Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Verfahrensfehler. Bezeichnung des Klagegenstandes. Prozess- statt Sachentscheidung. Zurückweisung der Berufung. Fortwirkung des Verfahrensfehlers des SG auf die Entscheidung des LSG
Orientierungssatz
Hat das LSG die Berufung zurückgewiesen und damit die Entscheidung des SG bestätigt, dass die Klage mangels ausreichender Bezeichnung des Klagegegenstandes entgegen § 92 Abs 1 S 1 SGG als unzulässig zu verwerfen sei, so schlägt der Verfahrensfehler des SG, das anstelle einer Sach- eine Prozessentscheidung getroffen hat, auf die Entscheidung des LSG durch.
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 92 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
LSG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 28.04.2016; Aktenzeichen L 32 AS 2005/13) |
SG Cottbus (Gerichtsbescheid vom 13.06.2013; Aktenzeichen S 14 AS 5032/11) |
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 28. April 2016 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Das SG hat mit Gerichtsbescheid vom 13.6.2013 die Klage als unzulässig verworfen, weil entgegen § 92 Abs 1 Satz 1 SGG der Umfang des Klagegegenstandes nicht zu ermitteln sei. Die von der Klägerin neben dem Antrag auf Durchführung der mündlichen Verhandlung gegen den Gerichtsbescheid entsprechend der Rechtsmittelbelehrung des SG vorsorglich eingelegte Berufung hat das LSG mit Urteil vom 28.4.2016 zurückgewiesen. Die Berufung sei zulässig, weil mangels ausreichender Bezeichnung des Klagebegehrens der Wert des Beschwerdegegenstands nicht festzustellen sei und deshalb die Wertgrenze des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG einer Entscheidung in der Sache nicht entgegenstehe. Die Entscheidung des SG sei zutreffend, weil der erhobene Anspruch nicht bezeichnet und die Klage daher unzulässig sei.
Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG und rügt als Verstoß gegen § 92 Abs 1 Satz 1 SGG, dass das LSG das Klagebegehren zu Unrecht als nicht ausreichend konkretisiert angesehen und daher die Klageabweisung des SG als unzulässig bestätigt habe.
II. Die Beschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 28.4.2016 ist aufzuheben und die Sache an das LSG gemäß § 160a Abs 5 SGG zurückzuverweisen. Denn diese Entscheidung des LSG beruht auf dem von der Klägerin gerügten Verfahrensmangel nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG.
Indem das LSG durch seine Zurückweisung der Berufung der Klägerin die Entscheidung des SG, die Klage sei mangels ausreichender Bezeichnung des Klagegegenstandes entgegen § 92 Abs 1 Satz 1 SGG als unzulässig zu verwerfen, bestätigt hat, schlägt der Verfahrensfehler des SG, das anstelle einer Sach- eine Prozessentscheidung getroffen hat (vgl nur BSGE 1, 283; BSGE 4, 200 ff; BSGE 15, 169, 172; letztens: BSG vom 18.4.2016 - B 14 AS 150/15 BH - vorgesehen für SozR 4), auf die Entscheidung des LSG durch (vgl zum Fortwirken eines Verfahrensmangels des SG auf die Entscheidung des LSG nur BSG vom 25.4.2001 - B 9 V 70/00 B - SozR 3-1500 § 73 Nr 10, Juris RdNr 2 mwN; BSG vom 19.1.2011 - B 13 R 211/10 B - Juris RdNr 15 mwN).
Auch wenn aufgrund der Neufassung von § 92 Abs 1 Satz 1 SGG ("Die Klage muss den Kläger, den Beklagten und den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen.") durch das Gesetz zur Änderung des SGG und des ArbGG vom 26.3.2008 (BGBl I 444) die Anforderungen an die Bezeichnung des Klagegenstandes erhöht wurden (vgl BT-Drucks 16/7716 S 13: "moderate Anhebung der Anforderungen an die Klageerhebung und Klagebegründung"), so sind diese erhöhten Anforderungen vorliegend erfüllt.
Das Klagebegehren insgesamt war zumindest nicht zu unbestimmt. Mit den statthaft im Wege der objektiven Klagehäufung verbundenen und von den Vorinstanzen prozessual zutreffend als Anfechtungsklage sowie als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 und 4 SGG) qualifizierten Klagen hat sich die Klägerin ausweislich der Klageschrift vom 21.11.2011 zum einen gegen den Bescheid vom 22.7.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.11.2011 gewandt, soweit dadurch ihr Anspruch auf Sozialgeld abweichend von der ursprünglichen vorläufigen Bewilligung für Juni 2011 endgültig auf null Euro und eine Erstattungsforderung in Höhe von 39,23 Euro festgesetzt worden sind, zum anderen hat sie höhere Grundsicherungsleistungen überhaupt begehrt, weil die Regelbedarfe verfassungswidrig zu niedrig festgesetzt worden seien. Klageziele sind demnach die Aufhebung der Erstattungsforderung in Höhe von 39,23 Euro und höheres Sozialgeld für Juni 2011.
