Entscheidungsstichwort (Thema)
Anwartschaft auf Zusatzrente nach der Anordnung 54?
Leitsatz (redaktionell)
Parallelsache zu – 3 AZR 72/97 –
Normenkette
Einigungsvertrag Anl. II Kap. VIII Sachgebiet H Abschn. III Nr. 4; Einigungsvertrag Anl. I Kap. VIII Sachgebiet A Abschn. III Nr. 16; Anordnung zur Einführung einer Zusatzrentenversorgung für die Arbeiter und Angestellten in den wichtigsten volkseigenen Betrieben vom 9. März 1954 (Anordnung 54) § 3; Einigungsvertrag Art. 30 Abs. 2
Verfahrensgang
Tenor
1. Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 29. November 1995 – 11 Sa 565/95 – wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten darum, ob die Klägerin bei Eintritt in den Ruhestand von der Beklagten betriebliche Versorgungsleistungen nach der Anordnung zur Einführung einer Zusatzrentenversorgung für die Arbeiter und Angestellten in den wichtigsten volkseigenen Betrieben vom 9. März 1954 (Anordnung 54) haben wird.
Die am 11. Mai 1938 geborene Klägerin war vom 1. September 1952 bis zum 30. Juni 1993 bei der Beklagten und deren Rechtsvorgängerin beschäftigt. Ihr Arbeitsverhältnis endete aufgrund einer betriebsbedingten Kündigung. Das Unternehmen der Rechtsvorgängerin der Beklagten gehörte zu den wichtigsten volkseigenen Betrieben der früheren DDR, für deren Arbeitnehmer die Anordnung 54 die Möglichkeit eröffnete, Zusatzversorgungsansprüche zu erwerben.
In § 3 Anordnung 54 heißt es:
„Der Anspruch auf Zusatzrente besteht, wenn Arbeiter oder Angestellte
- noch beschäftigt oder aus einem dieser Betriebe wegen Invalidität oder Überschreitung der Altersgrenze ausgeschieden sind und
- eine 20jährige ununterbrochene Beschäftigungsdauer in diesem Betrieb und
- den Bezug einer Alters-, Invaliden- oder Unfallvollrente nachweisen.”
Die Anordnung 54 wurde im Betrieb der Rechtsvorgängerin der Beklagten jährlich durch Betriebskollektivverträge umgesetzt. Der letzte dieser Verträge trat am 15. Februar 1990 für das Jahr 1990 in Kraft. In diesem Betriebskollektivvertrag heißt es unter Ziff. 4 der Anlage 1 u.a., daß Werktätige des Betriebes Anspruch auf eine Betriebsrentenversorgung unter den gleichen Voraussetzungen wie nach § 3 und § 4 Anordnung 54 haben.
Unter dem 26. September 1990 wurde zwischen der Geschäftsleitung der Beklagten und der Belegschaftsvertretung, vertreten durch die amtierende Vorsitzende der Betriebsgewerkschaftsleitung ein Sozialplan abgeschlossen. Nach seiner Ziff. 1 gilt der Sozialplan u.a. für alle Arbeitnehmer, die im Zusammenhang mit einer Betriebsänderung aufgrund von Kündigungen, die zwischen dem 24. September und dem 31. Oktober 1990 ausgesprochen worden sind, aus dem Arbeitsverhältnis ausscheiden. Nach Ziff. 2.6 des Sozialplanes bleibt für alle gekündigten Arbeitnehmer – für Männer ab Vollendung des 60. Lebensjahres, für Frauen ab Vollendung des 55. Lebensjahres – der Anspruch auf Zahlung der betrieblichen Altersversorgung erhalten, wenn sie die Bedingungen zur Zahlung der Betriebsrente zum Zeitpunkt des letzten Arbeitstages erfüllten.
