BAG, Urteil vom 18.1.2023, 5 AZR 93/22

Leitsatz (amtlich)

Die Abstufung der Darlegungslast beim Streit über das Vorliegen einer neuen Erkrankung i. S. v.  § 3 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 EFZG, wonach der Arbeitnehmer Tatsachen vorzutragen hat, die den Schluss erlauben, es habe keine Fortsetzungserkrankung bestanden, begegnet weder unions- noch verfassungsrechtlichen Bedenken. Dem steht nicht entgegen, dass der hiernach erforderliche Vortrag im Regelfall mit der Offenlegung der einzelnen zur Arbeitsunfähigkeit führenden Erkrankungen im maßgeblichen Zeitraum verbunden ist.

Sachverhalt

Der Kläger arbeitete bei der Beklagten, einem Unternehmen, das Bodendienstleistungen am Flughafen erbringt, seit dem 27.1.2012 in der Gepäckabfertigung. Im Jahr 2019 war der Kläger in der Zeit ab dem 24.8.2019 an 68 Kalendertagen arbeitsunfähig erkrankt und im Jahr 2020 an weiteren 42 Kalendertagen. Die Beklagte leistete bis zum 13.8.2020 Entgeltfortzahlung. Der Kläger klagte nun auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für weitere 10 Arbeitstage für den Zeitraum vom 18.8.2020 bis zum 23.9.2020. Zum Beweis legte er für diesen Zeitraum mehrere Erstbescheinigungen vor und erklärte, welche ICD-10- Codes mit welchen korrespondierenden Diagnosen oder Symptomen in den Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen aufgeführt gewesen seien. Bezüglich etwaiger Vorerkrankungen machte er Angaben zu Arbeitsunfähigkeitszeiten, die nach seiner Einschätzung auf denselben ICD-10-Codes bzw. Diagnosen oder Symptomen beruhten. Er vertrat jedoch die Auffassung, dass er aus Datenschutzgründen nicht verpflichtet sei, sämtliche Erkrankungen aus der davorliegenden Zeit offenzulegen. Insbesondere müsse er sich nicht zu vorhergehenden Atemwegsinfekten äußern, weil hier nicht "dieselbe Erkrankung" i. S. d. § 3 Abs. 1 Satz 2 EFZG vorliegen könne. Jedoch sei für keine der Erkrankungen der 6-Wochen-Zeitraum nach § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG ausgeschöpft, so dass ihm der geltend gemachte Anspruch zustehe. Dagegen war die Beklagte der Ansicht, dass sie ab dem 18.8.2020 nicht mehr verpflichtet gewesen sei, Entgeltfortzahlung zu leisten. Sie gehe insbesondere davon aus, dass bezüglich der Erkrankungen anrechenbare Vorerkrankungen vorgelegen hätten, die eine Verpflichtung zur weiteren Entgeltfortzahlung ausschlössen. Auf die Anfrage der Beklagten bestätigte die Krankenkasse des Klägers, dass nach ihren Unterlagen die Erkrankung am 18. und 19.8.2023 in einem ursächlichen Zusammenhang mit früheren Erkrankungen gestanden hätte, meinte aber, dass der sechswöchige Anspruch auf Entgeltfortzahlung erst am 20.9.2020 geendet habe.

Die Entscheidung

Die Klage hatte vor dem BAG keinen Erfolg.

Das BAG führte als Begründung aus, dass eine abgestufte Beweislast gelte, wenn Beschäftigte innerhalb der Zeiträume des § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und Nr. 2 EFZG länger als 6 Wochen an der Erbringung der Arbeitsleistung gehindert seien. Die Beschäftigten müssten dann, jedenfalls soweit sich aus der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dazu keine Angaben entnehmen ließen, darlegen, dass keine Fortsetzungserkrankung bestehe, z. B. durch Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung. Wenn dann jedoch der Arbeitgeber bestreite, dass eine neue Erkrankung vorliege, genüge die bloße Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung nicht mehr. Stattdessen seien Tatsachen vorzutragen, die den Schluss erlaubten, es habe keine Fortsetzungserkrankung bestanden. Es müsse dann bezogen auf den gesamten maßgeblichen Zeitraum geschildert werden, welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Beschwerden mit welchen Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit bestanden hätten und die behandelnden Ärzte seien von der Schweigepflicht zu entbinden. Die Folgen der Nichterweislichkeit einer Fortsetzungserkrankung trage dann wiederum der Arbeitgeber.

Nach Auffassung des Gerichts begegne die Zuweisung einer solchen abgestuften Darlegungslast an die Beschäftigten auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Auch wenn dies die Offenlegung von Gesundheitsdaten verlange, sei der damit verbundene Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG verhältnismäßig und zudem erforderlich, weil keine gleich effektiven Mittel zur Verfügung stünden, die weniger stark in das Grundrecht eingriffen. Insbesondere ermögliche die Mitteilung der Krankenkasse zum (Nicht-)Vorliegen von Fortsetzungserkrankungen keine dem Justizgewährungsanspruch genügende Kontrolle, da diese Mitteilung an den Arbeitgeber weder diesen noch die Arbeitsgerichtsbarkeit binde und auch keinerlei Beweiswert entfalte.

Die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast zum Nachweis einer Fortsetzungserkrankung stehe nach Ansicht des BAG auch im Einklang mit Unionsrecht. Die Datenverarbeitung besonders geschützter personenbezogener Daten richte sich in Gerichtsverfahren nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. f DSGVO. Die Verarbeitung von Daten zu Erkrankungen und gesundheitlichen Beschwerden, die in der Vergangenheit zu einer Arbeitsunfähigkeit des Klägers geführt hätten, sei im ge...

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