Verfahrensgang
SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 07.02.2019; Aktenzeichen S 11 R 3287/17) |
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 29.04.2019; Aktenzeichen L 9 R 517/19) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 29. April 2019 wird als unzulässig verworfen.
Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Gründe
Mit Urteil vom 29.4.2019 hat das LSG Baden-Württemberg einen Anspruch der Klägerin, die 1957 geboren ist und seit 2003 Rente wegen voller Erwerbsminderung bezieht, auf Gewährung der Erwerbsminderungsrente auf der Grundlage eines Zugangsfaktors von 1,0 anstelle eines Zugangsfaktors von 0,901 wegen vorzeitiger Inanspruchnahme dieser Rente verneint.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat die Klägerin Beschwerde beim BSG eingelegt. Sie beruft sich auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG.
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig, weil sie nicht formgerecht begründet ist. Ein Zulassungsgrund wird in der Beschwerdebegründung nicht nach Maßgabe der Erfordernisse des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG dargetan. Die Beschwerde ist daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 iVm § 169 SGG zu verwerfen.
Eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (zum Ganzen vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70 mwN; Fichte in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl 2014, § 160a RdNr 32 ff). Diesen Anforderungen wird die vorliegende Beschwerdebegründung nicht gerecht.
Die Klägerin misst folgender Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung bei:
"Ist die Regelung des § 77 Abs. 2 SGB VI im Hinblick auf die versicherungsmathematischen Abschläge (Erniedrigung des Zugangsfaktors) verfassungswidrig geworden durch das zum 01.07.2014 in Kraft getretene RV-Leistungsverbesserungsgesetz unter Verstoß gegen Art. 14 GG und Art. 3 GG?"
Sie hat die Klärungsbedürftigkeit dieser Frage nicht schlüssig dargetan.
Eine Rechtsfrage ist dann nicht klärungsbedürftig, wenn die Antwort praktisch außer Zweifel steht, sich zB unmittelbar aus dem Gesetz ergibt oder bereits höchstrichterlich geklärt ist. Als höchstrichterlich geklärt ist eine Rechtsfrage auch dann anzusehen, wenn das Revisionsgericht bzw das BVerfG diese zwar noch nicht ausdrücklich entschieden hat, jedoch schon eine oder mehrere höchstrichterliche Entscheidungen ergangen sind, die ausreichende Anhaltspunkte zur Beurteilung der von der Beschwerde als grundsätzlich herausgestellten Rechtsfrage geben (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 8 S 17). Im Hinblick hierauf muss in der Beschwerdebegründung unter Auswertung der Rechtsprechung des BSG bzw des BVerfG zu dem Problemkreis substantiiert vorgetragen werden, dass zu diesem Fragenbereich noch keine Entscheidung gefällt oder durch die schon vorliegenden Urteile und Beschlüsse die hier maßgebende Frage von grundsätzlicher Bedeutung noch nicht beantwortet worden ist (vgl Krasney/Udsching/Groth, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 7. Aufl 2016, Kap IX RdNr 183 mwN).
Hieran fehlt es. Die Beschwerdebegründung zitiert wörtlich Passagen aus dem Beschluss des BVerfG vom 11.1.2011 (1 BvR 3588/08 ua - BVerfGE 128, 138 = SozR 4-2600 § 77 Nr 9) und trägt vor, die Regelung des § 77 Abs 2 SGB VI sei nachträglich verfassungswidrig geworden, weil spätestens zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des RV-Leistungsverbesserungsgesetzes (BGBl I 787) am 1.7.2014 die finanzielle Notlage der gesetzlichen Rentenversicherung nicht mehr bestanden habe, die die Einführung des Abschlags nach der Rechtsprechung des BVerfG gerechtfertigt habe. Infolgedessen sei auch jeder Dauerrentenbescheid zu diesem Zeitpunkt in die Verfassungswidrigkeit "geschlittert".
