Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts. keine Pflicht der Behörde zum Durchsuchen der Aktenbestände auf gleichartige Verfahren mit gleichfalls zurückzunehmenden Verwaltungsakten. Vier-Jahres-Frist des § 44 Abs 4 S 1 SGB 10. Geltung auch bei möglichen Fehlverhalten der Behörde. Anknüpfung an den Zeitpunkt der tatsächlichen Rücknahme. Nichtzulassungsbeschwerde. grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache. Darlegungsanforderungen
Orientierungssatz
1. Nach dem Wortlaut der Norm des § 44 Abs 1 S 1 SGB 10 muss sich die unrichtige Rechtsanwendung bzw das Ausgehen von einem unrichtigen Sachverhalt gerade im Einzelfall ergeben. Nach der Rechtsprechung des BSG befreit diese Voraussetzung den Leistungsträger von der Verpflichtung, regelmäßig oder aus besonderem Anlass den gesamten Aktenbestand daraufhin zu überprüfen, ob sich ein Anlass zu einem Vorgehen nach § 44 SGB 10 ergibt (vgl BSG vom 26.1.1988 - 2 RU 5/87 = BSGE 63, 18 = SozR 1300 § 44 Nr 31).
2. Selbst wenn die Versäumung der Frist des § 44 Abs 4 S 1 SGB 10 auf einem Fehlverhalten der Behörde beruht, kann ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch nicht zu einer mehr als vier Jahre rückwirkenden nachträglichen Leistungspflicht führen (vgl BSG vom 24.4.2014 - B 13 R 23/13 R = UV-Recht Aktuell 2014, 721).
3. Nach § 44 Abs 4 S 2 SGB 10 wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird, sodass es für die Vier-Jahres-Frist nicht auf die unterlassene Rücknahme, sondern auf die tatsächliche Rücknahme ankommt. .
Normenkette
SGB 10 § 44 Abs. 4 Sätze 1-2, Abs. 1 S. 1; SGG § 160a Abs. 2 S. 3, § 160 Abs. 2 Nr. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 15. November 2016 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I. Die Klägerin begehrt im Wege des Überprüfungsverfahrens Gewährung weiteren Elterngelds für ihre am 18.4.2009 geborenen Zwillinge S. und S.
Der Beklagte gewährte der Klägerin antragsgemäß Elterngeld für den 1. bis 12. Lebensmonat der Zwillinge von 300 Euro unter Berücksichtigung des Mehrlingszuschlags (Bescheid vom 21.7.2009).
Am 14.1.2015 begehrte die Klägerin zusätzliches Elterngeld mit Blick auf die zwischenzeitlich ergangene Zwillingsrechtsprechung des Senats. Die Beklagte lehnte den Antrag ab. Für länger als vier Jahre zurückliegende Zeiträume könne Elterngeld nicht gewährt werden (Bescheid vom 15.1.2015, Widerspruchsbescheid vom 29.1.2015).
Klage und Berufung sind erfolglos geblieben. Das LSG hat ausgeführt, § 44 Abs 4 SGB X schließe die Gewährung weiterer Leistungen im Fall der Klägerin aus. Das gelte nach der Rechtsprechung des BSG auch für eine eventuelle Gewährung im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs. Die Beklagte habe es ohnehin nicht treuwidrig unterlassen, im Fall der Klägerin von Amts wegen rechtzeitig ein Überprüfungsverfahren einzuleiten. Im Übrigen würde selbst ein treuwidriges Unterlassen nichts am Leistungsausschluss durch die Vier-Jahres-Frist des § 44 Abs 4 SGB X ändern (Urteil vom 15.11.2016).
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat die Klägerin Beschwerde zum BSG eingelegt, mit der sie eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend macht.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil eine grundsätzliche Bedeutung nicht ordnungsgemäß dargetan worden ist (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG).
1. Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern die Frage im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; siehe auch BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f mwN). Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage, wenn sie höchstrichterlich weder tragend entschieden noch präjudiziert ist und die Antwort nicht von vornherein praktisch außer Zweifel steht, so gut wie unbestritten ist oder sich unmittelbar aus dem Gesetz ergibt. Um die Klärungsbedürftigkeit ordnungsgemäß darzulegen, muss sich der Beschwerdeführer daher ua mit dem Wortlaut der entscheidungserheblichen Norm, ihrem gesetzlichen Kontext sowie der vorinstanzlichen Entscheidung und der höchstrichterlichen Rechtsprechung auseinandersetzen (Karmanski in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 160a RdNr 50 mwN). Daran fehlt es.
Die Beschwerde meint, es komme darauf an, ob die Beklagte verpflichtet gewesen sei, das Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X von Amts wegen einzuleiten. Damit diskutiert sie aber nur den Einzelfall der Klägerin, ohne mit der hinreichenden Klarheit eine darüber hinausgehende, allgemeine Rechtsfrage aufzuwerfen.
