 626 Abs. 2 BGB ist auf einmalige Vorfälle zugeschnitten und paßt wegen der besonderen Umstände der deutschen Wiedervereinigung nicht. Vielmehr bedarf es einer Prüfung, aus welchen Gründen nicht innerhalb der Zweiwochenfrist gekündigt wurde, sowie einer Abwägung des Zeitablaufs mit dem Gewicht der Kündigungsgründe. Maßgebend sind die konkreten Umstände des Einzelfalles. Das Erscheinungsbild der Verwaltung wird mitgeprägt von der Zeitdauer, die der frühere MfS-Mitarbeiter nach der Wiedervereinigung unbeanstandet tätig war.
b) Die Tätigkeit des Klägers für das MfS konnte zum Zeitpunkt ihres Bekanntwerdens die Unzumutbarkeit des Festhaltens am Arbeitsverhältnis für die Beklagte begründen. Das hat das Landesarbeitsgericht im Ergebnis zutreffend erkannt, auch wenn seine Würdigung sehr kurz ausfällt und auf die Art der Tätigkeit nicht besonders eingeht.
Der Kläger hat bewußt für das MfS gearbeitet. Er hat nach seinem eigenen Vorbringen im Range eines Majors Rechtsfragen und Eingaben im Zusammenhang mit Grenzübertritten in der ehemaligen DDR bearbeitet. Sein Einfluß erstreckte sich auf Teile der Paßkontrollordnung, etwa zur Behandlung bevorrechtigter Personen und zur Gewährleistung der öffentlichen Ordnung an Grenzübergängen. Die Feststellung bestimmter einzelner Handlungen ist nicht erforderlich. Abzustellen ist auf das Erscheinungsbild der Behörde, bei der der Kläger beschäftigt war. Wer als hauptberuflicher Mitarbeiter des MfS hoheitliche Aufgaben wie der Kläger ausgefüllt hat, ist nicht geeignet, dem Bürger wieder bei Auskünften und Beschwerdefällen entgegenzutreten und die Änderung von Rechtsvorschriften, insbesondere des Paß- und Ausländerrechts, im Interesse des betroffenen Bürgers umzusetzen. Dadurch würde das Vertrauen in die Rechtmäßigkeit der Verwaltung empfindlich gestört. Der Kläger hat weitere für ihn sprechende Tatsachen nicht vorgetragen. Es ist unerheblich, ob er tschekistische Überwachung selbst wahrgenommen, repressive oder geheimdienstliche Maßnahmen selbst durchgeführt oder veranlaßt und Vorgesetztenfunktionen im Sinne des Beamtenrechts wahrgenommen hat. Jedenfalls hat er alle seine Aufgaben erfüllt und zur Durchsetzung der restriktiven Paß- und Grenzvorschriften der ehemaligen DDR nicht unerheblich beigetragen.
c) Das Landesarbeitsgericht hat bei der Prüfung des wichtigen Grundes nach Abs. 5 Ziff. 2 EV die Frage des Zeitablaufs nicht berücksichtigt. Das wird nachzuholen sein. Die Berücksichtigung des Zeitmoments im Rahmen des wichtigen Grundes ist schon wegen der geringeren Voraussetzungen gegenüber der Verwirkung vorrangig.
d) Die Zumutbarkeit des Festhaltens am Arbeitsverhältnis kann nicht mit den vom Landesarbeitsgericht angeführten Erwägungen zur Verwirkung bejaht werden. Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, das Kündigungsrecht sei verwirkt, hält einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Ein Festhalten am Arbeitsverhältnis kann aber auch dann zumutbar sein, wenn die Voraussetzungen der Verwirkung nicht vorliegen.
Aus der Tatsache, daß der Kläger mit Inkrafttreten des Einigungsvertrags zunächst übernommen worden ist, kann nichts hergeleitet werden. Bei der Vielzahl der auf eine weitere Verwendbarkeit zu überprüfenden Arbeitnehmer konnte nicht geschlossen werden, die bloße Übernahme garantiere bereits ein endgültiges Verbleiben bei der Behörde. Die Überprüfung im Dezember 1990 beruhte lediglich auf den Angaben der Arbeitnehmer und führte nach der Empfehlung der vom Bundesminister des Innern eingesetzten Kommission nicht eindeutig zu einer endgültigen Entscheidung über die Weiterbeschäftigung. Auch die schriftlichen Verträge vom 23. April 1991, 14. Juni 1991 und 28. Juni 1991 betrafen jeweils nur eine bestimmte regelungsbedürftige Situation. Allerdings wird zu prüfen sein, aus welchem Grund die Probezeitklausel in § 3 des Vertrages vom 28. Juni 1991 gestrichen worden ist. Bei der Frage des Zeitablaufs ist der Beklagten selbst bei Kenntnis des wesentlichen Sachverhalts ein angemessener Zeitraum für dessen Bewertung und die Prüfung der Akzeptanz einer Weiterbeschäftigung bestimmter Arbeitnehmergruppen einzuräumen. Ihr ist zuzugestehen, in Abwägung der betroffenen Interessen das Meinungsbild in der Öffentlichkeit, das sich naturgemäß erst nach Ablauf einer gewissen Zeit bildet, mitzuberücksichtigen. Der Kläger konnte demnach zunächst bis April 1991 nicht davon ausgehen, daß die Beklagte eine abschließende Wertung über die Bedeutung der Zuordnung der PKE zum MfS getroffen habe. Ihm war auch nach der Anhörung vom 11. Dezember 1990 bewußt, daß die Tätigkeit für das MfS weiterhin ein für die Beklagte erheblicher Kündigungstatbestand war. Die Bewertung der PKE wurde jedenfalls ab April 1991 in der Öffentlichkeit diskutiert, so daß der Kläger mit einer weiteren Meinungsbildung bei der Beklagten rechnen mußte. Dafür spricht auch die Verschiebung der zunächst vorgesehenen Verbeamtung. Die Beklagte hat dann nach der endgültig negativen Bewertung der PKE im Juli 1991 nicht unzumutbar lange mit der Kündigung zugewartet; denn danach waren, wie für den Kläger einsichtig sein mußte, wieder zahlreiche Einzelfallprüfungen erforderlich.
4. Die Kündigung verletzt entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts nicht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Es kann dahinstehen, welche Bedeutung diesem Grundsatz im Zivilrecht und im Kündigungsrecht generell zukommt (vgl. hierzu nur KR-Wolf, 3. Aufl., Grundsätze Rz 280 ff.). Ebenso wie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Bestandteil der in § 626 BGB und § 1 KSchG vorzunehmenden Interessenabwägung ist, kommt er auch in Abs. 5 EV deutlich zum Ausdruck. Die Kündigung darf (als ultima ratio) nur erfolgen, wenn ein Festhalten am Arbeitsverhältnis schlechterdings unzumutbar erscheint. Erscheint im Einzelfall das Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar, kann die deswegen erfolgte Kündigung infolgedessen keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit darstellen. Ist das Festhalten am Arbeitsverhältnis nicht unzumutbar, bedarf es der Heranziehung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nicht.
Unterschriften
Dr. Ascheid, Dr. Wittek, Dr. Mikosch, Dr. Weiss, R. Schmidt
Fundstellen
Haufe-Index 856672 |
BAGE, 334 |
BB 1994, 1863 |
NZA 1995, 169 |