Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Revision. Zulassung. Verfahrensmangel. Prozessurteil. Verwerfung. Berufungsfrist. Versäumung
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein Verfahrensfehler, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann, liegt vor, wenn es sich bei der angefochtenen Entscheidung um ein Prozessurteil handelt, das nicht hätte ergehen dürfen; wenn bei einem Prozessurteil handelt es sich um eine qualitativ andere Entscheidung gegenüber dem sonst erforderlichen Sachurteil handelt.
2. Dies ist der Fall, wenn das Berufungsgericht statt eines Sachurteils ein Prozessurteil fällt und die Berufung wegen Versäumung der Berufungsfrist nach § 151 Abs. 1 SGG durch Beschluss gemäß § 158 SGG als unzulässig verwirft, obwohl der Kläger vor Ablauf der Frist durch Schreiben erkennbar Berufung gegen den Gerichtsbescheid des erstinstanzlichen Gerichts eingelegt hat.
Normenkette
SGG §§ 123, 151 Abs. 1, §§ 158, 160 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 5
Tenor
Dem Kläger wird Wiedereinsetzung in die Fristen zur Einlegung und zur Begründung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 7. Februar 2013 - L 5 AS 626/12 - gewährt.
Auf die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 7. Februar 2013 - L 5 AS 626/12 - wird dieser Beschluss aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Der im dauernden Leistungsbezug nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) stehende Kläger, der schon mehrere Verfahren vor dem Sozialgericht Magdeburg (SG) geführt und anhängig hatte, beantragte mit Schreiben vom 29.4.2012, eingegangen beim SG am 2.5.2012, das beklagte Jobcenter zur Zahlung von 5000 Euro für eine Wohnungsgrundausstattung entsprechend seinem Antrag vom 10.11.2011 an den Beklagten zu verurteilen, zumal sich dieser in Untätigkeit übe. Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG durch Gerichtsbescheid vom 16.5.2012, dem Kläger zugestellt am 18.5.2012, die Klage abgewiesen, weil diese mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässig sei; der Antrag des Klägers vom 10.11.2011 habe sich durch seinen nachfolgenden Antrag vom 15.11.2011 auf Zahlung von 7500 Euro erledigt, der zu dem Verfahren mit dem Aktenzeichen - S 11 AS 11800/11 - vor dem SG geführt habe. Im Übrigen sei die Klage auch unbegründet.
In der Folgezeit hat der Kläger sich in mehreren Schreiben an das SG zu diesem und auch anderen Aktenzeichen geäußert. Mit an das SG Magdeburg adressiertem Schreiben vom 20.5.2012, nach dem Stempelaufdruck beim SG am 21.5.2012 eingegangen, hat der Kläger sich ua zu dem vorliegenden Aktenzeichen geäußert und bemängelt, dass ihm das in dem Gerichtsbescheid genannte Verfahren mit dem Aktenzeichen - "S 11 AS 11800/12" - unbekannt sei, die Entscheidung sei "aufzuheben" und an die 1. Instanz "zurückzuverweisen". Nachdem der Kläger mit Schreiben vom 13.6.2012, adressiert an SG Magdeburg, dort eingegangen am 19.6.2012 - einem Dienstag - ua zum Aktenzeichen - "S 11 AS 1511/12" - ua "Sachbeschwerde" erhoben hat, ist dieses Schreiben mit den übrigen Akten an das Landessozialgericht Sachsen-Anhalt (LSG) weitergeleitet und dort als Berufung eingetragen worden.
Nach Anhörung des Klägers zu einer möglichen Verfristung der Berufung hat das LSG durch Beschluss vom 7.2.2013 die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid vom 16.5.2012 nach § 158 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als unzulässig verworfen, weil die Berufungsfrist von einem Monat (§ 151 Abs 1 SGG) versäumt sei, da ihm der Gerichtsbescheid am 18.5.2012 zugestellt worden und die Berufung erst am Dienstag, den 19.6.2012 beim SG eingegangen sei.
