Entscheidungsstichwort (Thema)

sozialgerichtliches Verfahren. Aussetzung der Vollstreckung. einstweilige Anordnung. Entscheidungskompetenz. Vorsitzender. Übertragung. Spruchkörper. gesetzlicher Richter. Ermessen

 

Orientierungssatz

1. Zur Frage, ob bzw wann der Vorsitzende seine Entscheidungskompetenz iS von § 199 Abs 2 S 1 SGG auf den Spruchkörper übertragen kann/muss.

2. Ein Anspruch auf Aussetzung der Zwangsvollstreckung entgegen der gesetzlichen Regel der sofortigen Vollziehbarkeit kommt dann nicht in Betracht, wenn der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht hat, dass ihm - über den Nachteil hinaus, der mit jeder Zwangsvollstreckung als solcher verbunden ist - ein im Nachhinein nicht mehr zu ersetzender Schaden entstehen würde.

 

Normenkette

SGG § 199 Abs. 2 S. 1; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2; ZPO § 719 Abs. 2

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Urteil vom 20.06.2001; Aktenzeichen L 15 KR 92/00)

SG Berlin (Urteil vom 18.09.2000; Aktenzeichen S 81 KR 992/99)

 

Gründe

1. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit dem durch Einlegung der Revision angefochtenen Urteil vom 20. Juli 2001 die Berufung der beklagten Krankenkasse gegen ein Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 18. September 2000 zurückgewiesen, mit dem diese zur Zahlung von restlichen 4.624,55 DM nebst Zinsen für die Krankenhausbehandlung ihres Versicherten W. R. verurteilt worden ist. Die Beklagte hatte sich gegenüber dem klagenden Krankenhausträger, einer Universität, geweigert, die Kosten der Behandlung über die von ihr abgegebene befristete Kostenübernahmeerklärung hinaus zu begleichen, weil die Notwendigkeit der weiteren Behandlung nicht zu erkennen und die Klägerin statistisch durch überlange Verweildauern aufgefallen sei. In ähnlicher Weise hat sich die Beklagte in zahlreichen anderen Fällen verhalten, die teilweise bereits in der Revisionsinstanz, ganz überwiegend aber noch in den Tatsacheninstanzen anhängig sind. Das LSG hat die Auffassung vertreten, die Beklagte könne die Notwendigkeit der Behandlung im Einzelfall nicht durch Verweis auf die Statistik bestreiten. Bei Zweifeln an der Notwendigkeit der Behandlung sei das vertraglich vereinbarte Überprüfungsverfahren unter Beteiligung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) durchzuführen. Weil sich die Beklagte nicht daran gehalten habe, sei sie zur Zahlung verpflichtet, ohne daß eine gerichtliche Beweisaufnahme über die Frage der Behandlungsnotwendigkeit erforderlich sei.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht die Beklagte geltend, sie sei im Hinblick auf die auffällig hohen Verweildauern bei der Klägerin nach den vertraglichen Vereinbarungen zu einer Befristung der Kostenübernahmeerklärung berechtigt gewesen. Ihrer Aufforderung, die Notwendigkeit der weiteren Behandlung darzulegen, sei die Klägerin nicht nachgekommen. Deshalb habe keine Grundlage für die Einschaltung des MDK bestanden. Das LSG habe mit dem Unterlassen einer Beweiserhebung gegen seine Amtsermittlungspflicht verstoßen.

Den gleichzeitig gestellten Antrag, die Vollstreckung aus dem Urteil notfalls gegen Sicherheitsleistung einzustellen, begründet die Beklagte damit, daß die Klägerin die Vollstreckung angekündigt habe und sie, die Beklagte, nach einer Pfändung ihren Verpflichtungen als gesetzliche Krankenkasse nicht mehr nachkommen könne. Jedenfalls dürfe die Klägerin die Zwangsvollstreckung nicht ohne eigene Sicherheitsleistung betreiben; § 198 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sei im Leistungserbringerstreit einschränkend auszulegen.

2. Der zulässige Antrag ist unbegründet.

Nach § 199 Abs 2 Satz 1 SGG kann der Vorsitzende des Gerichts, das über ein Rechtsmittel zu entscheiden hat, welches keine aufschiebende Wirkung hat, durch einstweilige Anordnung die Vollstreckung aussetzen. Er kann die Aussetzung und Vollstreckung von einer Sicherheitsleistung abhängig machen (Satz 2). Die von der Beklagten eingelegte Revision hat keine aufschiebende Wirkung, weil die Vollstreckbarkeit von Urteilen der Regel entspricht (§ 199 Abs 1 Nr 1 SGG) und Ausnahmen hier nicht vorliegen (vgl §§ 165 Abs 1, 154 Abs 1 SGG).

Die Entscheidung ergeht durch den Vorsitzenden des für die Revision zuständigen Senats. Darüber, daß der Vorsitzende des Spruchkörpers allein entscheiden kann, besteht angesichts des Gesetzeswortlauts Einigkeit. Umstritten ist lediglich, ob der Vorsitzende seine Kompetenz auf den Spruchkörper übertragen kann (so Beschluß des 1. Senats vom 26. November 1991 - 1 RR 10/91 - USK 91155; BSGE 27, 31, 32 = SozR Nr 3 zu § 199 SGG; aA Beschluß des 4. Senats des BSG vom 6. August 1999 - B 4 RA 25/98 B - SozR 3-1500 § 199 Nr 1; Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl 1998, § 199 RdNr 7a). Das soll insbesondere bei bedeutsamen Sachen und unklarer Rechtslage der Fall sein. Indessen steht einer solchen Übertragung der Entscheidungskompetenz nach dem Ermessen des Vorsitzenden ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage das Verfassungsgebot des gesetzlichen Richters (§ 101 Abs 1 Satz 2 Grundgesetz) entgegen. Die Divergenz ist hier nicht entscheidungserheblich und deshalb nicht weiter auszutragen, weil selbst dann, wenn im vorliegenden Fall von einer bedeutsamen Sache und einer unklaren Rechtslage gesprochen werden könnte, eine Verpflichtung zur Abgabe an den Spruchkörper auch nach der abzulehnenden Meinung nicht besteht.

Nach der früheren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) (Beschlüsse des 1. Senats vom 26. November 1991 aaO und vom 18. September 1987 - 1 RR 2/87 - USK 87159) und der überwiegenden Literaturmeinung (vgl Bley in Gesamtkommentar, Stand März 1995, § 199 Anm 6c; Meyer-Ladewig, aaO, § 199 RdNr 8; Peters/Sautter/Wolff, SGG, § 199 Anm 3 S III/110-93; Zeihe, SGG, Stand: Mai 1997, § 199 RdNr 9; Rohwer-Kahlmann, Aufbau und Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, Stand: Juli 1998, § 199 RdNr 16a und 17) handelt es sich um eine Ermessensentscheidung, bei der eine Interessenabwägung zu erfolgen hat. Dies ist durch eine neuere Entscheidung des BSG allerdings in Frage gestellt worden (vgl Beschluß des 4. Senats vom 6. August 1999 aaO), wonach es sich um eine gesetzesgebundene Entscheidung handele, bei der eine Folgenabwägung nach der entsprechend anzuwendenden Vorschrift des § 719 Abs 2 Zivilprozeßordnung (ZPO) zu erfolgen habe. Es kann allerdings fraglich sein, ob - wie vom 4. Senat entschieden - für die Folgenabwägung § 719 Abs 2 ZPO wegen der Verweisung in § 198 Abs 1 SGG auf das Achte Buch der ZPO uneingeschränkt entsprechend herangezogen werden kann, obwohl nach § 198 Abs 2 SGG die Vorschriften über die vorläufige Vollstreckbarkeit wiederum davon ausgenommen sind und § 719 ZPO noch zu diesen Vorschriften zählt (vgl Thomas/Putzo, ZPO, 23. Aufl 2001, Vorbem zu § 708 RdNr 1). Immerhin beruht aber die dortige Regelungsanordnung beim Vorliegen eines vorläufigen vollstreckbaren Urteils eines Oberlandesgerichts (§ 708 Nr 10 ZPO) auf einer vergleichbaren Ausgangslage. Dem Regelfall der Vollstreckbarkeit ohne Sicherheitsleistung wird dort dadurch Nachdruck verliehen, daß eine Einstellung der Zwangsvollstreckung nur dann erfolgt, wenn der Schuldner einen nicht zu ersetzenden Nachteil erleiden würde und ein überwiegendes Interesse des Gläubigers nicht entgegensteht. Bei der im Rahmen des § 199 Abs 2 SGG zu treffenden Interessen- und Folgenabwägung können diese Kriterien sinngemäß herangezogen werden, ohne daß dies dem gesetzlichen Ausschluß der Anwendung der Vorschriften über die vorläufige Vollstreckbarkeit von zivilrechtlichen Urteilen entgegensteht. Der bestehenden Unsicherheit der Rechtslage hat der Vorsitzende im Rahmen dieser Interessen- und Folgenabwägung Rechnung zu tragen; die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels können dabei nur ausnahmsweise - etwa bei offensichtlichem Fehlen - eine Rolle spielen.

