Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung rechtlichen Gehörs. Ablehnung eines Antrags auf Verlegung der mündlichen Verhandlung wegen Erkrankung des Klägers. faires Verfahren
Orientierungssatz
Zur Verletzung rechtlichen Gehörs, wenn das Gericht einen Antrag auf Verlegung der mündlichen Verhandlung wegen Erkrankung des Klägers ablehnt und nicht sicherstellt, dass dieser hiervon rechtzeitig erfährt, obwohl es auf einen entsprechenden Antrag bereits zuvor einen Verhandlungstermin verlegt hatte.
Normenkette
SGG § 62; GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1
Verfahrensgang
SG Freiburg i. Br. (Gerichtsbescheid vom 04.02.2003; Aktenzeichen S 7 AL 3658/02) |
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 29.01.2004; Aktenzeichen L 12 AL 889/03) |
Tatbestand
Im Rahmen eines Zugunstenverfahrens (§ 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch ≪SGB X≫) begehrt der Kläger die Rücknahme des Bescheides vom 20. Dezember 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Januar 2002, mit dem die Beklagte die Bewilligung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit vom 6. Dezember 2001 bis zum 27. Februar 2002 wegen des Eintritts einer zwölfwöchigen Sperrzeit abgelehnt hatte: Der Kläger sei von einer Maßnahme zur beruflichen Weiterbildung ausgeschlossen worden, weil er den angebotenen Praktikumsplatz abgelehnt habe, obwohl auf seine gesundheitlichen Einschränkungen Rücksicht genommen worden wäre.
Der Antrag auf Rücknahme vom Oktober 2002 hatte weder im Widerspruchs- noch im Klage- oder Berufungsverfahren Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 18. November 2002; Gerichtsbescheid vom 4. Februar 2003; die Berufung des Klägers zurückweisendes Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg ≪LSG≫ vom 29. Januar 2004).
Das LSG hatte zunächst zur mündlichen Verhandlung auf den 11. Dezember 2003 geladen. Daraufhin teilte der in L. wohnhafte Kläger (per Fax, eingegangen am 8. Dezember 2003) mit, er sei krankgeschrieben; der Termin müsse verschoben werden. Das LSG verlegte den Termin mit Beschluss vom 9. Dezember 2003 auf den 29. Januar 2004, 11.45 Uhr, bat den Kläger jedoch noch um Vorlage der Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigung, die dieser unter dem 12. Dezember 2003 per Fax nachreichte. Zum Termin vom 29. Januar 2004 bat der Kläger unter dem 26. Januar 2004 erneut per Fax wegen Krankschreibung um Verschiebung und übermittelte gleichzeitig eine entsprechende Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigung. Der Berichterstatter ermittelte am Folgetag telefonisch beim behandelnden Arzt, dass seine Erkrankung den Kläger nicht hindere, nach S. zu kommen. Mit einfachem Brief vom 27. Januar 2004 teilte er dem Kläger unter Hinweis auf das Telefongespräch mit, eine erneute Vertagung der mündlichen Verhandlung werde abgelehnt; sein behandelnder Arzt habe ihn als reisefähig bezeichnet. Die mündliche Verhandlung vom 29. Januar 2004 fand ohne den Kläger statt.
Das LSG hat die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts (SG) zurückgewiesen und ua ausgeführt, es sei nicht verpflichtet gewesen, auf Antrag des Klägers den Termin zur mündlichen Verhandlung zu vertagen. Aus der eingeholten Arztauskunft vom 27. Januar 2004 habe sich ergeben, dass der Kläger reisefähig gewesen sei. Der Kläger habe auch nicht damit rechnen dürfen, dass auf Grund seiner am 27. Januar 2004 vorgelegten Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigung die mündliche Verhandlung vom 29. Januar 2004 vertagt würde. Ein Anlass hierzu habe nicht bestanden.
Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde hat der Kläger sein Schreiben vom 2. Februar 2004 an das LSG vorgelegt; hierin behauptet er, er habe das Schreiben vom 27. Januar 2004 erst am 30. Januar 2004 erhalten: Wenn er krankgeschrieben sei, sei er nicht verpflichtet, den Briefkasten täglich zu leeren, dies habe er erst am 30. Januar 2004 getan; das Schreiben des LSG vom 27. Januar 2004 sei deshalb hinfällig gewesen. Er macht als Verfahrensmangel gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einen Verstoß gegen das rechtliche Gehör dadurch geltend, dass das LSG das Urteil vom 29. Januar 2004 auf Grund mündlicher Verhandlung verkündet habe, obwohl er mit Schreiben vom 26. Januar 2004 einen begründeten Antrag gestellt gehabt habe, den Verhandlungstermin aufzuheben und zu verlegen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Beschwerde ist begründet und führt gemäß § 160a Abs 5 SGG zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG. Zu Recht rügt der Kläger eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG). Das LSG hätte am 29. Januar 2004 nicht in seiner Abwesenheit verhandeln dürfen, ohne sich zumindest zu vergewissern, dass der Kläger die Nachricht vom 27. Januar 2004 erhalten hat, wonach der Termin stattfinden werde, da er von seinem behandelnden Arzt für reisefähig gehalten werde.
