Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 29. April 2021 wird als unzulässig verworfen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Streitig ist die Gewährung höherer Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) für Februar 2017.
Der Kläger ist somalischer Staatsangehöriger. Im Mai 2013 reiste er über Italien nach Deutschland ein. Die vom Beklagten zur Aufgabenwahrnehmung herangezogene Stadt H bewilligte zuletzt für September 2016 Leistungen nach dem AsylbLG. Im September 2016 wurde der Kläger nach Italien abgeschoben, reiste aber trotz bestehenden Einreise- und Aufenthaltsverbots unmittelbar nach Deutschland zurück. Die Stadt H gewährte dem Kläger seither nur auf das unabweisbar Gebotene beschränkte Leistungen nach § 1a Abs 1 AsylbLG(idF des Integrationsgesetzes vom 31.7.2016, BGBl I 1939) , unter anderem für Februar 2017 (Bescheid vom 10.1.2017; Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 6.6.2017). Das Sozialgericht (SG) Hildesheim hat den Beklagten unter Abänderung der angegriffenen Bescheide verurteilt, dem Kläger ("ungekürzte") Grundleistungen nach dem AsylbLG zu gewähren (Urteil vom 13.4.2018). Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen hat die dagegen gerichtete Berufung des Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 29.4.2021). Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Leistungseinschränkung mangels ordnungsgemäßer Anhörung bereits formell rechtswidrig sei. Sie sei aber auch materiell rechtswidrig. Sollte der Kläger als Asylfolgeantragsteller leistungsberechtigt gewesen sein, komme eine Absenkung von vornherein nicht in Betracht. Sollte er als Geduldeter leistungsberechtigt gewesen sein, sei der Leistungsbezug jedenfalls nicht das prägende Einreisemotiv gewesen.
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht der Beklagte geltend, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung.
II
Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 Satz3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung des allein geltend gemachten Revisionszulassungsgrunds der grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG).
Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung - ggf sogar des Schrifttums - angeben, welche Rechtsfrage sich stellt, dass diese noch nicht geklärt ist, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfrage aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt (Bundessozialgericht ≪BSG≫ vom 2.3.1976 - 12/11 BA 116/75 - SozR 1500 § 160 Nr 17 und BSG vom 26.6.1975 - 12 BJ 12/75 - SozR 1500 § 160a Nr 7; BSG vom 22.8.1975 - 11 BA 8/75 - BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11; BSG vom 25.9.1975 - 12 BJ 94/75 - SozR 1500 § 160a Nr 13; BSG vom 25.10.1978 - 8/3 BK 28/77 - SozR 1500 § 160a Nr 31; BSG vom 19.1.1981 - 7 BAr 69/80 - SozR 1500 § 160a Nr 39; BSG vom 9.10.1986 - 5b BJ 174/86 - SozR 1500 § 160a Nr 59 und BSG vom 22.7.1988 - 7 BAr 104/87 - SozR 1500 § 160a Nr 65). Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muss der Beschwerdeführer eine konkrete Frage formulieren, deren (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit und (konkrete) Klärungsfähigkeit (= Entscheidungserheblichkeit) sowie deren über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung (Breitenwirkung) darlegen (vgl nur BSG vom 25.9.2002 - B 7 AL 142/02 B - SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70 mwN). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht.
Soweit der Beklagte Rechtsfragen dazu aufwirft, ob ausländerrechtliche Statusentscheidungen, die für den Vollzug der Ausreise bindend seien, auch für die Beurteilung des Einreisemotivs bindend seien, und ob nach der Einreise hinzugetretene Umstände bei Beurteilung des Einreisemotivs überhaupt berücksichtigt werden dürften und schließlich, ob gegen die geltende Rechtsordnung vorstoßende Motive für die Einschränkung von Leistungen berücksichtigt werden dürften und ob subjektive Hoffnungen geeignet seien, objektive Umstände zu überlagern, die auf Leistungsbezug als prägendes Einreisemotiv hindeuteten, sind mit diesem Vortrag Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung nicht ausreichend dargelegt.
Die Fragen danach, welche Umstände mit welchem Gewicht als Einreisemotive zu berücksichtigen sind, stellen schon keine abstrakt-generelle Rechtsfragen dar, die allgemein beantwortet werden könnten, sondern hängen erkennbar von den Umständen des Einzelfalls ab und sind deshalb einer Entscheidung durch das Revisionsgericht entzogen. Dies zeigt sich schon an den Formulierungen in der Beschwerdebegründung. So wirft der Beschwerdeführer zur Begründung der Beschwerde dem LSG vor, es unterstelle eine extreme materielle Not in Italien, die es als prägend für die Beendigung des Aufenthalts in Italien bewerte. Der Kläger habe aus dem Einreise- und Aufenthaltsverbot schließen müssen, dass er dort, wo er sich nicht aufhalten dürfe, auch nicht arbeiten dürfe. Diese Formulierungen zeigen, dass der Beschwerdeführer über den Umweg der grundsätzlichen Bedeutung in Wahrheit die Beweiswürdigung des LSG (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG), deren Verletzung mit der Nichtzulassungsbeschwerde aber nicht angegriffen werden kann (§ 160 Abs 3 Nr 3 SGG), und bloße Subsumtionsvorgänge für falsch hält und durch seine eigene Wertung und Subsumtion ersetzt. Dies kann nicht zur Zulassung der Revision führen. Im Übrigen hat der Beklagte bezüglich sämtlicher Rechtsfragen nicht ausreichend dargelegt, dass diese klärungsfähig sind. Klärungsfähig ist eine Rechtsfrage nur dann, wenn sie für den zu entscheidenden Fall rechtserheblich ist (BSG vom 25.10.1978 - 8/3 BK 28/77 - SozR 1500 § 160a Nr 31). Über die aufgeworfene Rechtsfrage müsste das Revisionsgericht also - in Ergänzung zur abstrakten Klärungsbedürftigkeit - konkret-individuell sachlich entscheiden können (BSG aaO; BSG vom 25.6.1980 - 1 BA 23/80 - SozR 1500 § 160 Nr 39). Dies erfordert es, dass der Beschwerdeführer den nach seiner Auffassung vom Revisionsgericht einzuschlagenden Weg der Nachprüfung des angefochtenen Urteils und damit insbesondere den Schritt darlegt, der die Entscheidung der als grundsätzlich bezeichneten Rechtsfrage notwendig macht (BSG vom 25.10.1978 - 8/3 BK 28/77 - SozR 1500 § 160a Nr 31). Hierzu wäre insbesondere erforderlich gewesen, dass der Beklagte die Rechtslage schildert, die nach den hier maßgeblichen Vorschriften des AsylbLG gegolten hat, sowie erläutert, dass und an welcher Stelle die aufgeworfene Rechtsfrage im angestrebten Revisionsverfahren beantwortet werden muss. Hieran fehlt es gänzlich. Hierauf konnte aber schon deshalb nicht verzichtet werden, weil eine Anspruchseinschränkung wegen einer Einreise zum Zwecke des Leistungsbezugs nach § 1a Abs 1 AsylbLG in der Fassung des Integrationsgesetzes nur bei Leistungsberechtigten nach § 1 Abs 1 Nr 4, 5 oder 6 AsylbLG in Betracht kommt, das LSG es aber offengelassen hat, ob der Kläger leistungsberechtigt nach § 1 Abs 1 Nr 4 AsylbLG oder nach § 1 Abs 1 Nr 7 AsylbLG (Stellung eines Asylfolgeantrags) war. Damit hätte der Beklagte aufzeigen müssen, woraus sich die Leistungsberechtigung des Klägers ergab und gegebenenfalls in welchem Verhältnis die Tatbestandsvarianten des § 1 Abs 1 AsylbLG zueinander stehen.
Wegen der (sinngemäß) aufgeworfenen Rechtsfrage, ob vor jeder Leistungseinschränkung eine Anhörung des Leistungsberechtigten erforderlich sei (vgl § 1 Abs 1 Niedersächsisches Verwaltungsverfahrensgesetz ≪NVwVfG≫ iVm § 28 Abs 1 Verwaltungsverfahrensgesetz ≪VwVfG≫), und zwar auch dann, wenn die auf das unabweisbar Gebotene beschränkte Bewilligung wegen Einreise zum Zweck des Leistungsbezugs und ohne vorherige Bewilligung erfolge, hat der Beklagte nicht ausreichend dargelegt, dass Rechtsfragen hierzu klärungsbedürftig sind. Eine Rechtsfrage ist dann nicht klärungsbedürftig, wenn die Antwort praktisch außer Zweifel steht, sich zB unmittelbar aus dem Gesetz ergibt oder bereits höchstrichterlich geklärt ist. Als bereits höchstrichterlich geklärt ist eine Rechtsfrage auch dann anzusehen, wenn das Revisionsgericht diese zwar noch nicht ausdrücklich entschieden hat, jedoch schon eine oder mehrere höchstrichterliche