Gegen diesen Beschluss hat der Kläger persönlich fristgemäß Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt und Prozesskostenhilfe (PKH) beantragt, die ihm vom Senat bewilligt wurde. In der von seinem Prozessbevollmächtigten eingelegten und begründeten Nichtzulassungsbeschwerde wird als Verfahrensmangel ua gerügt, das LSG habe durch Prozessurteil entschieden, obwohl es in der Sache hätte entscheiden müssen, weil der Kläger schon mit Schreiben vom 18.5.2012 (Bl 41 SG-Akte), 19.5.2012 (Bl 42, 43 SG-Akte), 21.5.2012 (Bl 46 SG-Akte) und 13.6.2012 (Bl 52 SG-Akte) Rechtsmittel gegen die Entscheidung des SG eingelegt habe, die allesamt als Berufungseinlegung zu werten seien. Insbesondere im Schreiben vom 20.5.2012 (Bl 46, Seite 3, dritter Absatz) bittet der Kläger ausdrücklich zu dem Aktenzeichen - S 22 AS 1511/12 - um die Aufhebung der Entscheidung und Zurückverweisung an die 1. Instanz.
II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Der angefochtene Beschluss des LSG Sachsen-Anhalt vom 7.2.2013 ist aufzuheben und die Sache an das LSG gemäß § 160a Abs 5 SGG zurückzuverweisen, weil diese Entscheidung des LSG auf einem Verfahrensmangel nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG beruht.
Dass dem Kläger Wiedereinsetzung in die Beschwerde- und Beschwerdebegründungsfrist zu gewähren ist (vgl § 67 SGG), folgt aus seiner fristgerechten Stellung eines PKH-Antrags und der fristgerechten Beschwerdeeinlegung und -begründung seines Prozessbevollmächtigten nach der Bewilligung der PKH.
Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist ua begründet, wenn ein Verfahrensfehler geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§§ 160a, 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, weil es sich bei der angefochtenen Entscheidung des LSG um ein Prozessurteil handelt, das nicht ergehen darf, wenn seine Voraussetzungen nicht vorliegen, da es sich bei einem Prozessurteil um eine qualitativ andere Entscheidung gegenüber dem sonst erforderlichen Sachurteil handelt (seit BSGE 1, 283; BSGE 2, 245, 252 ff; BSGE 15, 169, 172; BSG SozR 1500 § 160a Nr 55).
Hiergegen hat das LSG verstoßen, weil es die Berufung des Klägers nicht wegen Versäumung der einmonatigen Berufungsfrist nach § 151 Abs 1 SGG als unzulässig hätte verwerfen dürfen, da er schon vor Ablauf dieser Frist erkennbar Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG eingelegt hat. Zumindest die im Schreiben des Klägers vom 20.5.2012 auf S 3 von ihm geäußerte Auffassung zu dem Aktenzeichen des Gerichtsbescheides, die Entscheidung sei aufzuheben und die Sache an die 1. Instanz zurückzuverweisen, kann nicht anders verstanden werden. Auch wenn der damals nicht rechtskundig vertretene Kläger die Begriffe "Berufung" oder "Rechtsmittel" nicht gebraucht, kann seinen gegen den Gerichtsbescheid als instanzbeendende Entscheidung erhobenen Eingaben keine andere Zielrichtung oder anderes Begehren entnommen werden, zumal das Gericht nach § 123 SGG über die vom Kläger erhobenen Ansprüche zu entscheiden hat, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein.
Der Senat verkennt nicht, dass durch die zahlreichen Schreiben des Klägers, die sich zudem ausweislich der angegebenen Aktenzeichen zumeist auf mehrere Verfahren beziehen, ein Erkennen des wahren Begehrens des Klägers nach § 123 SGG zum Teil erschwert ist. Dass das Anliegen des § 123 SGG von SG und LSG nicht dem Grunde nach verkannt wird, zeigt die Auslegung des Schreibens des Klägers vom 13.6.2012, in dem dieser "Sachbeschwerde" erhoben hat und das als Berufung angesehen wurde.
Angesichts dessen kann eine Entscheidung über die vom Kläger außerdem erhobenen Rügen dahingestellt bleiben.
Der Senat macht von der durch § 160a Abs 5 SGG eröffneten Möglichkeit Gebrauch, den angefochtenen Beschluss wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen, weil für eine abschließende Entscheidung in der Sache Tatsachenfeststellungen notwendig sind.
Das LSG wird im wiedereröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen