Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache bzw. wegen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
Orientierungssatz
1. Wird mit einer Nichtzulassungsbeschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache die Verfassungswidrigkeit einer geltenden Regelung behauptet, so muss der Beschwerdeführer darlegen, worin bei angeblicher Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG die für eine Gleich- bzw. Ungleichbehandlung sprechenden wesentlichen Sachverhaltsmerkmale bestehen sollen.
2. Dabei muss er sich zur Begründung der behaupteten Verfassungswidrigkeit hinreichend mit dem Inhalt des Gleichbehandlungsgrundsatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG und seiner Ausprägung durch das BVerfG auseinandersetzen.
3. Rügt der Beschwerdeführer, er sei mit der angegriffenen Entscheidung überrascht worden, so kann von einer Überraschungsentscheidung, und damit von einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 103 GG nur dann ausgegangen werden, wenn sich das Gericht ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte.
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2, § 160a; SGB 4 § 18; SGB 5 § 255; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 103
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Beschluss vom 28.10.2015; Aktenzeichen L 3 R 216/15) |
SG Münster (Aktenzeichen S 4 R 70/13) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. Oktober 2015 wird als unzulässig verworfen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
In dem der Nichtzulassungsbeschwerde zugrunde liegenden Rechtsstreit wendet sich die Klägerin gegen den (auch rückwirkenden) Einbehalt von Beiträgen zur Krankenversicherung der Rentner und zur sozialen Pflegeversicherung aus ihrer Regelaltersrente. Sie macht insbesondere geltend, dass wegen der geringen Rentenhöhe von nicht mehr als einem Siebtel der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 SGB IV in verfassungskonformer Auslegung des § 10 Abs 1 S 1 Nr 5 SGB V ein Anspruch auf Familienversicherung bestehe.
II
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in der angefochtenen Entscheidung des LSG ist als unzulässig zu verwerfen (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 SGG). Die Klägerin hat entgegen § 160a Abs 2 S 3 SGG die geltend gemachten Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG), der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) und des Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nicht hinreichend dargelegt oder bezeichnet.
1. Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine abstrakt-generelle Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - allgemeine Bedeutung hat und aus Gründen der Rechtseinheit oder der Rechtsfortbildung einer Klärung durch das Revisionsgericht bedarf (Klärungsbedürftigkeit) und fähig (Klärungsfähigkeit) ist. Mit der Beschwerdebegründung ist daher zunächst aufzuzeigen, welche rechtliche Frage sich zu einer bestimmten Norm des Bundesrechts iS des § 162 SGG stellt. Sodann ist anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und des Schrifttums darzutun, weshalb deren Klärung erforderlich und im angestrebten Revisionsverfahren zu erwarten ist. Schließlich ist aufzuzeigen, dass der angestrebten Entscheidung eine über den Einzelfall hinausgehende Breitenwirkung zukommt (BSG vom 17.4.2012 - B 13 R 347/11 B - SozR 4-2600 § 72 Nr 5 RdNr 17 mwN).
Es kann dahingestellt bleiben, ob die Klägerin bereits allein mit der geltend gemachten Verfassungswidrigkeit eine Rechtsfrage zur Vereinbarkeit von Bundesrecht mit höherrangigem Recht hinreichend formuliert hat. Auch kann offenbleiben, ob die erforderliche Breitenwirkung zureichend aufgezeigt worden ist. Jedenfalls ist die notwendige Klärungsbedürftigkeit nicht hinreichend dargetan. Wird in der Beschwerde eine Verletzung des Gleichheitssatzes nach Art 3 Abs 1 GG geltend gemacht, muss die Beschwerdebegründung unter Einbeziehung der einschlägigen Literatur und Rechtsprechung - insbesondere des BVerfG, aber auch des BSG - im Einzelnen aufzeigen, woraus sich im konkreten Fall die Verfassungswidrigkeit ergeben soll (BSG vom 22.8.1975 - 11 BA 8/75 - BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11 S 14; ferner zB BSG vom 8.12.2008 - B 12 R 38/07 B - Juris RdNr 7 mwN). Dazu müssen der Bedeutungsgehalt der in Frage stehenden einfachgesetzlichen Normen aufgezeigt, die Sachgründe ihrer jeweiligen Ausgestaltung erörtert und die Verfassungsverletzung dargelegt werden. Die Beschwerdebegründung darf sich im Falle einer aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Frage nicht darauf beschränken, die Verfassungswidrigkeit zu behaupten und die als verletzt angesehenen Normen des Grundgesetzes zu benennen. Sie muss vielmehr darlegen, worin die für eine Gleich- bzw Ungleichbehandlung sprechenden wesentlichen Sachverhaltsmerkmale bestehen sollen (vgl BVerfG vom 8.6.1982 - 2 BvR 1037/81 - SozR 1500 § 160a Nr 45 S 62). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht.
Die Klägerin führt zwar zur Begründung der behaupteten Verfassungswidrigkeit Entscheidungen des BVerfG an, setzt sich aber nicht hinreichend mit dem Inhalt des Gleichbehandlungsgrundsatzes nach Art 3 Abs 1 GG und seiner Ausprägung durch das BVerfG auseinander. Soweit die Klägerin der von ihr repräsentierten Gruppe der Rentenbezieher die Gruppe der Empfänger sonstiger Einkünfte gegenüberstellt, wird bereits nicht dargelegt, dass die genannten Vergleichsgruppen im Hinblick auf ihre Heterogenität (überhaupt) zu einem - verfassungsrechtlich relevanten - Vergleich anstehen können. Darüber hinaus lässt die Beschwerdebegründung offen, inwieweit es die eine beitragsfreie Familienversicherung legitimierende soziale Schutzbedürftigkeit vor dem Hintergrund, dass der Gesetzgeber grundsätzlich berechtigt ist, generalisierende, typisierende und pauschalierende Regeln zu verwenden (BVerfG vom 18.7.2005 - 2 BvF 2/01 - BVerfGE 113, 167, 236 = SozR 4-2500 § 266 Nr 8 RdNr 136; stRspr), gebietet, auch Bezieher geringerer Renten der Familienversicherung zuzuweisen. Insoweit genügt allein der Hinweis darauf, dass die Rente ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 SGB IV nicht übersteigt, nicht.
Zudem ist die Klärungsfähigkeit der Vereinbarkeit der Versicherungs- und Beitragspflicht mit höherrangigem Recht nicht dargetan. Zu Ausführungen hierzu hat insbesondere deshalb Anlass bestanden, weil der Einbehalt von (auch rückständigen) Beiträgen nach § 255 Abs 1 und 2 SGB V durch den Träger der Rentenversicherung das Bestehen von Versicherungspflicht voraussetzt, allerdings deren Feststellung nach der angegriffenen Entscheidung des LSG allein dem Träger der gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung obliegt.
2. Der Zulassungsgrund der Divergenz setzt voraus, dass der angefochtene Beschluss des LSG von einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmSOGB) oder des BVerfG abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Eine solche Abweichung ist nur dann hinreichend bezeichnet, wenn aufgezeigt wird, mit welcher genau bestimmten entscheidungserheblichen rechtlichen Aussage zum Bundesrecht die angegriffene Entscheidung des LSG von welcher ebenfalls genau bezeichneten rechtlichen Aussage des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG abweicht. Insoweit genügt es nicht darauf hinzuweisen, dass das LSG seiner Entscheidung nicht die höchstrichterliche Rechtsprechung zugrunde gelegt hätte. Nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung der Revision wegen Divergenz. Sie liegt daher nicht schon dann vor, wenn das angefochtene Urteil nicht den Kriterien entsprechen sollte, die das BSG, der GmSOGB oder das BVerfG entwickelt hat, sondern erst dann, wenn das LSG diesen Kriterien auch widersprochen, also andere rechtliche Maßstäbe bei seiner Entscheidung herangezogen hat (vgl BSG vom 12.5.2005 - B 3 P 13/04 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 6 RdNr 5 und vom 16.7.2004 - B 2 U 41/04 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 4 RdNr 6, jeweils mwN).
Mit der Beschwerde ist indes nicht dargelegt worden, dass das LSG die Rechtsprechung des BSG nicht nur nicht beachtet oder unzutreffend angewandt, sondern auch in Frage gestellt hätte. Die geltend gemachte Divergenz ist schon deshalb nicht hinreichend bezeichnet, weil die als (vermeintliche) Abweichung zitierten Entscheidungsgründe des LSG ebenfalls auf die Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 1.7.2010 - B 13 R 67/09 R - SozR 4-2400 § 24 Nr 5 RdNr 31 und 33, jeweils mwN) zurückgehen.
3. Ferner ist die Rüge der Klägerin, sie sei mit der angegriffenen Entscheidung überrascht worden, nicht hinreichend bezeichnet. Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 GG, §§ 62, 128 Abs 2 SGG) soll zwar verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten. Das Prozessgericht ist aber grundsätzlich gerade nicht verpflichtet, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gesichtspunkte vorher mit den Beteiligten zu erörtern (BSG vom 21.6.2000 - B 5 RJ 24/00 B - SozR 3-1500 § 112 Nr 2 S 3 mwN). Von einer Überraschungsentscheidung kann nur ausgegangen werden, wenn sich das Gericht ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (stRspr, vgl zB BVerfG vom 5.4.2012 - 2 BvR 2126/11 - NJW 2012, 2262 RdNr 18 mwN). Die Rüge des Verfahrensmangels einer Überraschungsentscheidung ist deshalb nur dann schlüssig bezeichnet, wenn im Einzelnen vorgetragen wird, aus welchen Gründen auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter aufgrund des bisherigen Prozessverlaufs nicht damit rechnen musste, dass das Gericht seine Entscheidung auf einen bestimmten Gesichtspunkt stützt. Dass nicht nur die Klägerin, sondern weshalb auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nicht mit der Begründung hinsichtlich der Versicherungspflicht habe rechnen können, obwohl diese Versicherungspflicht Voraussetzung für den Beitragseinbehalt ist, lässt sich der Beschwerdebegründung aber nicht entnehmen. Inwieweit die Ausführungen des LSG zur Versicherungspflicht überhaupt tragend für die angegriffene Entscheidung waren, kann daher offenbleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI10448730 |