Entscheidungsstichwort (Thema)
Entscheidung über Prozesskostenhilfegesuch zusammen mit dem Urteil in der Hauptsache. rechtliches Gehör
Leitsatz (amtlich)
Entscheidet das Gericht über ein Prozesskostenhilfegesuch verfahrensfehlerhaft erst zusammen mit dem Urteil in der Hauptsache, so folgt daraus eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nur dann, wenn bei rechtzeitiger Entscheidung ausgehend von dem damaligen Sach- und Kenntnisstand eine hinreichende Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung zu bejahen gewesen wäre.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; SGG §§ 62, 73a Abs. 1 S. 1; ZPO § 114 S. 1; SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Urteil vom 11.04.2006; Aktenzeichen L 3 U 4/04) |
SG Marburg (Entscheidung vom 16.10.2003; Aktenzeichen S 3 U 766/01) |
Tatbestand
Der Kläger begehrt von der beklagten Unfallkasse die Übernahme der Kosten einer Schmerztherapie, einer erweiterten ambulanten Physiotherapie sowie eines Muskelstimulators als Hilfsmittel zur Behandlung der Folgen eines 1991 beim Schulsport erlittenen Arbeitsunfalls. Den diesbezüglichen Antrag vom August 2000 lehnte die Beklagte ab, weil für die in Aussicht genommenen therapeutischen Maßnahmen keine medizinische Indikation bestehe (Bescheid vom 4. September 2000; Widerspruchsbescheid vom 14. September 2001) . Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts - SG - Marburg vom 16. Oktober 2003; Urteil des Hessischen Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 11. April 2006) . Das LSG hat das mit dem Hauptantrag im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage verfolgte Begehren für unbegründet gehalten, weil es sich durch Zeitablauf und eine während des Verfahrens vor dem SG eingetretene wesentliche Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers erledigt habe. Die hilfsweise erhobene Fortsetzungsfeststellungsklage mit dem Ziel der Feststellung der Rechtswidrigkeit des ablehnenden Bescheides hat es abgewiesen, weil ein berechtigtes Interesse des Klägers an der begehrten Feststellung nicht erkennbar sei. Zeitgleich mit der Entscheidung in der Hauptsache hat das Berufungsgericht durch Beschluss vom 11. April 2006 den bereits zu Beginn des Berufungsverfahrens im Dezember 2003 gestellten Antrag des Klägers auf Prozesskostenhilfe abgelehnt und dies mit der mangelnden Erfolgsaussicht der Berufung begründet.
Mit der Beschwerde begehrt der Kläger die Zulassung der Revision wegen Verfahrensmängeln. Des weiteren macht er geltend, der Rechtsstreit habe grundsätzliche Bedeutung, ua im Hinblick darauf, dass das LSG von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu den Voraussetzungen der Prozesskostenhilfe und namentlich zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung abgewichen sei.
Entscheidungsgründe
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist teils unzulässig, teils unbegründet und deshalb insgesamt zurückzuweisen.
Unzulässig ist die Beschwerde, soweit sie auf die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung und der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 1 und 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫) gestützt wird. In diesen Punkten entspricht ihre Begründung nicht den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG.
Soll die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen werden, bedarf es der schlüssigen Darlegung, dass eine vom Beschwerdeführer aufgeworfene Rechtsfrage klärungsbedürftig, in dem anhängigen Rechtsstreit klärungsfähig sowie über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist. Im vorliegenden Fall ist schon keine vom Bundessozialgericht (BSG) zu klärende Rechtsfrage bezeichnet worden. Der Vortrag des Klägers beschränkt sich darauf, dass er als Schwerbehinderter medizinische Leistungen zur Rehabilitation ohne zeitliche oder quantitative Beschränkung beanspruchen könne, was das LSG nicht beachtet habe. Die bloße Behauptung, dass das Berufungsgericht die anzuwendenden rechtlichen Maßstäbe verkannt und falsch entschieden habe, berechtigt nicht zur Zulassung der Revision.