Die Beklagte teilte der Klägerin mit, die Zusatzrentenregelung sei mit dem 31. Dezember 1991 weggefallen. Sie nahm dabei Bezug auf die Bestimmung in der Anl. II Kap. VIII Sachgebiet H Abschn. III Nr. 4 zum Einigungsvertrag:
„Folgendes Recht der Deutschen Demokratischen Republik bleibt mit folgenden Maßgaben in Kraft:
…
4. Anordnung über die Einführung einer Zusatzrentenversorgung für die Arbeiter und Angestellten in den wichtigsten volkseigenen Betrieben vom 9. März 1954 (GBl. Nr. 30 S. 301) mit folgenden Maßgaben:
- Die Anordnung ist bis zum 31. Dezember 1991 anzuwenden.
- Von der Anordnung kann für die Zeit bis 31. Dezember 1991 durch Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung abgewichen werden.
…
…”
Mit ihrer Klage hat die Klägerin den Standpunkt eingenommen, ihr stehe bei Eintritt des Versorgungsfalles, voraussichtlich im Jahre 1998, eine Zusatzversorgung nach der Anordnung 54 zu. Sie habe deren Voraussetzungen erfüllt. Ihr Anspruch ergebe sich auch aus dem Betriebskollektivvertrag vom 15. Februar 1990 und dem Sozialplan vom 26. September 1990. Im übrigen habe die Beklagte auch über den 31. Dezember 1991 hinaus Versorgungsbezüge nach der Anordnung 54 gezahlt. Sie habe am 12. Juli 1991 auch gegenüber dem Betriebsrat erklärt, die betriebliche Altersversorgung solle nur für Neueinstellungen ab dem 1. Juli 1991 nicht mehr gelten.
Die Klägerin hat zuletzt sinngemäß beantragt
festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin mit Eintritt des Versorgungsfalles eine Zusatzrente in Höhe von 5 % des zuletzt erzielten monatlichen Nettodurchschnittsentgelts der letzten fünf Jahre zu zahlen, wobei für die Berechnung des Nettodurchschnittsentgeltes der Zeitraum vom 1. Juli 1988 bis einschließlich 30. Juni 1993 maßgeblich ist.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Ab dem 1. Januar 1992 hätten Ansprüche aufgrund der Anordnung 54 nicht mehr begründet werden können. Auch eine unverfallbare Versorgungsanwartschaft habe die Klägerin nicht erworben.
Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben die Klage abgewiesen. Mit ihrer Revision verfolgt die Klägerin ihr Klageziel weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin hat kein Recht erworben, aufgrund dessen sie bei Eintritt des Versorgungsfalles eine Zusatzrente nach der Anordnung 54 verlangen könnte.
I. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine Vollrente erworben. Sie ist nicht bis zum 31. Dezember 1991 aus dem Arbeitsverhältnis in den gesetzlichen Ruhestand gewechselt. Sie hat damit bis zu diesem Stichtag die Anspruchsvoraussetzungen des § 3 der Anordnung 54 nicht erfüllt. Nach dem 31. Dezember 1991 konnte sie einen Zusatzrentenanspruch nicht mehr erwerben. Die Bestimmung in der Anlage II Kap. VIII Sachgeb. H Abschn. III Nr. 4 zum Einigungsvertrag führte zwar nicht zum Verlust einmal entstandener Ansprüche aus der Anordnung 54. Mit der vom Einigungsvertrag angeordneten Unanwendbarkeit der Anordnung ab dem 1. Januar 1992 entfällt aber für die Zukunft die Möglichkeit, die Anspruchsvoraussetzungen zu erfüllen und den Anspruch zu erwerben (BAG Urteil vom 27. Februar 1996 – 3 AZR 242/95 – AP Nr. 4 zu Einigungsvertrag Anlage II Kap. VIII; Urteil vom 17. Dezember 1996 – 3 AZR 800/95 – AP Nr. 5 zu Einigungsvertrag Anlage II Kap. VIII).
II. Die Klägerin hat wegen der bis zum 31. Dezember 1991 zurückgelegten Zeit der Betriebszugehörigkeit auch keine unverfallbare Versorgungsanwartschaft erworben, aufgrund deren sie von der Beklagten im Versorgungsfall die Zahlung einer Teilrente verlangen könnte.