Wird auf Grund mündlicher Verhandlung entschieden, muss den Beteiligten Gelegenheit gegeben werden, sich in dieser Verhandlung zur Sach- und Rechtslage zu äußern. Dem entspricht, dass das Gericht zur Terminsverlegung verpflichtet ist, wenn ein erheblicher Grund hierfür vorliegt (BSG 10. August 1995, SozR 3-1750 § 227 Nr 1 S 2 mwN). Ein besonderes Gewicht erhält diese Pflicht im vorliegenden Fall auch dadurch, dass im Berufungsverfahren zwingend durch Urteil nach mündlicher Verhandlung zu entscheiden war, nachdem das SG durch Gerichtsbescheid entschieden hatte (§ 153 Abs 4 Satz 1 iVm § 105 Abs 2 Nr 1 SGG).
Das LSG ist demgegenüber davon ausgegangen, dass der Kläger mit seinem Antrag vom 26. Januar 2004 in dieser Hinsicht keinen "erheblichen Grund" geltend gemacht hat, da sein behandelnder Arzt auf telefonische Befragung des Berichterstatters ihn als reisefähig bezeichnet hatte. Eine derartige Vorgehensweise setzt jedoch voraus, dass der Kläger nach einem derartigen Antrag rechtzeitig von der abschlägigen Entscheidung seines Verlegungsantrags benachrichtigt wird. Dies gilt hier umso mehr, als bei ihm auf Grund der vorangegangenen Verhaltensweise des Gerichts der Eindruck erweckt wurde, dem Antrag werde stattgegeben.
Denn der Kläger hatte bereits drei Tage vor dem auf den 11. Dezember 2003 anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung eine Terminsverlegung mit der Begründung beantragt, er sei arbeitsunfähig erkrankt. Daraufhin hatte das LSG den Termin sogleich mit Beschluss verlegt und lediglich den Kläger gebeten, die Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigung nachzureichen, was dann auch erfolgt war. Hieraus aber konnte der Kläger nur den Schluss ziehen, dass auch aus Sicht des Gerichts eine ärztlich bescheinigte Arbeitsunfähigkeit als erheblicher Grund für eine Terminsverlegung zu werten war. Er konnte demgemäß davon ausgehen, dass seinem Verlegungsantrag vom 26. Januar 2004, ebenfalls drei Tage vor dem Termin vom 29. Januar 2004, dem er sogleich eine Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigung beigefügt hatte, stattgegeben würde. Er musste nicht damit rechnen, dass das LSG nunmehr zwischen Arbeits- und Reisefähigkeit differenzieren und auf Grund einer telefonischen Anfrage beim Hausarzt (im Übrigen: ohne dass eine Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht vorlag) von seiner Reisefähigkeit ausgehen würde.
Dem Senat erscheint zwar nachvollziehbar, dass das Berufungsgericht bei einem zweiten kurz vor dem Terminstag gestellten Verlegungsantrag geneigt war, strengere Maßstäbe anzulegen. Dies kann dem Kläger, der hiervon nichts wissen musste, jedoch nicht entgegengehalten werden. Wollte das LSG, soweit irgend möglich, den Termin "aufrecht erhalten", hätte sich angeboten, mit dem Kläger auf andere Weise Kontakt aufzunehmen als durch einfachen Brief; bei einem solchen war von vornherein nicht gewährleistet, dass der Kläger ihn rechtzeitig vor dem Termin erhalten würde. Denn dies hätte vorausgesetzt, dass er am Folgetag nach der Absendung beim Kläger gewesen wäre; mit einem entsprechenden Nachweis konnte das LSG zum Termin allenfalls bei Anwesenheit des Klägers rechnen. Hierzu kam es jedoch nicht. Als erfolgversprechendere Alternativen standen zB eine Übermittlung per Fax (unter der Nummer, die als Absender auf dem Fax des Klägers angegeben war) mit der Bitte um Rückäußerung oder, wenn möglich, eine Kontaktaufnahme per Telefon sowie durch Inanspruchnahme von Amtshilfe der Kommunalverwaltung des Wohnortes zu Gebote.
Die Verhaltensweise des LSG begegnet auch Bedenken unter dem Gesichtspunkt des aus Art 2 Abs 1 Grundgesetz (GG) iVm Art 20 Abs 1 GG abgeleiteten Prozessgrundrechts auf ein faires Verfahren, das insbesondere durch das für das Gericht geltende Verbot konkretisiert wird, sich widersprüchlich zu verhalten (siehe hierzu Bundesverfassungsgericht ≪BVerfG≫ 26. April 1988, BVerfGE 78, 123, 126 mwN; 15. August 1996 - 2 BvR 2600/95 -, SGb 1997, 165, s auch neuestens BVerfG 4. Mai 2004 - 1 BvR 1892/03 - unter B 3 der Gründe, aE).
Der Senat hatte nicht zu prüfen, ob die Verletzung des rechtlichen Gehörs für die Entscheidung ursächlich geworden ist. Obwohl die Verletzung des rechtlichen Gehörs anders als im verwaltungsgerichtlichen Verfahren (§ 138 Nr 3 Verwaltungsgerichtsordnung) nicht als absoluter Revisionsgrund ausgestaltet ist (§ 202 SGG iVm § 547 Zivilprozessordnung), erübrigen sich auch im sozialgerichtlichen Verfahren im allgemeinen Ausführungen dazu, inwieweit das angefochtene Urteil auf der Verletzung des rechtlichen Gehörs beruhen kann, wenn ein Beteiligter hierdurch an der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung gehindert wurde (Senatsurteil vom 25. März 2003 - B 7 AL 76/02 R - mwN). Ein Fall, in dem die Entscheidungserheblichkeit des Verfahrensfehlers von vornherein verneint werden müsste (s BSG 9. Juni 2004 - B 12 KR 16/02 B), liegt hier nicht vor.
Dem LSG obliegt auch die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Fundstellen