Die Rüge einer Divergenz setzt die Herausarbeitung und Gegenüberstellung der voneinander abweichenden Rechtsaussagen des LSG auf der einen und des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des BVerfG auf der anderen Seite voraus. Daran fehlt es, denn die Beschwerdebegründung beschränkt sich auf die Behauptung, das Berufungsgericht habe die aus dem Beschluss des BVerfG vom 13. März 1990 (BVerfGE 81, 347) zitierten Rechtsgrundsätze nicht beachtet. Ebenso verhält es sich mit der in anderem Zusammenhang erhobenen Rüge, die Verneinung eines berechtigten Interesses für die Fortsetzungsfeststellungsklage durch das LSG widerspreche den vom BVerfG in dem Beschluss vom 30. April 1997 (BVerfGE 96, 27) aufgestellten Grundsätzen. Der Kläger verkennt, dass eine Abweichung im Sinne der Vorschriften über die Revisionszulassung nicht schon vorliegt, wenn die angefochtene Entscheidung nicht den Kriterien der höchstrichterlichen Rechtsprechung genügt, sondern erst dann, wenn das Berufungsgericht diesen Kriterien widersprochen, also andere rechtliche Maßstäbe zugrunde gelegt hat. Die unrichtige oder unterbliebene Anwendung eines vom BVerfG aufgestellten und im angefochtenen Urteil nicht in Frage gestellten Rechtsgrundsatzes auf den zu entscheidenden Einzelfall bildet keinen Grund für die Durchführung eines Revisionsverfahrens.
Auch die erhobenen Verfahrensrügen sind teilweise unzulässig. Soweit geltend gemacht wird, das LSG habe sich ohne Vorankündigung auf ein in einem anderen Verfahren eingeholtes ärztliches Gutachten gestützt und es den Beteiligten verwehrt, sich dazu zu äußern und weitere Beweisanträge zu stellen, fehlen Ausführungen zur Entscheidungserheblichkeit des behaupteten Verfahrensfehlers. Das Berufungsgericht hat das klageabweisende Urteil des SG in erster Linie deshalb bestätigt, weil sich das Klagebegehren auf Erteilung einer Kostenzusage für die streitgegenständlichen Behandlungsmaßnahmen durch die zwischenzeitliche Durchführung einer (weiteren) Knieoperation und die damit einhergehende Veränderung der gesundheitlichen Verhältnisse erledigt habe und in Ermangelung eines berechtigten Interesses auch nicht im Wege der Fortsetzungsfeststellungsklage weiterverfolgt werden könne. Lediglich hilfsweise ("... Selbst wenn aber ein berechtigtes Interesse für die Fortsetzungsfeststellungsklage des Klägers zu bejahen wäre, ...") hat es sodann ausgeführt, dass die Beklagte die beantragten Leistungen seinerzeit auch zu Recht abgelehnt habe und lediglich in diesem Zusammenhang hat es sich auch auf das erwähnte Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Weber aus dem Rentenverfahren L 3 U 951/99 bezogen. Da bereits die Hauptbegründung des LSG das Urteil trägt, ist nicht erkennbar, dass und in welcher Weise sich der allein die Hilfsbegründung betreffende Verfahrensmangel auf das Ergebnis des Prozesses ausgewirkt haben könnte.
Soweit der Kläger eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG) geltend macht und dies damit begründet, dass er mangels rechtzeitiger Entscheidung über sein Prozesskostenhilfegesuch aus Kostengründen nicht an der mündlichen Verhandlung des Berufungsgerichts habe teilnehmen und auch keine Vertretung durch seine Anwältin habe organisieren können, ist die Beschwerde zulässig, im Ergebnis aber unbegründet.
Die Vorgehensweise des LSG, über den am Beginn des Berufungsverfahrens gestellten Antrag auf Prozesskostenhilfe erst nach zweieinhalbjähriger Prozessdauer zusammen mit dem Urteil in der Hauptsache zu entscheiden und die Ablehnung des Antrags mit dem aus dem Urteil ersichtlichen Fehlen einer hinreichenden Erfolgsaussicht der Berufung zu begründen, wird vom Kläger zu Recht als verfahrensfehlerhaft beanstandet. Sowohl durch das Hinausschieben der Entscheidung bis zum Abschluss des Verfahrens als auch durch die faktische Ersetzung des Tatbestandsmerkmals "hinreichende Aussicht auf Erfolg" in § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO) durch den Maßstab des tatsächlichen Erfolgs der Prozessführung in der Hauptsache wird der Zweck der Prozesskostenhilfe, auch Unbemittelten den Zugang zum Rechtsschutz zu ermöglichen, verfehlt (siehe dazu im Einzelnen: BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 26. Juni 2003 - 1 BvR 1152/02 - SozR 4-1500 § 73a Nr 1) .
