Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache. Mindestanforderung an die Beschwerdebegründung. verständliche Sachverhaltsdarstellung. Bezeichnung des Gegenstands des Rechtsstreits. Angaben zum Ablauf des Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens. Schwerbehindertenrecht. Bewertung eines Einzel-GdB. erforderliche Darlegung der Auswirkungen auf den Gesamt-GdB
Orientierungssatz
1. Zu den Mindestanforderungen einer Grundsatzrüge gehören jedenfalls die Bezeichnung des Gegenstands des Rechtsstreits sowie Angaben zum Ablauf des Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens im Rahmen einer verständlichen Sachverhaltsschilderung.
2. Wird die Festlegung eines Einzel-GdB angegriffen, muss zugleich dargetan werden, dass sich hierdurch der Gesamt-GdB ändern muss (vgl BSG vom 5.5.1993 - 9/9a RVs 2/92 = SozR 3-3870 § 4 Nr 5 und vom 20.2.2019 - B 9 SB 67/18 B).
Normenkette
SGG § 160a Abs. 2 S. 3, § 160 Abs. 2 Nrn. 1, 3 Hs. 2, § 54; SGB IX § 152 Abs. 1 S. 1; SGB 9 2018 § 152 Abs. 1 S. 1; VersMedV Anlage Teil A Nr. 3; VersMedV § 2
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 28.04.2023; Aktenzeichen L 13 SB 120/21) |
SG Aachen (Urteil vom 14.04.2021; Aktenzeichen S 3 SB 186/20) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. April 2023 wird als unzulässig verworfen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I. Mit der Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG vom 28.4.2023, mit dem über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) der Klägerin entschieden worden ist. Ihre Beschwerde hat sie mit der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache begründet.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Die Beschwerdebegründung genügt nicht der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Form. Die Klägerin hat den von ihr geltend gemachten Zulassungsgrund nicht in der danach vorgeschriebenen Weise dargelegt.
Die Klägerin beruft sich ausschließlich auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache. Eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sogenannte Breitenwirkung) darlegen (stRspr; zB BSG Beschluss vom 8.3.2021 - B 9 BL 3/20 B - juris RdNr 14; BSG Beschluss vom 2.5.2017 - B 5 R 401/16 B - juris RdNr 6).
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Die Klägerin misst folgenden Fragen grundsätzliche Bedeutung zu: |
"1. Kann eine schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten gemäß Ziffer 3.7 der versorgungsmedizinischen Grundsätze nicht vorliegen, wenn ein Mensch auf Fragen eines Sachverständigen freundlich und zugewandt antwortet? |
2. Kann eine schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten gemäß Ziffer 3.7 der versorgungsmedizinischen Grundsätze nicht vorliegen, wenn ein Mensch noch in Teilzeit einer Beschäftigung nachgeht? |
3. Kann eine schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten gemäß Ziffer 3.7 der versorgungsmedizinischen Grundsätze nicht vorliegen, wenn ein Mensch insgesamt drei Stunden täglich zu seiner Arbeitsstätte zurücklegt? |
4. Gibt es im Bereich der Einzelgrade der Behinderung eine Klassifizierung nach unterem und oberem Bereich zur Ermittlung eines Gesamtgrades der Behinderung? |
5. Kann bei der Bildung eines Einzelgrades der Behinderung eine einzelne Erkrankung, die mit einem Einzel GdB von 10 zu bewerten ist, nie zu einer Erhöhung des Einzelgrades der Behinderung im gleichen Sektionsfeld auf 30 führen, wenn es im gleichen Funktionsapparat einen Einzel GdB von 20 gibt? |
6. Ist für die Beurteilung eines Einzelgrades der Behinderung gemäß Ziffer 3.7 der versorgungsmedizinischen Verordnung prägend auf das berufliche Teilhabeleben darzustellen und die beruflichen Auswirkungen einer Erkrankung oder auf die Teilhabemöglichkeit am sonstigen sozialen Leben". |
Zu den ersten drei Fragen erläutert sie, die vom SG beauftragte Sachverständige habe nach Teil B Nr 3.7 der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung(Versorgungsmedizinische Grundsätze ≪VMG≫) für die psychiatrische Erkrankung nur deshalb lediglich einen Einzel-GdB von 30 angesetzt, weil ihre Fragen durch sie (die Klägerin) freundlich und zugewandt beantwortet worden seien, sie in Teilzeit arbeite und hierfür täglich zwei Fahrten von jeweils 1,5 Stunden zurücklege. Dem hätten sich SG und LSG angeschlossen und eine schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten verneint. Ausgehend hiervon könne für Arbeitnehmer mit Behinderung nach Teil B Nr 3.7 VMG niemals ein Einzel-GdB von 50 vorliegen. Einen solchen Erkenntnis- oder Rechtssatz habe das BSG bisher nicht aufgestellt. Daraus ergebe sich auch die sechste Frage, weil es bei gleichen Gesundheitseinschränkungen zu unterschiedlich hohen GdB führe, wenn man wie das LSG maßgeblich auf die berufliche Tätigkeit abstelle. Zur vierten Frage führt sie aus, das LSG differenziere bei der Gesamt-GdB-Bildung nach Einzel-GdB am unteren oder oberen Rand des Bewertungsrahmens. Ein Einzel-GdB am unteren Rand könne zu keiner Erhöhung des Gesamt-GdB führen. Zu einem solchen Rechtsgrundsatz habe sich das BSG noch nicht geäußert. Dies gelte auch für die fünfte Frage, die auf den vom LSG aufgestellten Rechtssatz ziele, wonach unterschiedliche Erkrankungen, die dem gleichen Ordnungssystem und der gleichen Ziffer der VMG zuzuordnen seien und nur einen Einzel-GdB von 10 aufwiesen, nie bei der Gesamtbildung eines Einzel-GdB für die gleiche Ordnungsziffer zu berücksichtigen seien.
