Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. sozialgerichtliches Verfahren. Verfahrensmangel. Antrag auf Terminverlegung wegen COVID-19-Pandemie. Ansteckungsgefahr. Erforderlichkeit näherer Darlegungen. persönliche Gesundheitsrisiken. Schutzvorkehrungen des Gerichts. gesetzlicher Richter. Mitwirkung von Richtern oder Richterinnen bei der Entscheidung über ein Ablehnungsgesuch. zulässige Mitentscheidung bei pauschaler Ablehnung des gesamten Spruchkörpers. PKH-Antrag für ein Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren. hinreichende Erfolgsaussicht
Orientierungssatz
1. Die COVID-19-Pandemie bietet keinen hinreichenden Grund, einen Gerichtstermin zu verlegen, wenn im Gericht Vorkehrungen und Maßnahmen getroffen worden sind, die das Risiko einer Ansteckung auf ein zu vernachlässigendes Minimum reduzieren, es sei denn, der Beteiligte legt dar oder es ist sonst ersichtlich, dass ihm trotzdem aufgrund der konkreten Umstände des vorgesehenen Verhandlungstermins, seiner persönlichen Gesundheitsrisiken und der Schutzvorkehrungen des Gerichts wegen der COVID-19-Pandemie eine Anreise zur und eine Teilnahme an der mündlichen Verhandlung beim Gericht unzumutbar ist (vgl dazu BSG vom 1.7.2021 - B 9 SB 73/20 B).
2. Lehnt ein Beteiligter pauschal den gesamten Spruchkörper ab, ohne konkrete Anhaltspunkte für eine Befangenheit der abgelehnten Richter oder Richterinnen vorzutragen, dürfen diese ausnahmsweise abweichend von § 45 Abs 1 ZPO selbst über das Ablehnungsgesuch entscheiden (stRspr; zB BSG vom 19.1.2010 - B 11 AL 13/09 C = SozR 4-1500 § 60 Nr 7).
3. Zum Antrag auf Prozesskostenhilfe für ein Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren.
Normenkette
ZPO § 227 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 S. 1 Alt. 1, § 45 Abs. 1, § 114 Abs. 1 S. 1; SGG § 160a Abs. 2 S. 3, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 60 Abs. 1, § 73a Abs. 1 S. 1, § 202 S. 1; BGB § 242; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2
Verfahrensgang
Tenor
Der Antrag des Klägers, ihm für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 20. Juli 2021 Prozesskostenhilfe zu bewilligen und einen Rechtsanwalt beizuordnen, wird abgelehnt.
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im genannten Urteil wird als unzulässig verworfen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I. Der Kläger begehrt in der Hauptsache die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) sowie der Voraussetzungen für die Erteilung mehrerer Merkzeichen.
Der Beklagte stellte beim Kläger zuletzt insbesondere wegen einer mit einem Einzel-GdB von 30 bewerteten psychischen Störung einen GdB von 40 seit dem 1.1.2009 fest. Klage und Berufung sind erfolglos geblieben. Zur mündlichen Berufungsverhandlung ist der Kläger nicht erschienen. Das LSG hat wiederholte Anträge auf Terminsaufhebung wegen Reiseunfähigkeit, der Hochwassersituation sowie der Covid-19-Pandemie ebenso abgelehnt wie ein Ablehnungsgesuch gegen den gesamten Senat.
Das LSG hat den geltend gemachten Anspruch auf rückwirkende Feststellung eines GdB von 100 ab 2008 sowie der Voraussetzungen für die Merkzeichen G, B, aG, H und RF verneint. Die Klage auf Erteilung der Merkzeichen sei bereits unzulässig, weil der entgegenstehende Bescheid des Beklagten bestandskräftig geworden sei. Im Übrigen sei die Behinderung des Klägers mit einem Gesamt-GdB von 40 zutreffend bewertet (Urteil vom 20.7.2021).
II. 1. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe (PKH) des Klägers ist unbegründet. PKH ist nur zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 114 Abs 1 Satz 1 ZPO). An der erforderlichen Erfolgsaussicht fehlt es hier. Es ist nicht zu erkennen, dass ein zugelassener Prozessbevollmächtigter (§ 73 Abs 4 SGG) in der Lage wäre, die von dem Kläger angestrebte Nichtzulassungsbeschwerde erfolgreich zu begründen. Da dem Kläger keine PKH zusteht, kann er auch keine Beiordnung eines Rechtsanwalts beanspruchen (§ 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 121 Abs 1 ZPO).
Hinreichende Erfolgsaussicht hätte die Nichtzulassungsbeschwerde nur, wenn einer der in § 160 Abs 2 SGG abschließend aufgeführten Zulassungsgründe mit Erfolg geltend gemacht werden könnte. Die Revision darf danach zugelassen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG), das Urteil von einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmSOGB) oder des BVerfG abweicht und auf dieser Abweichung beruht (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) oder ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Nach Durchsicht der Akten fehlen - auch unter Würdigung des Vorbringens des Klägers - Anhaltspunkte dafür, dass er einen der in § 160 Abs 2 Nr 1 bis 3 SGG abschließend aufgeführten Zulassungsgründe darlegen könnte. Die Sache bietet keine Hinweise für eine über den Einzelfall des Klägers hinausgehende, grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Auch ist nicht ersichtlich, dass das LSG entscheidungstragend von Rechtsprechung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG abgewichen sein könnte (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 2 SGG).