Nach dem Beschluss des BVerfG vom 11.1.2011 (aaO) ist die Kürzung des Zugangsfaktors bei Renten wegen Erwerbsminderung mit dem GG vereinbar, auch wenn der Rentenbezug vor der Vollendung des 60. Lebensjahres beginnt. Mit der Einführung von Abschlägen in einem Umfang von höchstens 10,8 % habe im Rahmen eines Gesamtkonzepts die Höhe der Erwerbsminderungsrenten gekürzt und den vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrenten angepasst werden sollen. Das Unterlaufen der Bestimmungen zur Anhebung der Altersgrenzen für den Bezug von Altersrenten und zur Einführung von Abschlägen bei einem vorzeitigen Altersrentenbezug habe verhindert werden sollen. Die gekürzte Leistung von Erwerbsminderungsrenten vor Vollendung des 63. Lebensjahres sei Teil der in einer ganzen Reihe von Gesetzesänderungen realisierten Rentenreform, die - beginnend mit dem Rentenreformgesetz 1992 - die angespannte finanzielle Situation der gesetzlichen Rentenversicherung habe verbessern sollen. Die Einführung von Abschlägen auf Erwerbsminderungsrenten sei ursprünglich bereits im Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung (Rentenreformgesetz 1999 - RRG 1999 - vom 16.12.1997 ≪BGBl I 2998≫) vorgesehen gewesen. Der Gesetzgeber habe damals das Ziel formuliert, den Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung zu senken und das bestehende Alterssicherungssystem bei steigender Lebenserwartung und sinkender Geburtenrate zukunftsfähig zu machen.
Gesetzliche Änderungen, die die Höhe der Rentenanwartschaft zwecks Verbesserung der Finanzsituation der gesetzlichen Rentenversicherung berühren, seien dann grundsätzlich verfassungsrechtlich zulässig, wenn die Veränderung ihrerseits an einen Umstand anknüpfe, der für die Finanzsituation kausal sei. So verhalte es sich bei § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGB VI(in der seit dem 1.1.2001 geltenden Fassung des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20.12.2000, BGBl I 1827) , weil mit der Absenkung des Zugangsfaktors bei Erwerbsminderungsrenten auf die Inanspruchnahme der Rente vor Eintritt des Regelalters für die Altersrente und damit auf eine Verlängerung der Rentenbezugszeit reagiert werde. Den Vorteil der verlängerten Rentenbezugszeit durch eine Absenkung des monatlichen Zahlbetrags zumindest teilweise zu kompensieren, sei eine auch unter versicherungsmathematischen Gesichtspunkten nachvollziehbare und damit sachlich gerechtfertigte Maßnahme (vgl BVerfG Beschluss vom 11.1.2011 - BVerfGE 128, 138, 150 ff = SozR 4-2600 § 77 Nr 9 RdNr 39 ff).
Die Einführung eines gekürzten Zugangsfaktors bei Beginn einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 63. Lebensjahres hat das BVerfG im Lichte dieser Zielsetzung auch als verhältnismäßig angesehen (BVerfG Beschluss vom 11.1.2011 - BVerfGE 128, 138, 151 f = SozR 4-2600 § 77 Nr 9 RdNr 42 f). Wie die Veränderung bei den Rentenzugängen in der Erwerbsminderungsrente zeige, sei die Minderung des Zugangsfaktors geeignet gewesen, das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel zu erreichen. Der Gesetzgeber habe die Kürzung des Zugangsfaktors auch als erforderlich ansehen dürfen. Ein milderes, die Beschwerdeführer weniger belastendes Mittel, mit dem der Gesetzgeber seine Ziele ebenso gut hätte erreichen können, sei nicht ersichtlich. Der Gesetzgeber könne insbesondere nicht darauf verwiesen werden, die mit § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGB VI verfolgte Einsparung in anderen Bereichen innerhalb des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung zu erzielen.
Eine Auseinandersetzung mit diesen Argumenten des BVerfG ist in der Beschwerdebegründung nicht zu erkennen. Die vom BVerfG im Rahmen des gesetzgeberischen Gesamtkonzepts herausgestellten Aspekte der Angleichung der Erwerbsminderungsrenten an die vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrenten und der längeren Rentenbezugszeit finden in der Beschwerdebegründung keine Erwähnung. Die Klägerin stellt lediglich den Gesichtspunkt der Verbesserung der finanziellen Situation der Rentenversicherung heraus. Dabei begründet sie bereits nicht, warum eine Stabilisierung der Finanzen der gesetzlichen Rentenversicherung mit einer "finanziellen Notlage der gesetzlichen Rentenversicherung" gleichbedeutend sein soll. Auch findet eine Auseinandersetzung mit dem Verständnis der Rechtsprechung des Merkmals der Erforderlichkeit im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht statt. Die Klägerin legt ihren Ausführungen vielmehr ihr hiervon abweichendes eigenes