Es ist schon fraglich, ob die Klägerin damit eine oder mehrere hinreichend konkrete Rechtsfragen zur Auslegung, zum Anwendungsbereich oder zur Vereinbarkeit einer bestimmten revisiblen Norm des Bundesrechts (vgl § 162 SGG) mit höherrangigem Recht aufgeworfen hat. Insbesondere die erste bis dritte und die sechste Frage richten sich im Kern gegen die Beweiswürdigung durch das LSG, das nach Darstellung der Beschwerdebegründung die Empfehlung eines Einzel-GdB von 30 durch die Sachverständige unter Berücksichtigung der von dieser für relevant erachteten Umstände für schlüssig erachtet hat. Die Zulassung der Revision kann gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG aber nicht mit der Behauptung verlangt werden, das LSG habe gegen den Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung verstoßen. Dies gilt nicht nur, wenn die Beschwerde ausdrücklich eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG geltend macht, sondern auch dann, wenn sie ihre Angriffe gegen die Beweiswürdigung des LSG in das Gewand einer Grundsatzrüge zu kleiden versucht (stRspr; zB BSG Beschluss vom 9.5.2022 - B 9 SB 75/21 B - juris RdNr 8 mwN).
Letztlich kann dies dahinstehen. Denn die Klägerin hat die Klärungsfähigkeit der von ihr formulierten Fragen nicht hinreichend dargelegt. Für eine nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG formgerechte Darlegung der Klärungsfähigkeit fehlt es in der Beschwerdebegründung bereits an einer geordneten Darstellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts. Eine verständliche Sachverhaltsschilderung gehört zu den Mindestanforderungen einer Grundsatzrüge (stRspr; zB BSG Beschluss vom 11.7.2022 - B 9 V 41/21 B - juris RdNr 10; BSG Beschluss vom 4.1.2022 - B 9 V 22/21 B - juris RdNr 6). Schon der Gegenstand des Rechtsstreits ist der Beschwerdebegründung nicht mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen. Es wird lediglich mitgeteilt, dass die Klägerin nach einer Krebserkrankung psychisch erkrankt sei, dass eine vom SG beauftragte Sachverständige mit Blick hierauf einen Einzel-GdB von 30 vorgeschlagen habe und sich SG und LSG dem angeschlossen hätten. Allein dies lässt erkennen, dass Gegenstand des Rechtsstreits die Höhe des GdB der Klägerin sein könnte. Weitere Angaben zum Ablauf des Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens fehlen. Ebenso fehlen Angaben zur Höhe des vom LSG angenommenen Gesamt-GdB und zu anderen Gesundheitsstörungen, die das LSG bei dessen Bildung zugrunde gelegt haben könnte. Zugleich zeigt die Klägerin nicht auf, welche Tatsachenfeststellungen das LSG im angegriffenen Urteil getroffen hat. Nur diese können aber einer Entscheidung des BSG in der angestrebten Revision zugrunde gelegt werden. Ohne die Angabe der vom LSG festgestellten Tatsachen ist der Senat nicht in der Lage, wie erforderlich, allein aufgrund der Beschwerdebegründung die Entscheidungserheblichkeit einer Rechtsfrage zu beurteilen (vgl stRspr; zB BSG Beschluss vom 5.11.2020 - B 10 EG 5/20 B - juris RdNr 5; BSG Beschluss vom 29.7.2019 - B 13 R 250/18 B - juris RdNr 13).
Dies gilt vorliegend insbesondere mit Blick darauf, dass sich die Beschwerdebegründung gegen die Bildung eines Einzel-GdB auf Grundlage von Teil B Nr 3.7 VMG richtet. Der Einzel-GdB ist jedoch keiner eigenen Feststellung zugänglich; er ist nicht isoliert anfechtbar. Wird die Festlegung eines Einzel-GdB angegriffen, muss zugleich dargetan werden, dass sich hierdurch der Gesamt-GdB ändern muss (vgl BSG Urteil vom 5.5.1993 - 9/9a RVs 2/92 - SozR 3-3870 § 4 Nr 5 - juris RdNr 20; BSG Beschluss vom 12.8.2021 - B 9 SB 7/21 BH - juris RdNr 9; BSG Beschluss vom 20.2.2019 - B 9 SB 67/18 B - juris RdNr 9). Konkrete Aussagen zum Gesamt-GdB und den zu dessen Bildung vom LSG festgestellten Tatsachen sind in der Beschwerdebegründung jedoch nicht enthalten. Sich den maßgeblichen Sachverhalt aus den Akten oder der angegriffenen Entscheidung herauszusuchen, ist nicht Aufgabe des Beschwerdegerichts (stRspr; zB BSG Beschluss vom 28.9.2021 - B 9 SB 12/21 B - juris RdNr 5 mwN).
Dass die Klägerin die Entscheidung des LSG inhaltlich für unrichtig hält, kann als solches nicht zur Zulassung der Revision führen (stRspr; vgl zB BSG Beschluss vom 6.7.2022 - B 10 EG 2/22 B - juris RdNr 10; BSG Beschluss vom 25.7.2011 - B 12 KR 114/10 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 22 RdNr 4).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
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Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG. |
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Kaltenstein |
Röhl |
Ch. Mecke |
Fundstellen
Dokument-Index HI16025772 |