1. Der Einigungsvertrag ordnet eine zeitlich begrenzte Fortgeltung der Anordnung 54 als Teil des Rechts der DDR an. Dieses Recht kannte die Möglichkeit nicht, durch längere Betriebstreue schon vor Erfüllung aller Anspruchsvoraussetzungen eine unentziehbare Rechtsposition zu erwerben. Die Bedingung, bis zum Erhalt der gesetzlichen Rente in einem dem Geltungsbereich der Anordnung 54 unterfallenden Betrieb zu verbleiben, mußte erfüllt werden, damit ein Zusatzrentenanspruch nach der Anordnung 54 begründet war.
2. Auch der Erwerb einer Teilrente nach dem Betriebsrentenrecht der Bundesrepublik Deutschland ist ausgeschlossen. Das Gesetz über die Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung ist auf betriebliche Versorgungsansprüche nur anzuwenden, wenn es auf Versorgungszusagen aus der Zeit nach dem 31. Dezember 1991 zurückgeht (Anl. I Kap. VIII Sachgeb. A Abschn. III Nr. 16 zum Einigungsvertrag). Durch diese Anordnung des Einigungsvertrages ist zugleich festgelegt, daß die vorgesetzliche Unverfallbarkeitsrechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAGE 24, 177 = AP Nr. 156 zu § 242 BGB Ruhegehalt) im Rahmen der Anordnung 54 nicht anwendbar ist. Das Betriebsrentengesetz ist im Jahre 1974 für die Zukunft an die Stelle der bis dahin entwickelten Unverfallbarkeitsrechtsprechung getreten.
3. Insgesamt verdrängen damit nach dem Willen der Parteien des Einigungsvertrages die Regelungen der Anordnung 54 bis zum 31. Dezember 1991 das überkommene Betriebsrentenrecht der Bundesrepublik Deutschland, das erst in der Folgezeit gilt, in der die Anordnung 54 nicht mehr anzuwenden ist. Eine solche Aufteilung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. In der Zeit vor dem 3. Oktober 1990 war das Arbeitsverhältnis der in der DDR tätigen Arbeitnehmer von grundsätzlich anderen Wertungen geprägt. Diese sahen einen Erwerb nichtentziehbarer Teilrechte nicht vor. Die betroffenen Arbeitnehmer hieran festzuhalten und ihnen nicht nachträglich Rechte aus dem Betriebsrentenrecht der Bundesrepublik Deutschland einzuräumen, ist angesichts der umfassenden Veränderungen, die mit der Vereinigung eingetreten sind, von Rechts wegen nicht zu beanstanden (BAG Urteil vom 17. Dezember 1996 – 3 AZR 800/95 – AP Nr. 5 zu Einigungsvertrag Anlage II Kap. VIII, zu I 3 der Gründe).
4. Der Senat hält an dieser Rechtsprechung auch angesichts der Kritik von Stefan Griebeling (AuA 1997, 84 f. im Anschluß an Höfer, BetrAVG, Bd. I, Stand: 30. September 1995, ART 1271 und Gerd Griebeling, Betriebliche Altersversorgung, 1996, Rz 916, 919) fest. Entgegen der dort vertretenen Einschätzung hat der Senat in seinen Urteilen nicht zum Ausdruck gebracht, daß es seit der gesetzlichen Regelung des Betriebsrentenrechts eine Unverfallbarkeit außerhalb des Gesetzes, allein auf rechtliche Grundwertungen gestützt, nicht mehr gibt. Mit dem Inkrafttreten des Betriebsrentengesetzes ist aber in den Regelungsbereichen des Gesetzes aus Richterrecht Gesetzesrecht geworden. Wenn die Parteien des Einigungsvertrages vor diesem Hintergrund bestimmen, daß das Betriebsrentengesetz im Bereich der Anordnung 54 unanwendbar ist, dann ist damit zugleich bestimmt, daß auch die Rechtssätze unanwendbar sind, die der Gesetzgeber in den Jahren 1974 und in der Folgezeit in seinen Regelungswillen aufgenommen hat.