Im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde geht es indessen nicht um die Rechtmäßigkeit des Beschlusses über die Ablehnung der Prozesskostenhilfe, sondern darum, ob dem Kläger durch rechtswidrige Vorenthaltung der beantragten Prozesskostenhilfe eine sachgerechte Prozessführung und insbesondere die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung des Berufungsgerichts am 11. April 2006 verwehrt und dadurch sein in Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes verfassungsrechtlich garantierter Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden ist. Dazu muss rückschauend beurteilt werden, ob dem Kläger bei zeitgerechter Entscheidung über seinen Antrag Prozesskostenhilfe zugestanden hätte.
Nach der in Rechtsprechung und Literatur ganz herrschenden Meinung hat ein Rechtsschutzbegehren dann im Sinne des § 114 ZPO hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhängt oder wenn der entscheidungserhebliche Sachverhalt unübersichtlich ist oder weiterer Klärung bedarf und das Gericht im Zeitpunkt der Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag den Rechtsstandpunkt des Klägers aufgrund der Sachverhaltsschilderung und der vorliegenden Unterlagen für zutreffend oder zumindest für vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist. Umgekehrt kann die Erfolgsaussicht verneint werden, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist (vgl BVerfGE 81, 347, 356 ff; Hartmann in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 66. Aufl 2008, § 114 ZPO RdNr 80 ff; Keller/Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 73a RdNr 7 bis 7b, jeweils mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen) .
Nach diesen Maßstäben war im konkreten Fall bereits bei Einlegung der Berufung im Dezember 2003 eine hinreichende Erfolgsaussicht des Rechtsmittels nicht gegeben. Medizinische Leistungen zur Heilbehandlung oder zur Rehabilitation sollen einen aktuell bestehenden Behandlungsbedarf befriedigen. Ihre Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit sowie Art und Umfang der Maßnahmen richten sich nach den gesundheitlichen Verhältnissen, die den Leistungsantrag ausgelöst haben und vom Versicherungsträger seiner Entscheidung zugrunde gelegt worden sind. Allein die Frage, ob diese konkreten gesundheitlichen Verhältnisse den erhobenen Anspruch rechtfertigen, und nicht ein abstrakter, vom Ausgangssachverhalt losgelöster Anspruch auf medizinische Rehabilitations- oder Heilbehandlungsmaßnahmen bildet auch den Gegenstand der anschließenden Anfechtungs- und Leistungsklage.
Im Fall des Klägers hatte sich der Gesundheitszustand, auf den sich das Leistungsbegehren bezog, bereits zu Beginn des Klageverfahrens, im November 2001, nachhaltig dadurch geändert, dass eine erneute Operation wegen der Unfallfolgen durchgeführt worden war. Dadurch war die Grundlage für die ursprünglich streitgegenständlichen Rehabilitations- und Heilbehandlungsmaßnahmen entfallen. Ob in der Folge aufgrund neuer oder fortdauernder gesundheitlicher Beeinträchtigungen gleiche oder ähnliche Maßnahmen medizinisch angezeigt waren, war neu zu prüfen und nicht mehr Gegenstand des anhängigen Verfahrens. Der Kläger hatte auch kein berechtigtes Interesse im Sinne des § 131 Abs 1 Satz 3 SGG an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des durch die Änderung der Verhältnisse erledigten Verwaltungsakts, denn es gab keinen Anhaltspunkt dafür, dass die auf den früheren Gesundheitszustand bezogene Entscheidung zukünftig noch in irgendeiner Form Bedeutung würde erlangen können.
Die zu diesem Ergebnis führenden rechtlichen Überlegungen waren bereits Gegenstand früherer Entscheidungen des BSG (siehe etwa Urteil vom 25. März 2003 - B 1 KR 33/01 R - SozR 4-1500 § 54 Nr 1; Urteil vom 16. November 1999 - B 1 KR 9/97 R - BSGE 85, 132, 133 f = SozR 3-2500 § 27 Nr 12 S 59 ff; vgl auch Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 54 RdNr 34a) , so dass keine unklare Rechtslage bestand, an die sich eine hinreichende Erfolgsaussicht der Berufung hätte knüpfen können.
Stand dem Kläger nach alledem keine Prozesskostenhilfe zu, so kommt eine daraus abgeleitete Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht in Betracht.
Der Beschwerde konnte danach keinen Erfolg haben.
Die Entscheidung über die Kosten ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1917249 |
AnwBl 2008, 187 |
HzA aktuell 2008, 46 |