Entscheidungsstichwort (Thema)
Ärztliches Beschäftigungsverbot
Leitsatz (redaktionell)
1. Einem mutterschutzrechtlichen ärztlichen Beschäftigungsverbot kommt ein hoher Beweiswert zu.
2. Das mutterschutzrechtliche ärztliche Beschäftigungsverbot kann widerlegt werden. Dies kann nicht nur durch eine anderweitige ärztliche Untersuchung geschehen. Vielmehr kann der Arbeitgeber tatsächliche Umstände darlegen, die den Schluß zulassen, daß das Beschäftigungsverbot auf nicht zutreffenden Angaben der Schwangeren, auch hinsichtlich ihrer Beschwerden, beruht.
3. Die Schwangere, der ein auf unrichtigen Angaben beruhendes ärztliches Beschäftigungsverbot erteilt worden ist, trägt das Lohnrisiko.
4. Der Arbeitgeber trägt das Risiko, das Gericht von der Unrichtigkeit des ärztlichen Beschäftigungsverbot überzeugen zu müssen.
Normenkette
MuSchG § 3 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin begehrt Mutterschaftslohn aufgrund eines ärztlichen Beschäftigungsverbotes.
Die Beklagten sind niedergelassene Zahnärzte. Die Klägerin war bei ihnen als Zahnarzthelferin beschäftigt. Anfang des Jahres 1993 wurde die Klägerin wegen einer Eileiterschwangerschaft operiert. Im Sommer desselben Jahres wurde sie erneut schwanger. In einer ärztlichen Bescheinigung vom 12. August 1993 wurde der 22. Februar 1994 als voraussichtlicher Geburtstermin angegeben. Das Kind der Klägerin wurde am 2. März 1994 geboren.
Mit einer ärztlichen Bescheinigung vom 29. Juli 1993 erteilte der Arzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Dr. Sch der Klägerin ein Beschäftigungsverbot. Die Bescheinigung lautet:
"Aufgrund des bisherigen Schwangerschaftsverlaufs
und der Vorgeschichte muß bei Weiterbeschäftigung
von Frau S eine Gefährdung von Mutter und
Kind angenommen werden, so daß im Sinne von Para-
graph 3 und Paragraph 4 des Mutterschutzgesetzes
ein Beschäftigungsverbot vorliegt."
Hierüber kam es - schon vorprozessual - zwischen den Parteien zu Auseinandersetzungen. Die Beklagten bestritten, daß ein Beschäftigungsverbot veranlaßt sei. Die Klägerin habe das ärztliche Verbot erschlichen, indem sie wahrheitswidrig angegeben habe, sie müsse Röntgenarbeiten ausführen. Die Klägerin habe eigens Erkundigungen beim Gewerbeaufsichtsamt eingezogen. Der Arzt Dr. Sch teilte mit, es treffe nicht zu, daß er das Beschäftigungsverbot auf Veranlassung des Gewerbeaufsichtsamtes ausgesprochen habe. Das Beschäftigungsverbot stehe auch nicht im Zusammenhang mit einer Röntgentätigkeit der Klägerin. Die Klägerin habe vielmehr auch ohne körperliche Belastungen Beschwerden, die schon bei ein- bis zweistündigem Stehen oder Sitzen deutlich zunähmen. Grundlage des Beschäftigungsverbots sei nicht der versehentlich genannte § 4, sondern nur § 3 des Mutterschutzgesetzes.
Die Klägerin hat von der Beklagten die Erstattung einer Attestgebühr in Höhe von 10,00 DM, restliche 100,00 DM Gehalt für den Monat August 1993 sowie Mutterschutzlohn für die Monate September 1993 bis Januar 1994 in Höhe von monatlich 1.281,07 DM netto, insgesamt also 6.515,35 DM netto verlangt.
Sie hat vorgetragen, das Beschäftigungsverbot sei zu Recht ausgesprochen worden. Es treffe nicht zu, daß sie es sich durch falsche Angaben erschlichen habe. Sie habe Schmerzen infolge postoperativer Narben an der Gebärmutter gehabt. Außerdem habe sie im Röntgenraum Arbeiten verrichten müssen.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen,
an sie 6.515,35 DM netto nebst 4 % Zinsen aus
100,00 DM seit dem 1. September 1993, sowie 4 %
Zinsen aus einem Betrag in Höhe von 1.281,07 DM
seit dem 1. Oktober 1993, 4 % Zinsen aus
1.281,07 DM seit dem 1. November 1993, 4 % Zinsen
aus 1.281,07 DM seit dem 1. Dezember 1993, sowie
4 % Zinsen aus 1.281,07 DM seit dem 1. Januar
1994 und weitere 4 % Zinsen aus 1.281,07 DM seit
dem 1. Februar 1994 zu zahlen.
Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen. Für ein Beschäftigungsverbot nach § 3 MuSchG habe es keinen hinreichenden Anlaß gegeben. Die Klägerin habe weder selbst röntgen noch an Röntgenaufnahmen teilnehmen müssen. Die von der Klägerin angegebenen Beschwerden seien nicht glaubhaft. Sie sei von Dezember 1993 bis Januar 1994 erkennbar ohne jede Beeinträchtigung oder Behinderung ihren privaten Besorgungen und Erledigungen nachgegangen. Von Belastungen oder gar Beschwerden bei körperlichen Betätigungen könne keine Rede sein.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage im wesentlichen stattgegeben. Die Berufung der Beklagten war nur hinsichtlich der Attestgebühr, hinsichtlich 53,63 DM für den Monat August (anstelle geforderter 100,00 DM) sowie für die Zeit ab Beginn der Schutzfrist im Monat Januar 1994 erfolgreich. Mit ihrer Revision wollen die Beklagten die Abweisung der Klage insgesamt erreichen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Nach den bisher getroffenen Feststellungen läßt sich nicht abschließend beurteilen, ob der Klägerin Mutterschaftslohn zusteht.
I. Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 MuSchG hat der Arbeitgeber einer schwangeren Frau das Arbeitsentgelt weiterzuzahlen, wenn die Frau wegen eines ärztlichen Beschäftigungsverbots nach § 3 Abs. 1 MuSchG ganz oder teilweise mit der Arbeit aussetzt. Gem. § 3 Abs. 1 MuSchG dürfen werdende Mütter nicht beschäftigt werden, soweit nach ärztlichem Zeugnis Leben oder Gesundheit von Mutter oder Kind bei Fortdauer der Beschäftigung gefährdet sind.
II. Die Klägerin hat wegen des Beschäftigungsverbots des Dr. Sch vom 29. Juli 1993 mit der Arbeit ausgesetzt. Ob dieses Beschäftigungsverbot zu Recht ausgesprochen worden ist, kann noch nicht abschließend beurteilt werden.
1. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, das Beschäftigungsverbot sei mit der Vorlage der ärztlichen Bescheinigung wirksam geworden. Damit sei auch die Zahlungspflicht der Beklagten nach § 11 MuSchG ausgelöst worden. Auch bei "berechtigten Zweifeln an der Richtigkeit des ärztlichen Zeugnisses" seien die schwangere Frau und der Arbeitgeber zwingend an das Beschäftigungsverbot gebunden. Es komme nicht darauf an, ob die Schwangerschaft die Ursache für die Gefährdung von Mutter und Kind sei. Deshalb seien auch die Grundsätze, die für den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung entwickelt worden seien, hier nicht anzuwenden. Dies folge aus der unterschiedlichen Fassung von § 1 LFZG und § 3 MuSchG. Beim ärztlichen Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs. 1 MuSchG sei der Arbeitgeber lediglich berechtigt, eine nochmalige Untersuchung der Schwangeren zu verlangen. Im Streitfall habe es zwar "handfeste Anhaltspunkte" für Zweifel an der sachlichen Berechtigung des ärztlichen Beschäftigungsverbotes gegeben. Diese hätten aber nur Anlaß für eine anderweitige Untersuchung der Klägerin geben können. Ohne eine solche Untersuchung sei der Wortlaut der ärztlichen Bescheinigung maßgebend. Eine Verteilung des Risikos der Klärung offener Fragen dürfe nicht zu Lasten der werdenden Mutter gehen.