Entscheidungen ergangen sind, die ausreichende Anhaltspunkte zur Beurteilung der von der Beschwerde als grundsätzlich herausgestellten Rechtsfrage geben (vgl nur BSG vom 21.1.1993 - 13 BJ 207/92 - SozR 3-1500 § 160 Nr 8 S 17). Der Beklagte trägt zwar vor, dass ungeklärt sei, ob ein das Anhörungserfordernis auslösender Eingriff in eine bestehende Rechtsposition auch dann anzunehmen sei, wenn "die Gewährung eingeschränkter Leistungen erfolgt, ohne dass bereits zuvor höhere Leistungen" zugebilligt worden seien, und behauptet, dass diese Frage höchstrichterlich noch nicht geklärt sei. Dies genügt angesichts umfangreicher Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zu § 28 VwVfG und des BSG zur entsprechenden Vorschrift in § 24 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) aber nicht. Danach setzt der Eingriff in Rechte des Betroffenen iS des § 28 Abs 1 VwVfG bzw § 24 Abs 1 SGB X voraus, dass eine (bereits) bestehende und zuerkannte Rechtsposition zum Nachteil des Beteiligten verändert wird (BSG vom 9.12.2004 - B 6 KA 44/03 R - BSGE 94, 50 = SozR 4-2500 § 72 Nr 2, RdNr 23; BSG vom 19.9.2000 - B 9 SB 1/00 R - BSGE 87, 122, 123 = SozR 3-3900 § 22 Nr 2 S 10; vgl auch BVerwG vom 14.10.1982 - 3 C 46/81 - BVerwGE 66, 184, juris RdNr 35), was auch dann der Fall sein kann, wenn der Betroffene zB rechtswidrig finanzielle Zuwendungen ohne Verwaltungsakt erhalten hat (dazu BSG vom 25.10.1984 - 11 RA 24/84 - SozR 1300 § 45 Nr 12 S 31). Der Beklagte erläutert nicht, weshalb sich die von ihm gestellte Frage nicht bereits dieser Rechtsprechung (in seinem Sinne) entnehmen lässt.
Ist die Rechtsfrage höchstrichterlich bereits geklärt, kann die Klärungsbedürftigkeit zwar ausnahmsweise bejaht werden, wenn der Rechtsprechung in nicht geringem Umfang widersprochen wird und gegen sie Einwendungen vorgebracht werden, die nicht als abwegig anzusehen sind (BSG vom 19.7.2011 - B 8 SO 19/11 B - RdNr 7 mwN). Eine solche Ausnahme hat der Beklagte in seiner Beschwerdebegründung aber nicht dargetan. Dazu hätte es der Aufarbeitung des fachwissenschaftlichen Schrifttums und ggf nach den genannten BSG-Entscheidungen ergangener Entscheidungen von Instanzgerichten, die sich mit dieser Entscheidung auseinandersetzen, bedurft. Es steht nicht im Belieben eines Beteiligten, eine Rechtsprechung erneut vom Revisionsgericht überprüfen zu lassen (vgl BSG vom 19.7.2011 - B 8 SO 19/11 B - juris RdNr 7 mwN; BSG vom 18.2.1988 - 5/5b BJ 274/86); dies gilt erst recht, wenn diese Rechtsprechung in seinem Sinne ergangen ist.
Auch die grundsätzliche Bedeutung der Frage, ob eine Belehrung über die drohende Anspruchseinschränkung im Falle einer Einreise zum Zweck des Leistungsbezugs erforderlich ist, hat der Beklagte nicht ordnungsgemäß dargelegt. Das BSG hat zwar offengelassen, ob eine Belehrung in Fällen erfolgen muss, in denen die Nachholung eines vom Leistungsberechtigten geforderten Verhaltens zu Ansprüchen in voller Höhe führt, oder insoweit eine Anhörung (in den gesetzlich vorgesehenen Fällen) ausreichend ist (BSG vom 12.5.2017 - B 7 AY 1/16 R - BSGE 123, 157 = SozR 4-3520 § 1a Nr 2, RdNr 19); denn eine Belehrung war dort erteilt worden. Wegen der Rechtsfrage, ob und ggf in welchen Fallgestaltungen eine Belehrung dann erforderlich ist, wenn eine Einreise zum Zwecke des Leistungsbezugs in Rede steht, fehlt es aber ebenfalls an ausreichenden Darlegungen zur erforderlichen Klärungsfähigkeit im Einzelfall. Hat das LSG - wie hier - seine Entscheidung auf mehrere voneinander unabhängige, tragende Begründungen gestützt, muss der geltend gemachte Zulassungsgrund hinsichtlich aller Begründungen dargelegt werden (BSG vom 15.3.2018 - B 9 V 7/18 B - juris RdNr 6). Da es dem Beklagten aber nicht gelungen ist, grundsätzliche Rechtsfragen zu der Frage nach den Einreisemotiven darzulegen, ergibt sich auch für Rechtsfragen im Hinblick auf Pflichten zur Belehrung keine ausreichende Klärungsfähigkeit.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI14986581 |