Nach mehreren gescheiterten Versuchen, die Arbeitszeitrichtlinie RL 2003/88/EG vom 4.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung zu überarbeiten, zwei Konsultationsverfahren sowie gescheiterten Sozialpartnerverhandlungen, hat sich die EU-Kommission dazu entschlossen, keinen erneuten Änderungsversuch zu unternehmen. Stattdessen hat die EU-Kommission eine Interpretation der EU-Arbeitszeitrichtlinie[1] veröffentlicht, bei der die existierende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs dargestellt wird sowie in weiteren Fällen, in denen aus Sicht der EU-Kommission Klarstellungsbedarf gesehen wird, ergänzende Erläuterungen auf Basis der bisherigen EuGH-Rechtsprechung erfolgen. Auch wenn klar ist, dass der Interpretation der EU-Kommission keine rechtliche (verbindliche) Bedeutung zukommt, kann sie als Auslegungshilfe, insbesondere zum Thema Bereitschaft, dienen. Dabei ist erkennbar, dass das europäische Recht kein starres Schema von Tätigkeitsformen, die entweder Arbeitszeit- oder Ruhezeiten sind, kennt, sondern einzelfallbezogen unter den Arbeitszeitbegriff subsumiert. Entscheidend ist, ob der Beschäftigte auch während der inaktiven Zeiten so angespannt ist, dass diese als Arbeitsleistung angesehen werden müssen.

Der EuGH ist regelmäßig mit Vorabentscheidungsverfahren zu dieser Thematik befasst, zuletzt zum Rufbereitschaftsdienst eines im Hochgebirge eingesetzten Sendetechnikers[2] sowie zum Rufbereitschaftsdienst eines Feuerwehrmanns[3]. Das Ergebnis[4] der gerichtlichen Entscheidung fußt auf einer älteren Entscheidung des EuGH aus dem Jahre 2018[5] und setzt den Schwerpunkt auf die Ausgestaltungsmöglichkeit der "freien Zeit" (inaktive Zeit) des Beschäftigten in der Bereitschaftszeit, also die Möglichkeit der Nutzung der inaktiven Zeit als Freizeit zur eigenen Gestaltung. Der EuGH betont darüber hinaus, dass es auf die Gesamtwürdigung des Einzelfalles ankomme, überlässt diese Bewertung jedoch den nationalen Gerichten, ob eine Bereitschaftszeit in Form der Rufbereitschaft in vollem Umfang als "Arbeitszeit" einzustufen ist oder nicht. Der Gerichtshof legt aber Kriterien fest, anhand derer die nationalen Gerichte die entsprechende Einordnung der Zeit als Arbeitszeit oder Freizeit (inaktive Zeit der Rufbereitschaft) vornehmen können. Zwei wichtige Kriterien bei der Entscheidungsfindung seien dabei der Reaktionszeitraum, also die Zeitspanne, innerhalb derer die Arbeit aufzunehmen ist und die durchschnittliche Häufigkeit des Abrufs, sofern insoweit eine objektive Schätzung möglich ist.

Mit Urteil vom 30.4.2020[6] ist entschieden worden, dass die EU-Arbeitszeitrichtlinie grundsätzlich auch auf den polizeilichen Bereitschaftsdienst anwendbar ist. Dies gilt ausnahmsweise nicht, wenn unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände festzustellen wäre, dass die fraglichen Aufgaben im Rahmen außergewöhnlicher Ereignisse wahrgenommen werden, deren Schwere und Ausmaß Maßnahmen erfordern, die zum Schutz des Lebens, der Gesundheit und der Sicherheit des Gemeinwesens unerlässlich sind und deren ordnungsgemäße Durchführung in Frage gestellt wäre, wenn alle Vorschriften der Richtlinie beachtet werden müssten.

[1] Vgl. Amtsblatt der EU v. 24.5.2017, 2017/C 165.
[2] EuGH, Vorabentscheidungsverfahren C-344/19.
[3] EuGH, Vorabentscheidungsverfahren C-580/19.
[6] EuGH, Urteil v. 30.4.2020, C-2011/19.

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