2. Der Senat vertritt eine andere Auffassung.
a) Dem Landesarbeitsgericht ist im Ausgangspunkt darin zu folgen, daß ein Arzt, der ein ärztliches Beschäftigungsverbot verhängt, weil er bei der weiteren Beschäftigung der Schwangeren das Leben oder die Gesundheit der Mutter oder des Kindes gefährdet sieht, diese Entscheidung in eigener Verantwortung treffen muß. Die Erhebung der Befunde und deren Bewertung ist Aufgabe des Arztes. Das Gericht wird das nachvollziehbare Urteil eines Arztes weitgehend zu respektieren haben. Es kann nicht seine eigenen - wirklichen oder vermeintlichen - Fachkenntnisse zum Anlaß nehmen, über die ärztliche Prognose hinwegzugehen. Dazu reicht jedenfalls die Angabe einzelner Befunde nicht aus (BAG Urteil vom 5. Juli 1995 - 5 AZR 135/94 - AP Nr. 7 zu § 3 MuSchG 1968, zu II 2 b (2) der Gründe, m.w.N.).
Die fachliche Kompetenz entbindet den Arzt aber nicht von der Pflicht, seine Entscheidung mit großer Sorgfalt zu treffen. Er hat alle Umstände abzuwägen und verantwortlich zu entscheiden, ob eine Schwangerschaft normal verläuft, ob sie nicht normal verläuft, ob die Beschwerden Krankheitswert haben oder ob - im Vorfeld krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit - die Schwangere mit der Arbeit aussetzen muß, um Mutter oder Kind vor anderenfalls zu befürchtenden Schäden zu schützen. Hierbei muß dem Arzt ein Beurteilungsspielraum eingeräumt werden. Er muß eine Prognose abgegeben, kann also seine Entscheidung nie mit letzter Sicherheit treffen. Andererseits darf der Arzt nicht leichtfertig handeln. Verneint er einen Krankheitswert der Beschwerden und entschließt er sich dazu, das vom Gesetzgeber in seine Entscheidung gestellte Beschäftigungsverbot auszusprechen, dann bedarf es hierzu auch für ihn deutlicher und greifbarer Hinweise aus medizinischer Sicht. Dabei hat der Arzt zu entscheiden, ob er das Beschäftigungsverbot überhaupt erteilt, ob er es nur vorübergehend erteilt oder für die gesamte Zeit bis zur Entbindung.
Geht der Arzt so vor, so hat seine Bescheinigung, mit der er ein Beschäftigungsverbot erteilt, eine hohe Beweiskraft. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kann aber nicht angenommen werden, das ärztliche Beschäftigungsverbot sei praktisch unangreifbar und könne nur durch eine vom Arbeitgeber verlangte weitere ärztliche Untersuchung der Schwangeren widerlegt werden. Zwar wird regelmäßig eine zusätzliche ärztliche Untersuchung ein naheliegendes und geeignetes Mittel sein, die Annahmen und Schlußfolgerungen eines ärztlichen Beschäftigungsverbotes zu überprüfen. Das Mutterschutzgesetz hindert den Arbeitgeber aber keineswegs, Umstände darzulegen, die ungeachtet der medizinischen Bewertung den Schluß zulassen, daß ein Beschäftigungsverbot auf unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen beruht, insbesondere auf von der Schwangeren unrichtig geschilderten tatsächlichen Arbeitsbedingungen. Ebensowenig ist es dem Arbeitgeber verwehrt, Tatsachen darzulegen, die ergeben, daß Angaben der Schwangeren oder von ihr geklagte Beschwerden nicht verifizierbar sind. Immerhin ist denkbar, daß der Arzt durch eine übertriebene Darstellung von Beschwerden zum Ausspruch eines Beschäftigungsverbots veranlaßt oder gar ein Beschäftigungsverbot durch falsche Behauptungen erschlichen wird. Der Senat hat daher bereits in seinem Urteil vom 5. Juli 1995 (- 5 AZR 135/94 -, aaO) entschieden, daß sich das Tatsachengericht in Zweifelsfällen die Gründe für ein Beschäftigungsverbot erläutern lassen muß. Dabei wird dem Arzt Gelegenheit zu geben sein, nicht nur, wie bei der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, seinen Befund darzulegen, sondern auch seine für das - anspruchsbegründende - Beschäftigungsverbot maßgeblichen Gründe vorzutragen.