Die Beschwerde hält es für klärungsbedürftig,
ob die zuständige Behörde einen unanfechtbaren Verwaltungsakt auch dann nicht mit Wirkung für die Vergangenheit von Amts wegen zurückzunehmen brauche, wenn sie durch Entscheidungen, die in Parallelverfahren ergangen seien, erfahren habe, dass Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden seien.
Insoweit setzt die Beschwerde sich aber bereits nicht ausreichend mit dem Wortlaut der Norm des § 44 Abs 1 S 1 SGB X auseinander. Danach muss sich die unrichtige Rechtsanwendung bzw das Ausgehen von einem unrichtigen Sachverhalt gerade im Einzelfall ergeben. Nach der Rechtsprechung des BSG befreit diese Voraussetzung den Leistungsträger von der Verpflichtung, regelmäßig oder aus besonderem Anlass den gesamten Aktenbestand daraufhin zu überprüfen, ob sich ein Anlass zu einem Vorgehen nach § 44 SGB X ergibt (BSG Urteil vom 26.1.1988 - 2 RU 5/87 - BSGE 63, 18 = SozR 1300 § 44 Nr 31; Merten in Hauck/Noftz, SGB X, Stand 5/17, § 44 RdNr 56; Baumeister in juris-PK SGB X, 1. Aufl 2013, § 44 SGB X RdNr 133 mwN). Mit dieser Rechtsprechung setzt sich die Beschwerde nicht auseinander und zeigt daher keinen höchstrichterlichen Klärungsbedarf auf.
Soweit die Beschwerde in diesem Zusammenhang behauptet, das LSG widerspreche mit seiner Rechtsauffassung der Kommentierung von Schütze, weil es dessen Auffassung als zu pauschal bezeichnet hat, hat sie diesen vermeintlichen Widerspruch nicht substantiiert dargelegt. Tatsächlich betont Schütze, die Behörde sei nicht verpflichtet, auch nicht aufgrund einer neuen Rechtslage, Akten von sich aus auf Rücknahmemöglichkeiten durchzuarbeiten. Aus der Formulierung im Einzelfall ergebe sich, dass sich konkret in der Bearbeitung eines Falls ein Anhaltspunkt für eine Aufhebung ergeben haben müsse (Schütze in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 44 RdNr 39 mwN).
Die Beschwerde hält es außerdem für klärungsbedürftig,
ob in Fällen, in denen die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts von Amts wegen geboten ist, für den Beginn der Vier-Jahres-Frist nicht die unterlassene Rücknahme, sondern der Zeitpunkt der tatsächlichen Rücknahme von Amts wegen maßgeblich sei.
Dabei setzt sie sich aber nicht hinreichend mit dem angefochtenen Urteil auseinander, das zu Recht den Wortlaut des § 44 Abs 4 S 2 SGB X hervorhebt. Danach wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Die Beschwerde führt nicht aus, unter welchem methodischen Gesichtspunkt das BSG diesen Wortlaut anders auslegen sollte, als es das LSG getan hat.
Die Beschwerde fragt weiter,
ob auch in Fällen treuwidrig unterlassener Rücknahme des Verwaltungsakts überhaupt eine Frist läuft und ab wann eine Frist ggf zu berechnen wäre.
Indes hat die Beschwerde weder hinreichend substantiiert dargelegt, aus welchen Vorschriften oder allgemeinen Rechtsgrundsätzen eine solche Treuwidrigkeit abzuleiten sein könnte, noch, warum die Beklagte sich gegenüber der Klägerin überhaupt treuwidrig verhalten haben sollte. Nach den für den Senat gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG hatte sich im Fall der Klägerin kein konkreter Anlass für ein Aufgreifen des Überprüfungsverfahrens von Amts wegen ergeben. Insbesondere hatte zwischen der Elterngeldbewilligung und dem Überprüfungsantrag der Klägerin überhaupt keine irgendwie veranlasste Aktenbearbeitung stattgefunden.
Unabhängig davon geht die Beschwerde nicht ausreichend auf die vom LSG zutreffend zitierte Rechtsprechung des BSG ein. Danach kommt der Herstellungsanspruch auch dann nicht zur Anwendung, wenn es um Leistungen geht, die länger als vier Jahre zurückliegen. Selbst wenn die Versäumung der Frist des § 44 Abs 4 SGB X auf einem Fehlverhalten der Behörde beruht, kann ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch nicht zu einer mehr als vier Jahre rückwirkenden nachträglichen Leistungspflicht führen. Denn die Verletzung einer Nebenpflicht kann nicht weiterreichende Folgen haben als die Verletzung der Hauptpflicht (BSG Urteil vom 24.4.2014 - B 13 R 23/13 R - Juris mwN; Waschull in Diering/Timme/Waschull, SGB X, 3. Aufl 2011, § 44 RdNr 67). Mit diesen Entscheidungen setzt sich die Beschwerde nicht auseinander und führt daher auch nicht aus, warum sich damit nicht die von ihr für klärungsbedürftig gehaltenen Fragen beantworten lassen.
Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2, § 169 SGG).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
2. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI10970275 |