Verständnis dieses Begriffs im Sinne einer Unabweisbarkeit zugrunde. Vor allem aber fehlt es an jeder nachvollziehbaren Begründung dafür, dass der Gesetzgeber verpflichtet gewesen sein soll, statt der im Jahr 2014 eingeführten Rente für besonders langjährig Versicherte (§ 236b SGB VI idF vom 23.6.2014) und der sog "Mütterrente" (§ 249 Abs 1, § 307d SGB VI idF vom 23.6.2014) die Einführung eines gekürzten Zugangsfaktors bei Beginn einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 63. Lebensjahres rückgängig zu machen. Die Klägerin trägt insofern lediglich vor, dass mit dem Wegfall der "finanziellen Notlage" "automatisch" die Regelung des § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGB VI verfassungswidrig geworden sei. Einen normativen Anknüpfungspunkt oder Anhaltspunkte in der Rechtsprechung für diese Auffassung nennt sie nicht. Eine Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des BVerfG zum Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers findet nicht statt. Der Vortrag, es verstehe "sich doch ganz von selbst, dass man nicht auf der einen Seite Gelder großzügigst ausgeben kann und die anderen Personen, denen man wegen der finanziellen Engpasssituation die Renten gekürzt hat, auf deren Kürzung sitzen lässt", ist insofern unzureichend. In diesem Zusammenhang ist auch auf die in der Beschwerdebegründung nicht berücksichtigte ständige Rechtsprechung des BVerfG zu verweisen, wonach dem Gesetzgeber nicht vorgegeben werden kann, in welchen Bereichen des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung Einsparungen erzielt werden sollen (vgl zB BVerfGE 116, 96, 127; 117, 272, 298; BVerfG Beschluss vom 11.11.2008 - BVerfGE 122, 151, 184 = SozR 4-2600 § 237 Nr 16 RdNr 84; BVerfGE 128, 138, 152 = SozR 4-2600 § 77 Nr 9 RdNr 44). Jedenfalls soweit die sog "Mütterrenten" betroffen sind, wäre schließlich auch die Verpflichtung des Gesetzgebers zur Regelung eines Familienlastenausgleichs in den Blick zu nehmen (vgl dazu BVerfGE 87, 1 = SozR 3-5761 Allg Nr 1).
Ebenso wenig setzt sich die Klägerin mit der Rechtsprechung des BVerfG zu Art 3 Abs 1 GG auseinander. Das BVerfG hat im Beschluss vom 11.1.2011 ausgeführt, dass Art 3 Abs 1 GG nicht verletzt ist (BVerfGE 128, 138, 156 = SozR 4-2600 § 77 Nr 9 RdNr 53). Soweit die Klägerin meint, Art 3 GG sei dadurch verletzt, dass der Gesetzgeber auf der einen Seite "Wohltaten" verteile und auf der anderen Seite Leistungseinschränkungen bestehen lasse, lässt der Vortrag eine nähere Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen eines Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz vermissen. Insbesondere fehlt ein substantiierter Vortrag dazu, dass es sich bei denjenigen Versicherten, die im Jahr 2014 begünstigt worden sind, um Personengruppen handelt, die im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG mit der Personengruppe der Klägerin vergleichbar sind. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass sie eine vorzeitige Erwerbsminderungsrente mit Abschlägen erhält, die die Vorteile eines früheren Ruhestandes, einer längeren Rentenlaufzeit und der Ersparnis weiterer Beitragsleistungen ausgleichen (vgl BVerfG Beschluss vom 11.11.2008 - BVerfGE 122, 151, 186, 189 = SozR 4-2600 § 237 Nr 16 RdNr 88, 97). Nur im Fall einer Vergleichbarkeit käme aber eine Verletzung von Art 3 Abs 1 GG in Betracht (stRspr, vgl nur BVerfG Beschluss vom 11.11.2008 - BVerfGE 122, 151, 174 = SozR 4-2600 § 237 Nr 16 RdNr 62 mwN).
Sofern die Klägerin des Weiteren eine Ungleichbehandlung darin sieht, dass die durch das RV-Leistungsverbesserungsgesetz verursachten finanziellen Mehrbelastungen der Rentenversicherung durch die Kürzung der Rentenanwartschaften der Bestandsrentner finanziert würden, geht sie weder auf die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers noch darauf ein, dass die Renten aus den laufenden Einnahmen der Rentenversicherungsträger, dh insbesondere aus den Beitragsleistungen der Erwerbstätigen und den aus Steuermitteln finanzierten Bundeszuschüssen zur Rentenversicherung, gezahlt werden (vgl dazu zB BVerfGE 76, 256, 301, 302 f).
Soweit sich die Klägerin schließlich gegen die Heranziehung des § 48 SGB X im Urteil des LSG wendet, richtet sich die Beschwerde gegen die Richtigkeit der Rechtsanwendung im Einzelfall.
Eine fehlerhafte Rechtsanwendung im konkreten Fall vermag eine Nichtzulassungsbeschwerde nach § 160a SGG jedoch nicht zu begründen.
Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 und 4 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI13598032 |