b) Das Landesarbeitsgericht hat weiter angenommen, das (Lohn-)Risiko eines zu Unrecht erteilten Beschäftigungsverbots könne nicht der schwangeren Frau angelastet werden, sondern sei vom Arbeitgeber zu tragen. Es hat dies aus Art. 6 Abs. 4 GG hergeleitet. Auch diese Erwägungen überzeugen nicht. Der Schutz der (werdenden) Mutter wird nicht dadurch beeinträchtigt, daß ihr die Entgeltfortzahlung aufgrund eines sachlich nicht berechtigten Beschäftigungsverbots versagt wird. Vor allem übersieht das Berufungsgericht, daß es in der Regel nicht gegen den Willen der Schwangeren zum Ausspruch eines Beschäftigungsverbotes kommen wird. Es ist daher auch für den Regelfall nicht unangemessen, das Risiko der Lohnfortzahlung der Schwangeren anzulasten, die dazu beigetragen hat, daß ihr ein objektiv unrichtiges ärztliches Beschäftigungsverbot erteilt worden ist. Jedenfalls kann es dem Arbeitgeber, der, wie das Berufungsgericht ausgeführt hat, "handfeste Zweifel" an der Berechtigung des Beschäftigungsverbots dargelegt hat, nicht verwehrt werden, sich gegen seine Pflicht zur Fortzahlung des Lohnes mit rechtlichen Mitteln zur Wehr zu setzen. Allerdings trägt der Arbeitgeber das Risiko dafür, das Gericht von der Unrichtigkeit des ärztlichen Beschäftigungsverbots überzeugen zu müssen.
c) Im Streitfall ist das Landesarbeitsgericht davon ausgegangen, daß gegen die Berechtigung des vorliegenden Beschäftigungsverbots erhebliche Bedenken bestehen. Es ist diesen Bedenken jedoch nicht nachgegangen, sondern hat angenommen, daß "auch bei berechtigten Zweifeln an der Richtigkeit des ärztlichen Zeugnisses beide Parteien, also die schwangere Arbeitnehmerin und der Arbeitgeber, an das Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs. 1 MuSchG zwingend gebunden" seien und dem zweifelnden Arbeitgeber nur die Möglichkeit offenstehe, von der Schwangeren eine erneute ärztliche Untersuchung zu verlangen. Eine erneute ärztliche Untersuchung ist jedoch nur eine unter mehreren Möglichkeiten, die dem Arbeitgeber zur Verfügung stehen, um die Annahme einer Gefährdung für Leib und Leben von Mutter und Kind zu widerlegen.
III. Der Senat kann in der Sache nicht abschließend entscheiden (§ 565 Abs. 3 ZPO). Der Sachverhalt bedarf weiterer Aufklärung. Zwar hat das Arbeitsgericht den attestierenden Arzt Dr. Sch als Zeugen vernommen. Die Beklagten haben jedoch noch wesentlich mehr Umstände im Laufe des Rechtsstreits geltend gemacht, die erhebliche Zweifel daran aufkommen lassen, ob das ärztliche Beschäftigungsverbot zu Recht erteilt worden ist oder ob es die Klägerin erschlichen hat. Dies betrifft auch die Frage, welche Beschwerden von der Klägerin gegenüber dem attestierenden Arzt geklagt worden sind und ob diese Beschwerden im damaligen Stadium der Schwangerschaft aus medizinischer Sicht glaubwürdig sind, und wenn ja, ob sie ein bis zur Niederkunft andauerndes Beschäftigungsverbot rechtfertigten. Sollte die Klägerin den Arzt nicht von seiner Verschwiegenheitspflicht befreien, wird das Landesarbeitsgericht seiner Entscheidung die tatsächlichen Behauptungen der Beklagten zugrundelegen müssen.
Griebeling Schliemann Bepler
Enck Blank
Fundstellen
BAGE 00, 00 |
BAGE, 1 |
BB 1996, 2467 |
BB 1996, 2467-2469 (LT1-4) |
DB 1997, 101-102 (LT1-4) |
NJW 1997, 819 |
NJW 1997, 819-821 (LT1-4) |
EBE/BAG Beilage 1996, Ls 340/96 (L1-4) |
FamRZ 1997, 176 (L1-4) |
ARST 1996, 274-276 (LT1-4) |
EEK, III/149 (ST1-3) |
NZA 1997, 29 |
NZA 1997, 29-30 (LT1-4) |
RdA 1997, 62 (L1-4) |
ZAP, EN-Nr 1015/96 (L) |
ZTR 1997, 181 (L1-4) |
AP § 3 MuSchG 1968 (LT1-4), Nr 8 |
ArbuR 1996, 503-504 (K) |
EzA-SD 1996, Nr 23 14 (L1-4) |
EzA § 3 MuSchG, Nr 2 (LT1-4) |
MDR 1997, 271 |
MDR 1997, 271-272 (LT1-4) |
PERSONAL 1997, 213 (L1-3) |