Selbst wenn von der Klägerin zur Bezeichnung ihres Klagebegehrens hinsichtlich der Höhe der Regelbedarfe und ihres Sozialgeldanspruchs für Juni 2011 nähere Angaben "in welcher Höhe weitere Leistungen gefordert werden", wie das SG und anschließend in der Sache auch das LSG angenommen haben, zu machen sein sollten, hätte im Lichte der Rechtsschutzgarantie des Art 19 Abs 4 GG beachtet werden müssen, dass etwaige Korrekturen an der Neufestsetzung der Regelbedarfe durch das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011 (BGBl I 453) - wäre das BVerfG der verfassungsrechtlichen Kritik gefolgt - ausschließlich dem Gesetzgeber vorbehalten gewesen wären und deshalb von der Klägerin zur Höhe schwerlich genaue Angaben erwartet werden konnten. Im Übrigen ist zumindest die Anfechtungsklage gegen die Erstattungsforderung von 39,23 Euro hinreichend bestimmt, denn diese Klage ist schlicht auf deren Aufhebung gerichtet.
Der Senat macht von der durch § 160a Abs 5 SGG eröffneten Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensmangels aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Das LSG wird im wiedereröffneten Berufungsverfahren zu beachten haben, dass gegen die von ihm angenommene Zulässigkeit der Berufung, die von der Klägerin nur vorsorglich entsprechend der Rechtsmittelbelehrung des SG neben dem Antrag auf Durchführung der mündlichen Verhandlung gegen den Gerichtsbescheid eingelegt wurde, erhebliche Bedenken bestehen.
Den Wert des Beschwerdegegenstandes nach § 144 Abs 1 SGG hat das LSG zur Feststellung der Statthaftigkeit der Berufung von Amts wegen eigenständig zu ermitteln, ohne dabei an Angaben der Klägerin gebunden zu sein (§ 3 ZPO; vgl etwa BSG vom 23.7.1998 - B 1 KR 24/96 R - SozR 3-1500 § 158 Nr 3 S 11, 13; Wöstmann in Münchener Kommentar zur ZPO, 5. Aufl 2016, § 3 RdNr 15). Dabei war nach dem Maßstab von § 123 SGG einerseits zu berücksichtigen, dass die Disposition über das Berufungsziel bei der Klägerin lag. Andererseits sind Vorstellungen von Beteiligten für den Zugang zur Rechtsmittelinstanz unbeachtlich, solange sie eine vernünftige Grundlage vermissen lassen oder in Widerspruch zur Gesetzeslage stehen (stRspr; vgl etwa BSG vom 28.2.1978 - 4 RJ 73/77 - SozR 1500 § 146 Nr 7; BSG vom 23.7.1998 - B 1 KR 24/96 R - SozR 3-1500 § 158 Nr 3 S 11, 13; BSG vom 22.8.1990 - 10 RKg 29/88 - BSGE 67, 194, 195 = SozR 3-5870 § 27 Nr 1; BGH vom 20.12.1972 - VIII ZR 70/72 - NJW 1973, 370: "Beschwerdewert lässt sich nicht künstlich herstellen"; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 144 RdNr 14a; Breitkreuz/Schreiber in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl 2014, § 144 RdNr 20, jeweils mwN).
Angesichts des auf einen Monat beschränkten Streits um das an die Klägerin zu zahlende Sozialgeld und den Beschwerdewert von 750 Euro nach § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG ist nicht ersichtlich, wie dieser Betrag erreicht werden sollte. Die im April 2001 geborene Klägerin lebte in Bedarfsgemeinschaft mit ihrer Mutter und einer Schwester. Ausgehend von einem Gesamtbedarf von 402,23 Euro (Regelbedarf von 251 Euro nach § 77 Abs 4 Nr 3 SGB II plus kopfteilige Aufwendungen für die Unterkunft und Heizung von 456,70 Euro monatlich insgesamt) wäre der Beschwerdewert nur zu überschreiten, wenn mehr als eine Verdoppelung des Regelbedarfs ernsthaft im Streit stehen würde und bei der Klägerin kein Kindergeld als Einkommen nach § 11 Abs 1 Satz 4, 3 SGB II zu berücksichtigen wäre. Dies ist nicht zu erkennen.
Im wiedereröffneten vorinstanzlichen Verfahren wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden sein.
Fundstellen
Dokument-Index HI10180241 |