Schließlich fehlt ein ausreichender Anhalt dafür, dass der Kläger einen die Revisionszulassung rechtfertigenden Verfahrensfehler des LSG bezeichnen könnte (Zulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG (Anhörung eines bestimmten Arztes) und § 128 Abs 1 Satz 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
Für derartige Verfahrensfehler ist vom Kläger nichts vorgetragen oder sonst ersichtlich. Das gilt auch für einen möglichen Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art 101 Abs 1 Satz 2 GG im Zusammenhang mit dem vom Kläger im Berufungsverfahren angebrachten Ablehnungsgesuch vom 16.7.2021 gegen die "gegenwärtig am Verfahren Beteiligten". Das LSG hat dieses Gesuch in seiner Sitzung vom 20.7.2021 als offensichtlich unzulässig verworfen. Wie es dabei zutreffend angenommen hat, darf nach der ständigen Rechtsprechung des BSG ein Gericht über rechtsmissbräuchliche oder gänzlich untaugliche Ablehnungsgesuche ausnahmsweise in geschäftsplanmäßiger Besetzung unter Beteiligung der abgelehnten Richter entscheiden (BSG Beschluss vom 17.12.2020 - B 10 ÜG 4/20 B - SozR 4-1500 § 62 Nr 23 RdNr 20 mwN). Lehnt ein Beteiligter - wie hier der Kläger - daher pauschal den gesamten Spruchkörper ab, ohne konkrete Anhaltspunkte für eine Befangenheit der abgelehnten Richter vorzutragen, dürfen diese ausnahmsweise abweichend von § 45 Abs 1 ZPO selbst über das Ablehnungsgesuch entscheiden (stRspr; zB BSG Beschluss vom 19.1.2010 - B 11 AL 13/09 C - SozR 4-1500 § 60 Nr 7 RdNr 11).
Auch im Zusammenhang mit der abgelehnten Terminsverlegung fehlt ein ausreichender Anhalt für eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör in der mündlichen Verhandlung, soweit er auch das Recht auf Aufhebung oder Verlegung eines anberaumten Termins aus erheblichen Gründen umfasst (§ 227 Abs 1 ZPO iVm § 202 Satz 1 SGG). Für einen solchen erheblichen Grund zur Terminsverlegung ist nach Aktenlage nichts ersichtlich. Vielmehr hat der Senatsvorsitzende in seinem Beschluss vom 16.7.2021, mit dem er nach § 227 Abs 4 Satz 1 Alt 1 ZPO iVm § 202 Satz 1 SGG den ersten Antrag auf Terminsaufhebung abgelehnt hat, im Einzelnen nachvollziehbar dargelegt, warum er eine Reiseunfähigkeit des Klägers ebenso wenig iS von § 227 Abs 2 ZPO iVm § 202 Satz 1 SGG als glaubhaft gemacht angesehen hat, wie die objektive Unmöglichkeit der Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln aufgrund der damals aktuellen Hochwassersituation.
Ebenfalls kein Anhaltspunkt für einen Verfahrensfehler liefert die erneute Ablehnung des schriftlich wiederholten Antrags des Klägers auf Terminsverlegung durch Beschluss des LSG in der mündlichen Verhandlung. Das LSG hat darin ausgeführt, die gegenwärtige Lage der Pandemie biete keinen hinreichenden Grund, den Gerichtstermin zu verlegen. Im Gericht seien Vorkehrungen und Maßnahmen getroffen, die das Risiko einer Ansteckung auf ein zu vernachlässigendes Minimum reduzierten. Es ist nicht dargelegt oder ersichtlich, dass dem Kläger trotzdem aufgrund der konkreten Umstände des vorgesehenen Verhandlungstermins, seiner persönlichen Gesundheitsrisiken und der - im Ladungsschreiben näher erläuterten - Schutzvorkehrungen des Gerichts wegen der Covid-19-Pandemie im Juli 2021 eine Anreise zur und eine Teilnahme an der mündlichen Verhandlung beim LSG unzumutbar gewesen wäre (vgl dazu BSG Beschluss vom 1.7.2021 - B 9 SB 73/20 B - juris RdNr 9 mwN).
Schließlich könnte auch eine unzutreffende Rechtsanwendung des LSG nicht mit Erfolg als Revisionszulassungsgrund gerügt werden (vgl BSG Beschluss vom 27.5.2020 - B 9 SB 67/19 B - juris RdNr 14).
2. Die vom Kläger selbst eingelegte Beschwerde ist unzulässig. Sie entspricht nicht den zwingenden gesetzlichen Vorschriften. Der Kläger muss sich vor dem BSG gemäß § 73 Abs 4 SGG durch einen zugelassenen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Sowohl die Beschwerdeschrift als auch die Beschwerdebegründungsschrift muss von einem zugelassenen Prozessbevollmächtigten unterzeichnet sein. Hierauf ist der Kläger in der Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Urteils ausdrücklich hingewiesen worden.
3. Die Verwerfung der nicht formgerecht eingelegten Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Kaltenstein Othmer Röhl
Fundstellen
Dokument-Index HI15092184 |