Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. sozialgerichtliches Verfahren. Verfahrensmangel. Vertretung des beklagten Landes durch eine Richterin des entscheidenden Gerichts. Richterablehnung. Ablehnungsgesuch bis zur Beendigung der Instanz. Bestimmung des Rechtsschutzziels bei anwaltlichem Klageantrag. grundsätzliche Bedeutung. ausreichender nationaler Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren. Nichtberücksichtigung des Vorverfahrens in § 198 Abs 6 Nr 1 GVG. Darlegungsanforderungen
Orientierungssatz
1. Der Senat kann offenlassen, ob der Verzicht des LSG, die Vertretung des beklagten Landes durch eine Richterin des LSG zurückzuweisen, einen Verfahrensmangel nach § 73 Abs 5 iVm Abs 3 SGG begründet. Allein mit dem Vortrag, das LSG habe die Argumentation der Beklagtenvertreterin wortwörtlich übernommen, wird noch nicht dargelegt, dass die angefochtene Entscheidung auf der behaupteten Verletzung des § 73 Abs 5 SGG beruhen könnte.
2. Ein auf mögliche Befangenheit gestütztes Ablehnungsgesuch muss rechtzeitig bis zur Beendigung der jeweiligen Instanz geltend gemacht werden; wenn der betroffene Richter seine richterliche Tätigkeit im konkreten Fall mit einer Sachentscheidung beendet hat, ist eine diesbezügliche Rüge prozessual überholt (vgl BSG vom 9.2.2005 - B 10 KG 9/04 B).
3. Bei einem rechtskundig vertretenen Kläger kann das LSG grundsätzlich davon ausgehen, dass das Rechtsschutzziel durch den ausdrücklich gestellten und im Rahmen des sozialgerichtlichen Verfahrens nicht geänderten Klageantrag zutreffend angegeben worden ist.
4. Zu den Anforderungen an die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Frage, ob die Bundesrepublik Deutschland ausreichenden nationalen Rechtsschutz wegen überlanger Verfahrensdauer iS der Europäischen Menschenrechtskonvention (juris: MRK) geschaffen hat (hier im Hinblick auf die fehlende Berücksichtigung des Vorverfahrens in § 198 Abs 6 Nr 1 GVG).
Normenkette
SGG § 160a Abs. 2 S. 3, § 160 Abs. 2 Nrn. 1, 3 Hs. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3 Hs. 2, § 73 Abs. 3, 5, §§ 123, 128, 162, 202; ZPO § 41 Nr. 7, § 547 Nr. 3; GVG § 21e Abs. 9, § 198 Abs. 1 S. 1, Abs. 6 Nr. 1; MRK Art. 6; MRK Art. 13
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 16. August 2013 wird als unzulässig verworfen.
Der Kläger trägt auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird auf 5000 Euro festgesetzt.
Gründe
I. Mit Urteil vom 16.8.2013 hat das Schleswig-Holsteinische LSG einen Anspruch des Klägers auf Zahlung einer Entschädigung wegen überlanger Dauer eines sozialgerichtlichen Verfahrens von April 2005 bis Mai 2010 verneint; an diesem Verfahren (Klage des früheren Arbeitgebers des Klägers gegen eine Beitragsnachforderung des Rentenversicherungsträgers) war der Kläger zeitweise als Beigeladener beteiligt, da es in diesem Rechtsstreit auch um Beiträge für eine für sozialversicherungspflichtig gehaltene Beschäftigung ging.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in der Entscheidung des LSG vom 16.8.2013 hat der Kläger Beschwerde zum BSG eingelegt. In der Beschwerdebegründung werden sinngemäß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache sowie Verfahrensfehler des LSG geltend gemacht.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil kein Zulassungsgrund ordnungsgemäß dargetan worden ist (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG).
Die Beschwerde hat keine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt. Eine solche grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (so genannte Breitenwirkung) darlegen (zum Ganzen vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70 mwN; Fichte in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl 2014, § 160a RdNr 42).
Diesen Anforderungen wird die vorliegende Beschwerdebegründung nicht gerecht. Der Kläger hat nicht hinreichend substantiiert dargelegt, warum der von ihm aufgeworfenen Frage, ob die Bundesrepublik Deutschland ausreichenden nationalen Rechtsschutz wegen überlanger Verfahrensdauer im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) geschaffen habe, grundsätzliche Bedeutung iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG zukommen sollte. Der Kläger verlangt, jedenfalls bei Verfahren, in denen bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGG) eine Individualbeschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) anhängig gemacht worden ist, auch die Dauer des vorangegangenen Verwaltungsverfahrens zu berücksichtigen. Insoweit hat er es aber versäumt, sich ausreichend mit der Rechtsprechung des EGMR auseinanderzusetzen. Der Kläger räumt selber ein, dass der EGMR ihn nunmehr selber im Verfahren über seine im Jahr 2010 dort erhobene Beschwerde auf den inzwischen in Deutschland geschaffenen Rechtsbehelf gegen überlange Verfahrensdauer durch das ÜGG verwiesen hat. Offenbar sieht der EGMR diesen Rechtsbehelf jedenfalls derzeit als ausreichend an, um die Rechte aus der EMRK zunächst auf nationaler Ebene zu gewährleisten. Aus diesem Grund hat der EGMR auch eine weitere Individualbeschwerde aus Deutschland, die eine überlange Dauer des Verwaltungsverfahrens und das Fehlen eines diesbezüglich wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelfs als Verstoß gegen Art 6 und Art 13 EMRK gerügt hatte, unter Hinweis auf das ÜGG förmlich zurückgewiesen, weil er den innerstaatlichen Rechtsweg als nicht erschöpft angesehen hat. Laut dieser Entscheidung ist es angemessen und gerechtfertigt, auch von den Beschwerdeführern, die ihre Beschwerden vor Inkrafttreten des Gesetzes erhoben hatten, zu verlangen, dass sie den neuen innerstaatlichen Rechtsbehelf in Anspruch nehmen (vgl EGMR Entscheidung vom 22.1.2013 - 41394/11 - Juris mwN). Welchen grundsätzlichen Klärungsbedarf hinsichtlich des ÜGG sein Fall darüber hinaus noch aufzeigen sollte, hat der Kläger nicht dargelegt. Ohnehin, und darauf geht seine Beschwerde ebenfalls mit keinem Wort ein, handhabt der EGMR bei seinen eigenen Entscheidungen die Berücksichtigung der Dauer des Verwaltungsverfahrens unterschiedlich (vgl die Nachweise bei Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl 2011, Artikel 6 RdNr 194). Daher hätte es jedenfalls im Einzelnen der Darlegung bedurft, warum die EMRK die Berücksichtigung des Verwaltungsverfahrens bei der Bestimmung der Dauer des Gerichtsverfahrens trotz der nicht einheitlichen Rechtsprechung des EGMR in jedem Fall zwingend erfordern sollte.
Darüber hinaus fehlt es auch an der erforderlichen Darlegung der Entscheidungserheblichkeit der vom Kläger aufgeworfenen Frage. Laut seinem verfahrenseinleitenden Schriftsatz vom 25.1.2012 hat er selber das Verfahren beim LSG von vornherein auf die Gewährung von Entschädigung wegen überlanger Dauer des bei den Sozialgerichten geführten Gerichtsverfahrens beschränkt und ausdrücklich betont, das vorangegangene Verwaltungsverfahren sei nicht Gegenstand des Gerichtsverfahrens in Deutschland.
Ebenso wenig hat der Kläger einen Verfahrensmangel hinreichend dargetan. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, es liege ein Verfahrensmangel vor, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 SGG), so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) zunächst die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung der angefochtenen Entscheidung besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel dabei nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
Diese Darlegungserfordernisse erfüllt der Kläger nicht. Seinen Vorwurf, die Berufsrichter des erkennenden LSG-Senats seien befangen gewesen, hat er nicht hinreichend substantiiert. Nach §§ 162, 202 SGG iVm § 547 Nr 3 ZPO stellt die Mitwirkung eines erfolgreich wegen Befangenheit abgelehnten Richters einen absoluten Revisionsgrund dar (vgl BGH, NJW 2001, 1502; Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 162 RdNr 10b mwN). Auch die willkürliche Ablehnung eines Befangenheitsgesuchs kann nach § 202 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO einen absoluten Revisionsgrund begründen (BSG SozR 4-1100 Art 101 Nr 3). Ein auf mögliche Befangenheit gestütztes Ablehnungsgesuch muss allerdings rechtzeitig bis zur Beendigung der jeweiligen Instanz geltend gemacht werden; wenn der betroffene Richter seine richterliche Tätigkeit im konkreten Fall mit einer Sachentscheidung beendet hat, ist eine diesbezügliche Rüge prozessual überholt (BSG Beschluss vom 9.2.2005 - B 10 KG 9/04 B - Juris mwN).
Insoweit behauptet der Kläger aber selber nicht, rechtzeitig vor Erlass der angefochtenen Entscheidung ein Ablehnungsgesuch gestellt zu haben. Zwar trägt er vor, er habe erst nach Erlass des angefochtenen Urteils erfahren, dass die Vertreterin des Beklagten zusammen mit erkennenden Richtern des Senats einen weiteren Senat des LSG bilde, was nach seiner Ansicht einen Befangenheitsgrund darstelle. Indes legt er nicht substantiiert dar, warum er diese Tatsache - zumal als Rechtsanwalt - nicht schon vorher dem Original des Geschäftsverteilungsplans des LSG entnehmen konnte. Dieses war nach § 21e Abs 9 GVG im Gericht zur Einsichtnahme aufzulegen und hatte nach § 21e Abs 1 GVG die personelle Besetzung der Spruchkörper zu Beginn des Geschäftsjahres festzulegen. Es kommt nicht darauf an, ob - so die Behauptung des Klägers - daneben veröffentlichte Fassungen des Geschäftsverteilungsplans ohne Nennung der zuständigen Richter existierten. Denn einer Veröffentlichung des Geschäftsverteilungsplans bedarf es nach § 21e Abs 9 GVG überhaupt nicht und daher auch nicht in einer bestimmten Form.
Für die in diesem Zusammenhang ebenfalls geltend gemachte Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren ist ebenfalls nichts ersichtlich. Der aus Art 2 Abs 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Anspruch auf ein faires Verfahren ist nur verletzt, wenn grundlegende Rechtsschutzstandards, wie das Gebot der Waffengleichheit zwischen den Beteiligten, das Verbot von widersprüchlichem Verhalten oder von Überraschungsentscheidungen nicht gewahrt werden (BSG SozR 4-1500 § 118 Nr 3 mwN). Zu diesen Voraussetzungen hat die Beschwerde nichts von Belang vorgetragen.
Soweit der Kläger darüber hinaus die zeitweise Vertretung des beklagten Landes durch eine Richterin des LSG rügt, kann der Senat offenlassen, ob der Verzicht des LSG auf Zurückweisung dieser Bevollmächtigten einen Verfahrensmangel nach § 73 Abs 5 iVm Abs 3 SGG begründet. Die Beschwerde hat jedenfalls nicht dargetan, warum die angefochtene Entscheidung auf der behaupteten Verletzung des § 73 Abs 5 SGG beruhen könnte. Allein der Vortrag, das LSG habe die Argumentation der Beklagtenvertreterin wortwörtlich übernommen, ist ungeeignet, ein solches Beruhen darzulegen, solange die Beschwerde nicht die entsprechenden Ausführungen des Urteils in der Sache mit zulässigen Rügen angreift.
Mit seiner Rüge, das LSG habe sein Entschädigungsbegehren wegen der verzögerten Entscheidungen über seine Begehren auf Kostenerstattung anlässlich der Beteiligung als Beigeladener an den Ausgangsverfahren vor dem SG und dem LSG unterschlagen, wirft er dem LSG einen Verstoß gegen die Vorschrift des § 123 SGG vor. Danach entscheidet das Gericht über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Bei einem von einem Rechtsanwalt oder einem anderen qualifizierten Prozessbevollmächtigten gestellten Klageantrag ist allerdings in der Regel anzunehmen, dass dieser das Gewollte richtig wiedergibt (vgl Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 123 RdNr 3 mwN).
Den Streitgegenstand seiner Entscheidung hat das LSG den verfahrenseinleitenden Schriftsätzen des Klägers vom 16. und 25.1.2012 und den darin enthaltenen Klageanträgen entnommen. Die Beschwerde legt nicht stichhaltig dar, warum das LSG sich hätte veranlasst sehen sollen, an dieser eindeutigen Bestimmung seines Rechtsschutzziels durch den Kläger zu zweifeln. Das LSG war insbesondere nicht verpflichtet, die nachfolgenden umfangreichen und teilweise unübersichtlichen Einlassungen des Klägers daraufhin durchzusehen, ob er sein anfänglich formuliertes Klageziel um die Behandlung seiner Anträge auf Kostenerstattung oder anders erweitern wollte, ohne als Rechtsanwalt klar erkennbar einen geänderten Klageantrag zu stellen.
Soweit der Kläger eine weitere Verletzung von § 123 SGG mit dem Vorwurf geltend macht, das LSG habe zu Unrecht nicht über seinen Antrag auf Entschädigung wegen der Dauer des beim LSG geführten Entschädigungsverfahrens selber entschieden, so legt er nicht dar, warum der erkennende Senat des LSG für diesen neuen Streitgegenstand, der seine eigene Verfahrensführung betrifft, trotz § 41 Nr 7 ZPO überhaupt zuständig sein und sich deshalb zu einer Entscheidung im Rahmen des laufenden Klageverfahrens hätte gehalten sehen können. Ohnehin hat der Kläger seinen entsprechenden Schriftsatz lediglich mit Rüge überschrieben, also wiederum nicht unmissverständlich einen geänderten Klageantrag für das laufende Verfahren formuliert, wie es das LSG von ihm als Rechtsanwalt erwarten durfte.
Mit seinem Vorwurf, das LSG sei von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen und habe seine Äußerungen falsch interpretiert, wendet sich der Kläger gegen die Beweiswürdigung des Gerichts. Dabei übersieht er aber, dass die Nichtzulassungsbeschwerde nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG von vornherein nicht auf eine Verletzung des § 128 SGG gestützt werden kann.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 197a Abs 1 S 1 SGG iVm § 154 Abs 2 VwGO.
Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 197a Abs 1 S 1 SGG iVm § 47 Abs 2 und 3, § 52 Abs 2, § 63 Abs 2 S 1 GKG.
Fundstellen