Von einem offensichtlichen Fehlen der Erfolgsaussichten der Revision kann hier nicht ausgegangen werden, weil Fragen zu beantworten sind, die noch nicht höchstrichterlich geklärt sind. Die Aussetzung der Zwangsvollstreckung entgegen der gesetzlichen Regel der sofortigen Vollziehbarkeit kommt aber deshalb nicht in Betracht, weil die Beklagte nicht glaubhaft gemacht hat, daß ihr - über den Nachteil hinaus, der mit jeder Zwangsvollstreckung als solcher verbunden ist - ein im Nachhinein nicht mehr zu ersetzender Schaden entstehen würde.

Soweit die Beklagte in diesem Zusammenhang geltend macht, die Zwangsvollstreckung sei nach § 882a Abs 2 ZPO unzulässig, weil sie sich auf Sachen erstrecke, die für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben unentbehrlich seien, trifft dies bei der Pfändung von Forderungen nicht zu. Das Gesetz geht von der grundsätzlichen Zulässigkeit einer Zwangsvollstreckung gegen juristische Personen des öffentlichen Rechts aus. Wäre die Auffassung der Beklagten zutreffend, liefe dies auf eine faktische Unmöglichkeit einer solchen Vollstreckung hinaus. Folgerichtig wird einhellig die Auffassung vertreten, daß unter "Sachen" iS von § 882a Abs 2 ZPO nicht auch Forderungen zu verstehen sind (BVerfGE 64, 1, 44; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 59. Aufl 2001, § 882a RdNr 10; Münzberg in: Stein/Jonas, ZPO, 20. Aufl 1986, § 882a RdNr 19 mwN).

Die Beklagte hat aber auch nicht glaubhaft gemacht, daß die Pfändung der von ihr unterhaltenen Konten die Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben unmöglich machen oder zumindest gefährden würde. Nicht nachvollziehbar ist insbesondere, daß dadurch jegliche finanzielle Dispositionsmöglichkeiten genommen werden. Die Pfändung einer Forderung bewirkt ein Zahlungsverbot des Drittschuldners nur bis zur Höhe der Vollstreckungsforderung und der Kosten, sofern dies - wie geboten - in der Pfändungsverfügung ausgesprochen ist (Thomas/Putzo, aaO, § 829 RdNr 32). Notfalls ist dies durch Rechtsbehelfe des Schuldners gegen die Pfändungsverfügung geltend zu machen.

Die liquiden Mittel, die der Beklagten durch die Pfändung entzogen werden, sind zwangsläufige Folge der Pfändung und kein darüber hinausgehender Nachteil. Eine Gefahr, daß bei Obsiegen in der Hauptsache ihr vollstreckungsrechtlicher Schadens- oder Rückforderungsanspruch gegen die Klägerin nicht durchsetzbar sein könnte, besteht nicht, weil die Klägerin eine Körperschaft des öffentlichen Rechts ist, für die der Insolvenzfall nicht eintreten kann (§ 12 Insolvenzordnung).

Da mithin ein der Beklagten entstehender, nicht wiedergutzumachender Schaden nicht erkennbar ist, ist auf das Vorhandensein eines überwiegenden Interesses der Klägerin an der Durchführung der Zwangsvollstreckung nicht mehr einzugehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 4 Satz 2 SGG in entsprechender Anwendung.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1175545

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