Stefan Griebeling weist zwar zu Recht darauf hin, daß es keinen grundlegenden wertungsmäßigen Unterschied zwischen Vollansprüchen und Versorgungsanwartschaften gibt. Diese Erkenntnis hilft aber im Zusammenhang mit der Anordnung 54 und den Regelungen des Einigungsvertrages hierzu nicht weiter. Die Parteien des Einigungsvertrages sind vom Recht der DDR ausgegangen, in dem zwei ganz unterschiedlich zu bewertende Situationen einander gegenüberstanden: Zum einen ging es um Ansprüche, die nach dem Recht der DDR bereits entstanden waren und für die Zukunft auf unbestimmte Zeit Rechte begründen sollten. Zum anderen waren bloße Erwerbschancen zu bewerten, die ohne zusätzliche Betriebstreue bis zum Eintritt des Versorgungsfalles nach dem Recht der DDR nicht zu Ansprüchen erstarken würden. Es gab keinen im Privatrechtssystem der Bundesrepublik Deutschland entstandenen Vertrauensschutz, den die Parteien des Einigungsvertrages zum 31. Dezember 1991 sichern mußten. Beschäftigungszeiten, die im staatswirtschaftlichen, hierarchisch gegliederten System der DDR zurückgelegt wurden, mußten, auch wenn es um betriebsrentenähnliche Ansprüche ging, nicht zwingend nach den Grundwertungen behandelt werden, die für die privatwirtschaftliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland maßgeblich sind.
III. Die Klägerin hat auch weder aus dem Betriebskollektivvertrag vom 15. Februar 1990, noch dem Sozialplan vom 26. September 1990, noch nach dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz ein Recht erworben, aufgrund dessen sie bei Eintritt des Versorgungsfalles von der Beklagten die Zahlung einer Betriebsrente verlangen könnte.
1. Die Rechtsvorgängerin der Beklagten hat in der Anlage 1 des Betriebskollektivvertrages unter Nr. 4 keine eigenständige, von der Anordnung 54 losgelöste Versorgungszusage gemacht. Der Betriebskollektivvertrag, der ohnehin nur für das Jahr 1990 gegolten hat, hat nur den Wortlaut des § 3 Buchst. a bis c der Anordnung 54 entsprechend der sich aus § 11 Anordnung 54 ergebenden Durchführungspflicht wörtlich übernommen. Ein Wille der Rechtsvorgängerin der Beklagten, sich unabhängig von der Fortgeltung der Anordnung 54 zu Versorgungsleistungen verpflichten zu wollen, läßt sich dem Betriebskollektivvertrag nicht entnehmen.
2. Der Sozialplan vom 26. September 1990 gibt der Klägerin schon deshalb keinen Anspruch, weil sie nicht in dessen Geltungsbereich fällt. Von ihm werden nur Arbeitnehmer erfaßt, die zwischen dem 24. September und dem 31. Oktober 1990 eine betriebsbedingte Kündigung erhalten haben. Der Klägerin ist erst mehr als zwei Jahre später gekündigt worden.
3. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch aus dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz. Mit der Zahlung von Versorgungsbezügen an andere frühere Arbeitnehmer über den 31. Dezember 1991 hinaus hat die Beklagte nur ihrer Pflicht genügt, einmal entstandene Ansprüche aus der Anordnung 54 auch weiter zu erfüllen. Eine Pflicht, für solche Arbeitnehmer, die am 31. Dezember 1991 noch keinen Anspruch erworben hatten, entgegen dem Recht der DDR eine Versorgungsanwartschaft anzuerkennen, kann sich daraus nicht ergeben.
IV. Die Klägerin kann schließlich für sich auch nichts aus der von ihr behaupteten Erklärung der Beklagten vom 12. Juli 1991 gegenüber dem Betriebsrat herleiten. Zum einen handelt es sich nicht um eine rechtsgeschäftliche Erklärung gegenüber der Klägerin. Zum anderen kann die behauptete Äußerung, die betriebliche Altersversorgung solle nur für Neueinstellungen ab dem 1. Juli 1991 nicht mehr gelten, nicht dahin ausgelegt werden, daß die Beklagte sich durch diese Erklärung verpflichten wollte, über das gesetzlich geschuldete Maß hinaus Anwartschaften und nicht nur die gesetzlich geschuldeten Ansprüche zu befriedigen.
Unterschriften
Dr. Heither, Kremhelmer, Bepler, Weinmann, H. Frehse
Fundstellen